Livereview: Trade Wind + Support, Kesselhaus Wiesbaden, 08.05.2019

Können Trade Wind um Stick To Your Guns-Frontmann Jesse Barnett und Stray From The Path-Gitarrist Tom Williams mit ihrem neuen Album Certain Freedoms auch live überzeugen? Wir haben uns diese Frage vor dem Besuch des intimen Konzertes im Wiesbadener Kesselhaus gestellt.

Scott RuthScott Ruth zählt mittlerweile zur musikalischen Familie von Jesse Barnett. Er ist nicht nur Teil von Wish You Were Here – Barnetts Soloprojekt – und hat bei deren Tour vergangenen Winter für das Aufwärmprogramm gesorgt, sondern unterstützt auch Trade Wind auf der aktuellen Tour für rund die Hälfte der Show am Bass oder Keyboard. Vorher darf der Singer/Songwriter jedoch auch eigene Songs performen, die tief in die angeschlagene Magengrube zielen. Die Wartezeit wischen seinen ruhigen und melancholischen Songs überbrückt Ruth mit nicht ganz ernst gemeinten Fragen an das Publikum, die er sogar teilweise beantwortet bekommt. Richtige Wohnzimmerstimmung wie vergangenen Dezember im Wiesbadener Museum entsteht allerdings nicht, sodass man sich erst im finalen Song, bei dem Ruth Unterstützung von Trade Wind-Schlagzeuger Andrew McEnaney und -Bassist Randy LeBoeuf bekommt, nicht mehr nach der Atmosphäre des Museums sehnt.

Modern ColorDiese Sehnsucht erlischt schließlich völlig, als Modern Color aus Kalifornien die Bühne entern und einen unerwartet harten Auftritt aufs Parkett legen. Startet die Musik des Quartetts zunächst im Power Pop, suhlt sich dieser wiederum in brutalem Hardcore – inklusive Lungenentzündung-Geschrei von Schlagzeuger Vince Nguyen – und biegt dann schlussendlich in Shoegaze-Gefilde ab. Folgerichtig beschreiben Modern Color ihre Musik selbst als ,,Ambient Post-Hardcore“. Wäre das frühe Material von Trade Wind nicht im Post-Hardcore angesiedelt, würden Modern Color heute Abend komplett aus dem musikalischen Rahmen fallen. So dürfte der wilde Genre-Mix auf der allerersten Europa-Tour der Band hingegen genug Anklang finden.

Trade Wind-5Jesse Barnett auf deutschen Konzertbühnen wieder zu sehen, ist wie einen alten Freund zu treffen. Man sieht sich länger nicht, verliert sich etwas aus den Augen und dann ist es doch so, als hätte man sich erst gestern wieder getroffen. Nachdem Barnett Ende des vergangenen Jahres mit seiner Hauptband Stick To Your Guns sowie seinem neuen Soloprojekt Wish You Were Here uns hierzulande beehrt hat, sind im Frühling neben Stick To Your Guns auch wieder Trade Wind an der Reihe, schließlich will das starke neue Album Certain Freedoms betourt werden. Jegliche Bedenken ob der Andersartigkeit der neuen Songs im Vergleich zu den älteren werden schon mit dem zweiten Song des Abends, No King But Me, komplett ausgetrieben.

Trade Wind Tom WilliamsDie mal mehr, mal weniger in sich gekehrten neuen Songs ergänzen die alten, deutlich rockigeren Songs perfekt. Die Freiheiten eines Nebenprojektes haben Trade Wind nun vollends auf die Spitze getrieben. Emotional wird es zudem bei den Ansagen von Barnett, welcher die Bedeutung von neuen Songs wie How’s Your Head, welches er für einen emotional verschlossenen Freund geschrieben hat, oder Nashinga, das nach seinem vergangenes Jahr verstorbenen Hund benannt ist, erklärt. Mit der steigenden Zustimmung im Publikum steigt auch die Erkenntnis, dass nicht wenige Konzertbesucher gerade eine schwere Zeit durchmachen, und die Auseinandersetzung mit Songs kathartischer Wirkung ein erster Schritt auf dem Weg der Katharsis ist. Mehr kann Musik fast nicht leisten.

© Fotos von Joshua Lehmann