Nach einem unfreiwilligen Winterschlaf melden auch wir uns endlich mit einem Livereview eines richtigen Konzertes ohne geltende Corona-Beschränkungen zurück!
Ob das Aufheben nahezu aller Maßnahmen trotz der anhaltend hohen Inzidenz zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt. Feststellen lässt sich an diesem Sonntagabend jedoch, dass nicht wenige Konzertbesucher*innen weiterhin auf das Tragen von Masken setzen, um zumindest etwas Schutz vor dem Virus zu haben. Der fantastischen Stimmung, ganz egal welche Band gerade auf der Bühne steht, tut das Tragen einer Maske natürlich keinen Abbruch. Vielmehr merkt man nach mehreren Monaten oder in anderen Fällen sogar Jahren ohne Livemusik, wie sehr dieses kollektive Erleben doch gefehlt hat.
Den Anfang machen Kid Kapichi aus dem englischen Hastings. Das Quartett klingt nicht nur aufgrund des starken Akzents von Sänger und Gitarrist Jack Wilson unglaublich britisch, sondern erinnert in den ruhigeren Momenten stark an die Arctic Monkeys. Etwa im reduzierten Party At Number 10, der dem britischen Premierminister Boris Johnson und dessen Lockdownparty gewidmet ist. Nicht nur im Vorfeld von diesem Song thematisiert Wilson den Brexit, der gerade kleineren Bands wie Kid Kapichi in Zukunft das Touren durch Europa erschweren wird. Für den Moment wissen sie jedoch mit einem druckvollen Sound und verspielter Instrumentierung zu begeistern und sorgen mit dem zweiten Song Working Man’s Town für erste Bewegungen im Publikum. Das erinnert auch dank der Kodderschnauze von Wilson an die Post-Punks Shame, während die neue Single New England deutlich elektronischere Akzente setzt. Im abschließendem Violence drängt sich die Gitarre von Ben Beetham dagegen in den Vordergrund, während Teile des Publikums dazu erneut umherspringen. Ein guter Konzert-Opener und ein wunderbarer Wiedereinstieg in das nun wieder regelmäßige Livemusik-Erlebnis.
Black Honey setzen anschließend schon beim Betreten der Bühne ein Statement, indem sie dabei Truth Hurts von Lizzo vom Band laufen lassen. Das lässt sich gut und gerne als feministisches Statement interpretieren, denn mit Sängerin und Gitarristin Izzy Phillips ist immerhin unter allen drei Bands eine Frau im Tour-Line-up dabei. Ihr ebenfalls halbstündiges Set eröffnet die Band aus Brighton mit I Like The Way You Die, Opener des zweiten Albums Written & Directed, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Nach dem zurückgelehnten, aber rockigen Einstieg, geht das anschließende All My Pride deutlich mehr nach vorne. Das abschließende Run For Cover bekommt live zudem leichte Riot-Grrrl-Vibes. Im Zentrum der Performance steht dabei stets Phillips‘ rauchige Stimme sowie der fuzzige Gitarrensound. Black Honey drehen das Abrisslevel im Vergleich zu Kid Kapichi deutlich auf, zeigen sich aber auch als gute Songwriter*innen, die innerhalb eines Songs problemlos von leise zu laut, laut zu leise und wieder zurück changieren können.
Das gilt sowohl auf Platte als auch am heutigen Abend für Nothing But Thieves: nicht nur auf den bisherigen drei Alben, sondern auch während der 85-minütigen Show halten ruhige und rockigere Songs das Gleichgewicht. Den Anfang macht Futureproof, zu dessen eingängigem Gitarrenriff alle Gefühle aus dem Publikum heraussprudeln, die dieses die vergangenen zwei Jahre in sich behalten musste. Live klingt der Sound der Engländer zudem noch druckvoller als auf Platte und so wirkt der mitunter etwas kitschige Real Love Song deutlich emotionaler als auf dem aktuellen Studioalbum Moral Panic. Wer hätte gedacht, dass ein gut gefüllter Schlachthof zu diesem Song zu einer springenden Masse wird? Den ersten Moshpit gibt’s schließlich zum dritten Song I Was Just A Kid, während Sänger Conor Mason im fünften Song Soda erstmals zur Akustikgitarre greift. Den großen Akustiksong gibt es mit einer Stripped-Back-Version von Particles allerdings erst etwas später im Set. Spätestens hier kommt der Gesang von Mason endgültig zur Geltung. Seiner Engelsstimme macht in Sachen stimmlicher Range und Einsatz von Kopfstimme so schnell niemand etwas vor.
Nach einem starken Abriss zu Beginn fahren Nothing But Thieves das Tempo in der Mitte ihres Auftritts etwas nach unten. Zu Graveyard Whistling werden Feuerzeuge und Handylichter gezückt, bevor sich der Song wie das nachfolgende Sorry nach einem verhaltenen Beginn etwas aufschwingt. Anschließend geht das Quintett kurz von der Bühne, um für das längere Intro von Unperson Platz zu machen, der das Energielevel wieder schlagartig nach oben fährt. Zum folgenden Phobia wird die Bühne in grünes pulsierendes Licht getaucht, bevor Is Everybody Going Crazy? nach Particles und dem sich ebenfalls aufbauenden Your Blood wieder Moshpit-Futter liefert. Den regulären Konzertteil schließen Nothing But Thieves schließlich mit ihrem bekanntesten Song Amsterdam ab, zu dem es dann endgültig kein Halten mehr gibt. Mit I’m Not Made By Design und Impossible beschließen – wie könnte es anders sein – ein rockigerer Song und eine Ballade einen starken Auftritt. Die Kirsche auf der Sahnetorte wäre da nur noch Can You Afford To Be An Individual? gewesen. Doch davon abgesehen hat dieser Abend unglaublich gut getan, was man spätestens dann merkt, wenn man trotz leichter Rückenschmerzen aufgrund des langen Stehens glückselig ins Bett fällt. Was für ein geiles Gefühl, das dieses Jahr wieder häufiger zu erleben.
© Fotos von Valentin Krach