Livereview: The Hirsch Effekt + Support, Schon Schön Mainz, 08.09.2018

Zehn Jahre komplexe Album-Epen. Zehn Jahre Verschwörungstheorien zum Bandnamen und den Songtiteln. Zehn Jahre The Hirsch Effekt. Das Hannoveraner Artcore-Trio feiert sein rundes Jubiläum neben limitierten Vinyl-Editionen aller vier Studioalben und einem Buch von Gitarrist und Sänger Nils Wittrock mit einer ausgiebigen Tour, die die Band über drei Monate quer durch den deutschsprachigen Raum schickt.

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Besonders ist daran, dass bei jedem einzelnen der 18 Shows eine verschiedene Band im Vorprogramm auftritt. Ganz nach dem Motto: Support Your Local Scene. Im Mainzer Kulturclub Schon Schön versorgt das Wiesbadener Djent-Quintett Unprocessed die ungefähr 100 Besucher 40 Minuten lang mit tief gestimmten Gitarren. Ganze drei Gitarristen füllen neben Schlagzeuger Leon Pfeifer und Bassist David Levy die kleine Bühne. Mit Manuel Gardner Fernandes übernimmt einer des Trios auch den Gesang und verleiht den oft stumpfen Songs einen gewissen Wiedererkennungswert. Oft fehlt dieser jedoch, was die Geburtstagskinder im Anschluss wieder wettmachen.

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Bereits vor zehn Monaten gastierten The Hirsch Effekt im Schon Schön, um ihr aktuelles Album “Eskapist“ zu präsentieren. Eine zweite Headliner-Tour rechtfertige ein einziges Album nicht, erklärt die Band vor der Show im Interview, und deshalb liege der Fokus auf der Jubiläumstour gleichmäßig auf allen vier Studioalben – chronologisch. Die erste Viertelstunde steht das Debütalbum “Holon: Hiberno“ im Fokus, vom zweiten Album “Holon: Anamnesis“ gibt es zuerst “Limerent“ auf die Ohren und die anfängliche verhaltene Reaktion des Publikums verwandelt sich in Euphorie und lautstarkes Mitsingen. Das knapp zehnminütige “Ligaphob“ mausert sich zum Live-Epos, wird aber schnell vom Mathcore-Jazz-Erlebnis “Bezoar“ – vom dritten Album “Holon: Agnosie“ – überboten. Im Laufe der 105-minütigen Show überbieten sich The Hirsch Effekt immer wieder selbst mit wahnwitzigen Song-Arrangements, welche die Band leichtfüßig vorträgt. Bassist Ilja Lappin und Wittrock liefern sich ein packendes Duell um die Krone für das anspruchsvollste Riff, während Schlagzeuger Moritz Schmidt auf technisch höchstem Niveau auf sein Set einprügelt.

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Das 14-minütige “Lysios“ entpuppt sich als gigantischer Live-Song, beginnend mit dem Thrash-Metal-Riff von Wittrock. Nie war Mathcore näher an den Anfangstagen von Metallica. Für die Zugabe haben sich The Hirsch Effekt ein besonderes Schmankerl überlegt: Lappin gilt als leidenschaftlicher Cellist und zusammen mit Wittrock an der Akustikgitarre performt er eine akustische Gänsehaut-Version von “Datorie“, dem finalen Song auf “Holon: Anamnesis“. Die Schon-Schön-Betreiber haben schon Recht, dass The Hirsch Effekt ihre Jubiläumsshow nur noch mit Pyrotechnik überbieten könnten. Die ist aber gar nicht nötig, denn die komplexe Musik genießt man eh mit voller Aufmerksamkeit gegenüber den Musikern und nicht zwangsläufig mit wildem Pogen vor der Bühne. Konsequent, dass dieses komplett fehlt. Missen wollen wir The Hirsch Effekt jedoch nicht mehr.

© Fotos von Valentin Krach