Foto vom Gefühl: Trümmer im Interview zu ihrem neuen Album „Früher war gestern“

Wohin mit Emotionen, die länger als drei Minuten brauchen, um verdaut zu werden, und selbst dann noch schwer im Magen liegen? Trümmer antworten auf Früher war gestern mit Indierock-Songs, die in den Arm nehmen, auf die Schulter klopfen und den richtigen Leuten vors Schienbein treten.

„Das kann Musik so gut. Musik kann Trost spenden und dir das Gefühl geben, wenn du sie Zuhause hörst, dass du nicht allein bist mit deinen Sorgen“, spricht Gitarrist und Sänger Paul Pötsch einerseits jeder Person aus dem Herzen, die in Zeiten von Liebeskummer versucht dasselbige zusammen zu halten und bringt andererseits auf den Punkt, was ihr drittes Album Früher war gestern ausmacht. Fünf Jahre hat sich das Quartett aus Hamburg und Berlin Zeit gelassen, um dem Nachfolger zu dem Pop- und Disco-Flirt Interzone zu veröffentlichen, welches hingegen eine direkte Reaktion auf das umjubelte und im Punk verwurzelte Debüt Trümmer (2014) war. Warum hat es so lange gedauert? Neben den zahlreichen Nebenaktivitäten der Mitglieder, die vom Produzenten der Leoniden (Gitarrist Helge Hasselberg), Festanstellung als Arzt (Schlagzeuger Maximilian Fenski), Verantwortlicher für das Label Euphorie (Bassist Tammo Kasper) und Musiker in der Band von Ilgen-Nur (Pötsch) reichen, lag es daran, dass die Band bewusst die Jahre verstreichen ließ. Der erste neue Song entsteht im November 2019, mit den Probesessions für das Album starten sie im März 2020. Die Idee von einer vier Songs starken EP wächst durch die Fülle an gutem Material zu dem Gedanken, zwei EPs zu veröffentlichen, bis der Entschluss getroffen wird, ein Album aufzunehmen. Um eine bewusste Entscheidung handelt es sich ebenso bei dem Sound des live aufgenommenen Albums. „Wir haben gemerkt, wir wollen das Baby wieder nach Hause holen. Wir wollten eine straighte Indierockplatte machen“, so Pötsch. „Das hat gutgetan, sich da so einzuschränken. Sonst ist immer die Gefahr da, dass man sich verzettelt. Das war eine klare Maßgabe“. Als Referenzpunkte dienen der Band The New Abnormal, das aktuelle Werk von The Strokes, sowie die Alabama Shakes: „Wir wollten, dass man das Gefühl hat, dass wir direkt vor dir stehen und dir die Platte sozusagen ins Gesicht performen“. Eine Maßgabe, die die elf Songs erfüllen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Es gibt den Rock’n Roll-Charme von Kintsugi, die Ballade Tauben an der Ihme und das psychedelisch angehauchte Schlussstück Wie Spazieren geht. Und dann wäre da noch Aus Prinzip gegen das Prinzip, Dreh- und Angelpunkt der Platte, ein Mutmacher, 4:10 Minuten gegen das Gefühl der Ohnmacht, und laut Pötsch als solcher von Anfang an vorgesehen. „Ich wollte eine Hymne schreiben, die eine Person, die in einer Depression oder einer schweren Phase steckt, versteht und umarmt in dem Gefühl, aber auch versucht sie rauszuziehen“.

Umarmen, rausziehen, nach vorne schauen. Ein Song, der bei persönlichem, aber auch politischen Ohnmachtsgefühl funktioniert. Der auch funktioniert, wenn die Mehrheit einer Generation, der man sich zugehörig fühlt und zugehörig fühlen muss, bei der Bundestagswahl eine Partei wählt, die daran glaubt, dass die Freiheit des Marktes den Klimawandel regelt. Von Ernüchterung spricht Pötsch, der sich ein besseres Ergebnis vom linken Spektrum gewünscht hätte, der aber auch weiß, dass Ernüchterung einen guten Start-, weniger einen guten Endpunkt darstellt. Ernüchterung als Motor für Veränderung. Feststecken in diesem Gefühl ist keine (künstlerische) Option. „Ich finde das immer so unbefriedigend, wenn ich ein Lied höre, was in der Beschreibung der Welt verhaftet, mir aber nicht das Gefühl gibt, dass es besser wird“, erklärt er. Vielmehr fungiere „Musik als utopischer Ort, der nicht immer die Realität sein muss, sondern die Hoffnung auf eine andere Realität ist“. Eine Utopie-Ausnahme gönnen sich Trümmer mit Draußen vor der Tür. Einem Song, mit dem die Band so deutlich wie nie zuvor Stellung bezieht gegen aufkeimenden Nationalstolz, rechte Parteien und alle Idioten, die ernsthaft von einem „Vaterland“ träumen. Waren Trümmers Protestsongs jeher eher von Zeitlosigkeit geprägt als von konkreten politischen Ereignissen, und so konzipiert, dass sie auch in dreißig Jahren noch als verbales Streichholz genutzt werden können, kommt man an Draußen vor der Tür nicht vorbei, ohne an die AFD zu denken: „Aber hast du gesehen, wer da auf dem Marktplatz steht?/ Dort packt jemand die alten Sprüche in ein neues Gewand/ Beschreit die Heimat/ Flüstert heimlich Vaterland/ Und er träumt von neuen Grenzen und einer großen Nation“. Die AFD, wie sie und andere rechte Parteien sich den Begriff Heimat krallen und ihn mit ihren Grund-und-Boden-Fantasien neu besetzen, sei Anlass für den Song gewesen, der die Frage provoziert: Erfordert der politische Zeitgeist andere künstlerische Ausdrucksweisen? „Ich wollte das so direkt sagen, weil die auch so dreist und direkt sind in ihren Plakaten“, stimmt Pötsch zu. Ein anderer Anlass sei der rassistische Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 und die anschließende Rassismus-Debatte gewesen, die in Deutschland mit reichlich Doppelmoral geführt wurde. Draußen vor der Tür erinnert daran, dass Rassismus, Polizeigewalt und rechte Strukturen innerhalb von staatlichen Institutionen auch in Deutschland und der direkten Nachbarschaft keine Fremdworte sind.

