Livereview: Idles + Support, Kesselhaus Wiesbaden, 12.08.2018

Noiserock gehört nicht zu den Genres, die für ihre Schönheit bekannt sind. Damit spiegelt diese Musikgattung mehr denn je die aktuelle Weltlage wider und beheimatet derzeit einige der besten neuen Bands der vergangenen Jahre. Zu diesen zählen auch Idles aus Bristol. Mit Euternase aus Mannheim macht sich derzeit eine deutsche Band daran, in diesen Dunstkreis vorzustoßen.

Idles-1Kaum eine Person im noch spärlich gefüllten Kesselhaus dürfte vor Konzertbeginn von dem Quartett aus Baden-Württemberg gehört haben. Keine 300 Likes auf Facebook und nur ein Song, der auf Spotify die 1.000-Streams-Marke überschreitet, sind ein Zeichen dessen, wie viel Underground Euternase in die hessische Landeshauptstadt bringen. Diesen vertont die noch junge Gruppe auch absolut in ihrer nervenaufreibenden Musik. Bevor ihr Frontmann die Bühne betritt und die Instrumentalisten in ihren aufgeknöpften, bunten Hemden auf der Bühne stehen, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um nette Indieboys handeln könnte, doch dies ändert sich schlagartig, als ihr Sänger mit seinen schwarzen Lederschuhen, der ebenfalls dunklen Anzugshose, einem schwarz-weiß-karierten Hemd und einem fiesen Gesichtsausdruck das Kollektiv zusammenbringt. Über 40 Minuten lang greifen Euternase aus Songs ihres im Mai erschienenen Debütalbums “L‘amour“ zurück, das mit mal kurzen und mal ausufernden Songs wie dem achteinhalb Minuten langen “Verbraucht & kaputt“ vor allem an Gewalt aus Berlin erinnert und ähnlich geschickt kaputtwirkende Geräuschkulissen aus dem Noise-Metier mit sich wiederholenden Schlagwörtern mischt. Euternase leisten es sich zudem, fünf Minuten zu überziehen und die Ansage des Technikers zu ignorieren. Zu diesem Zeitpunkt steht ihr Frontmann schon nur noch in Socken und Unterhose gekleidet auf der Bühne und liefert damit den perfekten Vorgeschmack auf die wilde Performance, die noch folgen sollte.

Idles-3Idles‘ fantastisches Debüt “Brutalism“ ist erst 17 Monate alt, da steht der noch großartigere – Review folgt – Nachfolger “Joy As An Act Of Resistance“ schon in den Startlöchern. Die am 31. August erscheinende Platte steht mit fünf Songs noch nicht komplett im Mittelpunkt, “Brutalism“ stellt dagegen zehn Songs und die 2015 veröffentlichte EP “Meat“ ist dank “Queens“ und “The Idles Chant“ ebenfalls vertreten. Viel spannender als die Songauswahl ist jedoch die Bühnenperformance der fünfköpfigen Band. Schon während des Openers “Heel/Heal“ spießt der vor Charisma nur so strotzende Frontmann Joe Talbot seine Kollegen fast mit seinem Mikroständer auf. Wenig später stampft dieser so hart auf den Boden auf, dass zahlreiche Bierflaschen den Weg gen Erdreich antreten, nur um im Anschluss in die entgegengesetzte Richtung Speichel abzugeben. Im vor der Show geführten Interview erklärt Talbot, dass er Songs immer aus einer naiven Perspektive schreibt, um einen offenen Dialog zu ermöglichen. Dies kauft man ihm besonders ab, wenn er wie Rumpelstilzchen über die Bretter hüpft.

Idles-2Das inzwischen prall gefüllte Kesselhaus kennt spätestens ab dem vierten Song “Mother“ kein Halten mehr und eskaliert völlig. Sei es durch Stagedives, wilde Moshpits, spontane Gesangsgastauftritte auf der Bühne oder andersartige musikalische Interaktionen: Während “Exeter“ flüchten sich die Gitarristen Mark Bowen und Lee Kiernan ins Publikum, nur um zwei Fans ihre Gitarren umzuhängen und mit diesen auf die Bühne zurückzukehren. Doch damit nicht genug – während des kurze Zeit später folgenden “Well Done“ erklimmen Bowen und Kiernan parallel die Boxentürme ihrer jeweiligen Bühnenseiten und tragen einstudierte Tanzchoreografien vor. Der besondere Humor der Idles kommt an diesem Abend ebenfalls nicht zu kurz: Nachdem das Quintett “Divide & Conquer“ zerlegt hat, folgt eine spontane und mittlerweile einstudierte A-cappella-Performance des Weihnachtsklassikers “All I Want For Christmas Is You“. Die ersten Lebkuchen gibt es ja auch schon in wenigen Wochen in den Supermärkten, passt also. Obwohl Idles viel zu sagen haben, vermeidet die Band lange Ansagen, sondern lässt vielmehr die ausdrucksstarke Musik für sich sprechen. Einen Kommentar zum Thema Brexit kann sich Frontmann Talbot jedoch nicht verkneifen, als er den Song “Great“ ankündigt und diesem dem Thema widmet.

Idles-4Ihr 75-minütiges Set beendet die Band genauso unorthodox wie es sich für solch ein großartiges Konzert gehört. Während des finalen “Rottweiler“ – zugleich auch der letzte Song auf “Joy As An Act Of Resistance“ – verlässt Talbot nach kurzem Winken mit einem knappen ,,Dankeschön“ die Bühne. Seine Bandkollegen hingegen zerlegen das, was noch an Sound übrig ist und hängen dabei auch noch einmal einem Fan die Gitarre über und lassen diesen noch kurz darüber schrammeln, bis nur noch eines zu hören ist: Noise.

© Fotos von Joshua Lehmann