Enter Shikari + Support, E-Werk Köln 27.03.2016

Der durchschnittliche Zuschauer erwartet heutzutage mehr als eine bloße Darbietung guter Songs. Nein! Das Licht, die Energie, der Sound, … alles muss innovativ und neu sein. Doch wer kann diesen Erwartungen für unsere und kommende Generationen gerecht werden? Diese Frage lässt sich wohl am ehesten nach dem Besuch des Konzerts im E-Werk am vergangenen Ostersonntag beantworten: Mit einem Power-Line-Up bestehend aus Hacktivist, Modestep und Enter Shikari ist die Messlatte für Bands heutzutage höher geschraubt als je zuvor. Wir waren vor Ort und berichten.

DSC_0100Es war sieben Uhr, als sich die Türen der idyllischen Konzerthalle in Köln öffneten und erste Fans einströmten, die teilweise schon seit dem späten Nachmittag ihre Zeit auf den Eingangstreppen verbracht hatten. Aufgrund eines Promotionfehlers mussten die Djent-Rocker Hacktivist leider bereits zehn Minuten nach Einlass spielen, was zwar schade war, der Performance der Band aber keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: Die sich allmählich füllende Halle wurde so behandelt wie der kleine Luxor Club, bei dem wir eine Woche zuvor zu Besuch gewesen waren. Die Band wurde für zwei Termine dazugebucht, um mit Enter Shikari die Tour gebührend abzuschließen, und das tat sie auch. Eng verwobenes Riffing jagte den perfekten Flow der beiden Rapper Jermaine und Ben, beeindruckendes Handwerk tanzte Tango mit eingängigen Refrains und Hooks. Besonders die Hit Single „False Idols“ als auch „Niggas in Paris“ wussten bei jedem fremden Zuschauer direkt Anklang zu finden und diesen zu begeistern. Auch Enter Shikari Sänger Rou Reynolds ließ es sich nicht nehmen, während des Songs „Taken“ mit einem Bier in der Hand seinen Gastpart gekonnt abzuliefern und dadurch das Publikum zu überraschen. Einzig schade war der unbalancierte Sound, der der Band ein wenig Druck wegnahm und somit nicht ganz ihren kleinen Clubshows gerecht werden konnte. Hacktivist sind dennoch eine große Hoffnung für die Musikszene, auf die man immer wieder gespannt blicken sollte!

DSC_0127Gefühlte Sekunden später ging es auch schon weiter mit Modestep, einer Band, die so wie die anderen Gruppen nicht so recht einem bestimmten Genre zuzuordnen ist. Die bereits brodelnde Halle war nicht ganz gefasst auf das, was auf sie zukommen würde: Eine Party der höchsten Eskalationsstufe. Eröffnungssong „Rainbow“ evozierte dabei zuerst den Eindruck eines entspannten Reggae Lieds, bevor Sänger Josh Friend nach dem ersten Moshpit fragte – etwas, das noch gefühlt 100 mal während des schweißtreibenden Sets passieren sollte. Es bebte, es klebte, es wummerte. Wenn Modestep in der Nachbarschaft sind, ist man zur wohl heftigsten Hausparty aller Zeiten eingeladen. Dieser Faktor kulminierte in den unzähligen Remixes, die die Band zum besten gab.

Auch Nirvana durften nach einem Jump-the-fuck-up-Part in einem kurzen Ausschnitt von „Smells Like Teen Spirit“ wieder das Licht erblicken . Gewagt, aber gekonnt wurden Schnipsel anderer Künstler in die Performance integriert und zu Genüge vom Publikum gefeiert. Kein anderer Support Act hat es jemals zuvor geschafft, mir so gut zu gefallen wie der Headliner an dem Abend. So hinterließen die Briten beim Verlassen der Bühne eine schwitzige, erschöpfte Masse, die bereits zu diesem Zeitpunkt verzweifelt nach Luft schnappte und Energie zu sparen versuchte. Wer nicht genug vom Quartett hatte, konnte sogar anschließend nachts noch ins „Bootshaus“ gehen und direkt mit einem DJ Set weiterfeiern. Mit Modestep standen Musiker auf der Bühne, die vom kleinen Club bis hin zur gigantischen Festivalbühne alles mit Bravour erobern können – und sicher bald ganz oben ankommen werden. Hey, ihr sogenannten Star MCs, hier könnt ihr euch mal was von abgucken!

DSC_0209Das Sehnen nach Entspannung war jedoch vergeblich, da nach einer kurzen Umbaupause bereits der Mythos Enter Shikari die Bühne betrat. Warum ich sie so bezeichne? Weil es für mich keine Gruppe gibt, die es heutzutage schafft, Hallen zu füllen trotz solch einer merkwürdigen, wilden Musik und absoluter Unabhängigkeit von jeglichen Plattenlabels. Nach einer vollendeten Tour im UK mit bis zu 10000 Zuschauern wirkte die jetzige Show wie ein Wohnzimmerkonzert – und zwar eins, das man nie vergessen wird. Eine cartoonähnliche Stimme kündigte bereits während des Umbaus die letzte Chance an, sich noch ein Erfrischungsgetränk zu gönnen, damit man nicht dehydriert würde. Wie klug dieser Ratschlag war, musste das Publikum jedoch erst am eigenen Leibe erfahren: Das Licht ging aus, ein dumpfer, elektronischer Schlag ertönte. Enter Shikari waren gelandet.

