Livereview: Stick To Your Guns + Support, Schlachthof Wiesbaden, 11.07.2018

Eine riesige Hardcore Band im winzigen Club? Klingt vielversprechend. Inwiefern Stick To Your Guns und ihre Mitstreiter das Wiesbadener Kesselhaus auseinandergenommen haben, erfahrt ihr bei uns.

GTSStumpf ist Trumpf. Zumindest bei der kanadischen Formation Get The Shot, die sich durch ein gewaltsames Set durchprügelt. Das ganze hat heftig Muckis, was der Frontmann, der sich selbst J-P nennt, gerne mehrfach zeigt. Ob auf dem Publikum kniend, stehend oder auf der Bühne scheint der Sänger besonders stolz auf seine Oberarme zu sein. Nach dem dritten Mal wird das jedoch ein wenig lächerlich und lenkt von der brachialen Musik ab, die geboten wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist der stimmliche Umfang J-Ps, der sich zwischen Keifen und hohen Screams in einem minimalen Spektrum bewegt und dadurch nicht so stark mitreißen kann. Der nur mäßige Sound steuert dem Geschehen nicht viel bei und katalysiert einen einzigen Hardcore Brei, der einfach nicht schmecken will. Es erwacht der bittere Eindruck, dass Get The Shot mit ihrer Musik noch lange als Support zu sehen sein werden, ehe sie ihr wirklich eigenes Ding machen, das sie charakterisiert.

SFTPNach einer kurzen Umbaupause machen sich Stray From The Path auf ins Schlachtfeld. Gewappnet mit gutem Sound, einer motivierten Band und einem Handy zur WM Spielverfolgung starten die Amerikaner aus Long Island mit „Outbreak“ und „Badge and a Bullet Pt. 2“ ein prägnantes Set, dass das Publikum erstmals richtig aufweckt. Leider geht das energetische Set mit mehreren Verletzungen einher: Einem Zuschauer springt die Kniescheibe heraus, Sänger Drew Dijorio fällt nach dem Crowdsurfen mit dem Kopf zuerst auf die Bühne und signalisiert das mit vermehrtem Fluchen. Dennoch: Die Band zieht den Stiefel vollkommen durch. „Snap“ entpuppt sich als der Underdog der Setlist und lädt zum Springen ein, während andere Stücke wie zum Beispiel das neuere „The House Always Wins“ oder auch „Good Night Alt-Right“ klare Kampfansagen an den Status Quo unserer heutigen Gesellschaft sind. Generell bewegen sich die Texte der Band in einem solch kritischen thematischen Bereich, dass einem schon mal die Spucke wegbleiben kann. Stray From The Path repräsentieren proaktives Handeln gegen Homophobie und Rassismus. Die solide Manier, in der die Lieder aufgeführt werden, festigen ihren Ruf als gute Liveband. „First World Problem Child“ schießt den Vogel für die Band ab und bringt einen mächtigen Anteil an Crowdsurfern hervor, der sich im Laufe des Abends noch vermehren soll. Over and out.

STYGWo nun schon das erste Highlight gewesen ist, folgt direkt das nächste. Nur 30 Minuten Verschnaufpause später betreten Stick To Your Guns die Bühne und bringen Chaos mit sich. Der Opener „The Sun, the Moon, the Truth: Penance of Self“ legt mit einem Riffgewitter ordentlich vor, ehe der äußerst gut gelaunte Jesse Barnett – dieses Mal stimmlich voll erholt – seine allseits bekannten Screams zum besten gibt. Es ist ein radikales Feuerwerk, das die Band abliefert: ein Hit jagt den nächsten („Nobody“ oder „We Still Believe“), Erholung gibt es erst spät im Set bei der Live Rarität „D(iam)ond“. Barnett und seine Kollegen stellen sich, genau wie beide Vorgruppen, an die vorderste Front, wenn es um Gleichberechtigung, Akzeptanz und antikapitalistische Gedanken geht. Aus diesem Grunde ist es besonders reizend, dass das Kesselhaus keine Barriere vor der Bühne hat. Unzählige Stagediver und Crowdsurfer finden im Laufe des Abends ihren Weg auf die Arme anderer Fans, während der Anteil Schweißdunstes weiterhin massiv steigt.

STYG-2Aber nicht nur auf einem Energielevel spielen Stick to Your Guns in der obersten Liga: Trotz 6 Wochen langen Tourens mit teilweise mehreren Auftritten am Tag liefert die Gruppe noch immer eine musikalisch einwandfreie Performance ab. Was letztes Jahr noch von der stimmlichen Beeinträchtigung Barnetts überschattet war, ist dieses Jahr weder zu hören, noch zu sehen. „Empty Heads“ kommt äußerst stark daher und wird vom mittlerweile im Legendenstatus angekommenen „Amber“ noch einmal getoppt. Wenn nichts mehr gehen sollte, wenn alle Gliedmaßen wortwörtlich abfallen vor Erschöpfung, entscheidet sich die Band, nach „Against Them All“ noch einen seit einem Jahrzehnt nicht mehr live dargebotenen Song zu spielen: „This Is More“ vom ersten Album „For What It’s Worth“ zerfetzt alles, was potenziell noch funktionieren könnte. Es scheint schon fast unmöglich, dass das 14 Song starke Set nur 50 Minuten lang gewesen ist, da das Energieniveau nicht mit purem Verstand zu fassen ist. Diese Zeit reicht aber auch definitiv, wenn man die erschöpften und fröhlichen Blicke der Fans inspiziert. Wer sich hier über die Länge beschwert, hat Hardcore grundsätzlich nicht verstanden.

Stick To Your Guns werden noch sehr lange den Hardcore dominieren und zählen wohl schon jetzt zu einer der besten Livebands des Genres. Vielleicht sogar aller Zeiten, doch das werden wir wohl erst nach mehr Konzerten erfahren. Die Band besitzt die Kraft, jedes Publikum vollkommen für sich zu gewinnen und ein allgemeines Gruppengefühl auf jeder Show zu kreieren, dass jeden integriert. Der Auftritt im Kesselhaus beweist erneut, dass die Gruppe im Rahmen ihrer Setlist so ziemlich alles machen kann und es immer funktionieren wird. Kurz gefasst: Wer eine Show der Band besucht, darf sich auf etwas gefasst machen. Forever us against them all!

© Fotos von Joshua Lehmann