Ganz egal zu welcher Uhrzeit, auf welcher Bühne und mit wie viel Menschen davor, Frank Turner gehört zu jener Sorte Künstler*innen, die es stets schaffen, das gesamte Publikum mitzureißen und sich dabei selbst immer völlig zu verausgaben. Das gilt auch für seinen insgesamt achten Auftritt im Schlachthof Wiesbaden seit seiner ersten Deutschlandtour 2009.
Der Brite war in der Vergangenheit eigentlich immer ein Garant für ausverkaufte Shows in der hessischen Landeshauptstadt, heute ist der Schlachthof jedoch nur zu etwas mehr als einem Drittel gefüllt. Über die Ursachen lässt sich nur mutmaßen: Ist die kurzfristige Ankündigung der Show vor etwas mehr als zwei Monaten schuld? Liegt es am generellen Post-Lockdown-Problem, dass der Kartenverkauf für viele kleinere Shows nicht gut läuft? Vermutlich eine Mischung aus beidem. Davon lässt sich jedoch heute Abend niemand beirren, weder die drei Acts auf der Bühne noch das Publikum davor, das Stimmung macht und eine Energie aussendet, als wäre die Halle pickepackevoll. Los geht es mit Jessica Guise, die für 25 Minuten Songs ihres im April veröffentlichten Debütalbums Youngest Daughter spielt. Der Ehefrau von Frank Turner gelingt es dabei, nur mit ihrer Akustikgitarre und der Klangfarbe ihrer Stimme den Raum zu füllen und insbesondere der abschließende und für ihren verstorbenen Vater geschriebene Song Brother In Arms, den sie wie auch die vorherigen Songs auf seiner alten Gitarre spielt, schafft es zu berühren. Ganz anders verhält es sich bei New Pagans, die eine höchst energetische Bühnenshow abfackeln und ihren grungigen Indie nochmal druckvoller rüberkommen lassen als auf Platte. Gitarrist Cahir O’Doherty, zudem Gitarrentechniker von Frank Turner, erzählt dazu, dass Turner in seinem Haus ein ganzes Zimmer voller Malereien von ihm selbst habe, die ihm Fans über die Jahre hätten zukommen lassen, was Turner später aufgreifen wird. Ihr halbstündiges Set beendet die Band aus Irland mit dem scheppernden Empowerment-Song Lily Yeats und einer ordentlichen Noise-Eskapade.
Dass auch bei Frank Turner und seiner Begleitband The Sleeping Souls die Zeichen auf Lärm und im speziellen Punkrock stehen, verdeutlicht bereits das Bühnenbanner seines aktuellen Albums FTHC („Frank Turner Hardcore“). Damit auch von Anfang an alle durchdrehen, eröffnen Turner und Band nach dem Intro Eulogy mit Four Simple Words, dessen Energie sich sonst vor allem eignet, um ein Konzert abzuschließen. Weiter geht es mit zwei Songs von FTHC: das vom Zusammenkommen nach etlichen Lockdowns handelnde The Gathering sowie Haven’t Been Doing So Well, einer Hymne über psychische Gesundheit. Anschließend wendet sich Turner erstmals ans Publikum und macht klar, dass Übergriffe und Belästigungen jeglicher Art nirgends etwas verloren hätten, auch nicht hier und heute, und droht sogar, das Konzert abzubrechen, sollte es dazu kommen, was glücklicherweise nicht passiert. Über Corona will er heute Abend nicht reden, stattdessen fordert er in der Bridge von Photosynthesis dazu auf, das im Lockdown hinzugekommene Gewicht heute Abend wieder zu verlieren. Weiter geht es mit jeder Menge Hits: dem zackigen Out Of Breath, dem hüpfenden If Ever I Stray, dem neuen Punches sowie dem Anti-Nazi-Song 1933, bevor Turner nach Plain Sailing Weather die Ansage von O’Doherty zu den Malereien in seinem Haus aufgreift. So hätte dieser irgendwann angefangen, selbst Bilder von Turner zu zeichnen und unter die Malereien der Fans gemischt, die Turner aufgrund des schlechten Malstils jedoch immer erkannt hätte.
Es sind Geschichten wie diese, die ein sonst recht atemloses Set immer wieder auflockern, und zeigen, dass das Band zwischen Turner und seinen Fans ein sehr dickes ist. The Next Storm bekommt mit Zeilen wie „I don’t want to spend the whole of my life inside/ I want to step out, and face the sunshine” nach etlichen Lockdowns eine ganz neue Bedeutung und vor dem von der Transition seines Vaters zur Frau handelnden Miranda macht er deutlich, dass diese einschneidende Veränderung nicht nur für sie, sondern auch für ihn das Beste gewesen sei, da die beiden vorher jahrzehntelang keine gute Beziehung zueinander gehabt hätten, was sich nun geändert habe. Nach einer Stunde Spielzeit verlassen The Sleeping Souls die Bühne und mit Cleopatra In Brooklyn, Dan’s Song (hier ersetzt das Publikum mit lautstarkem Schreien die Mundharmonika) und Be More Kind folgen drei akustische Solo-Songs von Turner, bevor seine Begleitband zu Letzterem unter tosendem Applaus wieder auf die Bühne kommt. Weiter geht es mit The Way I Tend To Be und dem rasenden Hardcore-Song Non Serviam, bevor zu Polaroid Picture der ganze Raum springt und Get Better vor den Zugaben noch einmal den Moshpit entzündet. The Ballad Of Me And My Friends, Recovery, Try This At Home und I Still Believe beenden nach 105 Minuten schließlich die 2680. Show von Frank Turner, die den Eindruck erweckt hat, als hätte es die vorherigen 2679 Auftritte nicht gegeben und als wäre der heutige Abend für Turner der Höhepunkt der Woche und nicht das ab morgen folgende, von ihm veranstaltete viertägige Lost-Evenings-Festival in Berlin.