DSC_0577Der Moment, wenn das Publikum einzig am Rhythmus erkennt, welches Lied angestimmt wird, ist nur ein Indiz dafür, wie passioniert Fans dieser Band auf Konzerten sind. So schallte es unisono aus allen Kehlen „And still we will be here“ (eine Zeile aus dem nach der Gruppe benannten Lied), bevor das E-Werk zu einem monströsen Schubskreis ausartete. Ein starkes Opener-Trio bestehend aus „Solidarity“, „Sorry, You’re Not A Winner“ als auch „The One True Colour“ läutete eine Performance ein, die vielseitiger nicht hätte sein können. Die folgenden hundert Minuten vergingen so schnell und intensiv, dass es schwer ist, die Höhepunkte direkt herauszugreifen. Erwartete Lieder wie „Destabilise“, „Radiate“ oder auch das neuere „Anaesthetist“ kamen gewohnt brachial als auch emotional herüber. Es waren trotzdem die intimen Momente, die die Zuschauer zu Tränen rührten. Mit der epischen Ballade „Dear Future Historians“ blieb selbst beim toughsten Kerl kein Auge trocken – und das, obwohl wenige Minuten zuvor die härteste Auswahl an Liedern zum besten gegeben wurde, die Sänger Rou warnend als „the rowdy part of the set“ bezeichnet hatte. Absurd sind diese Aneinanderreihungen allemal, doch es funktioniert. „Slipshod“ verkörperte hierbei den puren Hass und ein Fünkchen Selbstironie, eine Klavierversion von „Juggernauts“ eher eine Hymne, die im stillen Lichtermeer hunderter Feuerzeuge zelebriert werden muss. Wer wagt, gewinnt. Es scheint so, als gäbe es kein Experiment, welches man den Jungs nicht zutrauen könnte. So überraschte es auch alteingesessene Fans wenig, als der Multiinstrumentalist auf eine Überdachung stieg, um von dort aus sowohl zu singen, Gitarre als auch Trompete zu spielen – es könnte einem ja sonst langweilig werden. Die Band griff in die Vollen: Eigene Stücke wurden teilweise durch die „Hospitalised“ Remixes ergänzt und live an Keyboards gespielt, ehe im nächsten Moment wieder die volle Breitseite des Bandsounds zurückkehrte.

Die gesamte Spielzeit wurde dominiert von einer unnachahmlichen Nähe zum Publikum, die man sich ohne persönlich dabei gewesen zu sein so nicht hätte vorstellen können. Jedes der Bandmitglieder verbrachte mindestens einen Song in, auf oder über dem Publikum – Verstärker zum Daraufstellen inklusive. Generell ließ sich während der energiegeladenen Darbietung nie ein Hauch an Routine wiedererkennen. Stattdessen strahlte jedes Lied seine eigene Botschaft aus und wurde wie beim ersten Mal mit Herzblut aufgeführt. Welch Glück, dass man hier nie die Angst haben muss, Enter Shikari könnten sich zum Spiel gewisser Lieder wie „Sorry, You’re not A Winner“ gezwungen fühlen! Mit „Mothership“, um ein Beispiel zu nennen, haben die Musiker ein Lied geschaffen, das selbst nach all den Jahren noch immer so frisch und ungealtert klingt wie am ersten Tag und sich problemlos neben den neueren Meisterwerken wie „Torn Apart“ einreihen kann. Hut ab!

DSC_0465Visuell haben die DIY-Künstler es auch geschafft, eindrucksvolles Material zu zimmern. Per Hand von Rou programmiert schafften es somit nicht nur Erzählungen der Evolution und Ausschnitte aus Musikvideos, sondern auch amüsante Projektionen von Tänzern der fünfziger Jahre auf die die Bühne säumenden LED-Bildschirme.

Es passiert manchmal leicht, dass man die Ernsthaftigkeit der Texte inmitten all des Humors zu vergessen vermag. Jedoch verbindet die Kernfusion wilder Partymusik und gesellschaftskritischer Texte  all das, was man sich von einer aufstrebenden Band erhofft: Spaß und lyrische Aktualität. Bei Enter Shikari bleiben auch Politiker wie Trump oder Cameron nicht unversehrt, was sich vor dem Hardcore Schmankerl „Arguing With Thermometers“ in Form einer nachgestellten Nachrichtensendung äußerte. Auch Gandhi fand inmitten des zugegebenermaßen verrückten „Gandhi Mate, Gandhi“ seinen Platz, als Rou zur Entspannung seines Gemüts plötzlich auf dessen Wunsch hin Robbie Williams‘ „Angels“ anstimmte. Enter Shikari-Konzerte bieten mehr als nur Musik; teils wirkt es sogar so, als sei man in einem Kabarett mit ausgefallenem Soundtrack – ein Versuch, der erstaunlicherweise nie schief geht.

Am Ende des Zugabenblocks bestehend aus „Redshift“, „Anaesthetist“ und dem finalen ekstatischen Ausbruch in Form vom Album-Closer „The Appeal and The Mindsweep II“ hinterließen Enter Shikari also ein Vermächtnis für Bands ihres Kalibers: Wer soll das noch toppen? Eine Frage, die womöglich noch länger im Raum stehen bleiben wird. Was allerdings feststeht, ist, dass diese Band nicht mehr nur aus vier kleinen Teenagern eines Vororts von London besteht. Das in „Redshift“ beschriebene Universum ist so unendlich, wie die Möglichkeiten ihrer Zukunft – wer könnte es ihnen nicht vergönnen! Als ich mich nach dem Konzert schließlich umschaute, sah ich nur glückliche Gesichter. Ob Enter Shikari live zu empfehlen sind? Diese Frage muss ich, denke ich, nicht mehr beantworten.

Fotos: (c) Florian Hilger, www.shout-loud.de