Früher war gestern lässt sich thematisch einteilen in die Songs, die eine politische und gesellschaftliche Relevanz besitzen und diejenigen, die von einer Trennung handeln. Behutsam, gefühlvoll, ohne nach Schuld zu suchen kehrt Pötsch sein Innerstes nach außen und benutzt dabei bewusst Bilder, mit denen er keinen Innovationspreis gewinnt. „Ich spiele viel mit Phrasen und mit Texten, die erst einmal ausgelutscht erscheinen und versuche denen ihre ursprüngliche Wirkung zu nehmen“, sagt er, um anschließend zu konkretisieren, dass es darum gehe, nachzuschauen, welches Gefühl sich hinter der Phrase verberge. „Ein Foto von einem Gefühl machen und das möglichst präzise zu beschreiben“, bringt Pötsch seine Mission auf den Punkt. Das gelingt ihm, wenn er in Scherben und Kintsugi dasselbe Bild benutzt, und sich die Einzelteile dadurch klarer zusammensetzen. Das gelingt in Weißt du noch und auch dann, wenn er sich mit den Emotionen beschäftigt, die ihn beim Lesen des Weltklimaberichts ereilen – nachzuhören in Wann wenn nicht. Welche deutschen Künstler*innen inspirieren ihn beim Texte schreiben? Fällt mit Hinblick auf die Songs mit politischer Relevanz unvermeidlich der Name Ton Steine Scherben, bewegen sich die Referenzpunkte bei den Trennungsliedern mit Du erkennst mich nicht wieder von Wir sind Helden, Kintopp von Keimzeit und Narzissen & Kakteen von Element Of Crime außerhalb der Punk-Szene.

Eine Besonderheit, die das Bandgefüge hergibt, ist, dass Gitarrist Helge Hasselberg auf Früher war gestern nicht nur Gitarre spielt, sondern auch für die Produktion verantwortlich ist. Kurze Wege, entspannte Arbeitszeiten, Helges sanfte und einfühlsame Art fallen Pötsch bei den Vorteilen dieses besonderen Umstands ein, der mitverantwortlich dafür ist, dass das Album nach Spielfreude und einer losgelöst agierenden Band klingt. Einen Eindruck, den Pötsch bestätigt, und der ebenso mit dem Abstreifen von (Erwartungs-)Druck zu tun hat: „Wenn man in Verwertungsmechanismen eingebunden ist, überlegt man schon schnell, soll man jetzt was anderes machen, um erfolgreicher zu sein. Das war bei dieser Platte gar nicht die Überlegung. Es ging darum, die Musik zu machen, auf die wir Lust haben“. Die kurzen Wege könnten auch dafür verantwortlich sein, dass man sich bereits im nächsten Jahr auf neue Trümmer-Songs freuen kann, die das Tempo weiter anziehen werden. „Wir haben richtig Lust auf so Rockmusik“, sagt Pötsch und muss lachen, der Dickhosigkeit seiner Worte wegen.

Früher war gestern hätte das Ergebnis der Bundestagswahl nicht gebraucht, um als Album zu gelten, was sich nahtlos in diese Zeit fügt und der Gefühlslage von Menschen eine Stimme gibt, die zwischen Resignation und Veränderungswillen pendeln. Das ist das, was Musik bewirken kann, und was sie so wunderbar macht, dass sie dich in den richtigen Momenten dazu bringt, aufzustehen, selbst wenn du lieber liegen bleiben möchtest. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie vor fünf Wochen, fünf Jahren oder fünf Jahrzehnten geschrieben wurde. Und so muss Pötsch bei der Frage, welchen Song er nach der Wahl gehört hat, erst überlegen, dann in seiner digitalen Musikbibliothek nachschauen, um mit einem Grinsen die Antwort zu geben, welche die zeitlose Kraft von Musik unterstreicht: „Come Together von den Beatles“.