Sechseinhalb Jahre nach der ersten Ausgabe des Antifests haben Anti-Flag während ihrer aktuellen Europa-Tour zu zwei weiteren Ausgaben ihres eigenen Festivals geladen. Die Politpunks konnten für die einzige deutsche Ausgabe des Antifests in diesem Jahr mit dem Schlachthof Wiesbaden eine der besten deutschen Konzertlocations gewinnen.
Zweimal vier macht acht. Während die reguläre Europatour von Anti-Flag noch durch Silverstein, Cancer Bats und Worriers hochwertig aufgefüllt wird, reist die zweite Hälfte des Billings mit einer größtenteils anderen Route durch Europa. Less Than Jake und Reel Big Fish haben bereits zwei Tage zuvor beim niederländischen Antifest sowie einen Tag zuvor bei der Indoor-Ausgabe des Groezrock Festivals die Bühne mit Anti-Flag geteilt, während Tusky nur im niederländischen Haarlem mit von der Partie waren und Eskalation als Ersatz für die überspielten Black Peaks einspringen. Den Startschuss geben die Niederländer Tusky um 17:30 Uhr im kleinen Kesselhaus und zur frühen Stunde kann das aus John Coffey hervorgegangene Quartett den kleinen Club bereits komplett füllen und mit Songs aus dem stürmischen Debütalbum “Rated Gnar“ für sich werben. Reel Big Fish eröffnen mit einem Cover von A-has “Take On Me“ um 18 Uhr die Hauptbühne und die Ska-Party in der benachbarten Halle. Nach zuvor verhaltenden Publikumsreaktionen lässt sich die schon gut beschwipste Menge nicht lange bitten und eröffnet den Moshpit, der erst mit den letzten Tönen von Anti-Flag gute fünf Stunden später wieder schließt.
Die vier Bands in der Halle und die ebenfalls vier Bands im Kesselhaus wechseln sich ohne Pause nacheinander ab. Das sorgt zwar für fünfeinhalb Stunden Musik ohne Unterbrechung, aber auch für jede Menge Stress. Möchte man den Beginn einer Band nicht verpassen, sollte man von der vorher spielenden Band bereits während des letzten Songs Abschied nehmen und um den Auftritt der Kesselhaus-Headliner Cancer Bats überhaupt sehen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als gute zehn Minuten vor Ende des Silverstein-Auftritts die Location zu wechseln, da das Kesselhaus nur über eine limitierte Kapazität verfügt. Wen das nicht stört, der kommt auf seine vollen Kosten. Less Than Jake machen mit fünfzehn Minuten mehr Spielzeit genau dort weiter, wo Reel Big Fish die Stopptaste im Ska-Programm gedrückt hatten und Silverstein beweisen, wieso sie auch nach 18 Jahren Bandgeschichte noch nicht zum alten Eisen in der Post-Hardcore-Szene gehören.
Den undankbarsten Slot des Abends haben eindeutig Cancer Bats abgestaubt. Zwar gilt ihnen als Headliner im Kesselhaus eine gewisse Aufmerksamkeit, in der halbstündigen Umbaupause zwischen Silverstein und Anti-Flag auftreten zu müssen, ist dagegen undankbar. Den Kanadiern scheint das allerdings scheißegal zu sein und ihren eingeschweißten Fans sowieso. Wirksam ist der Genre-Cocktail zwischen Hardcore, Southern Rock, Sludge und Metal allemal und nach der 30-minütigen Probierzeit sind die ausgewählten Tester sturzbesoffen. Um mal vom Ausschank wegzukommen: Unter allen acht Bands gewinnen Cancer Bats den Preis für den größten Abriss. Im Kesselhaus sind schon Stagediver über Köpfe hinweg auf den Boden aufgeklatscht, aber selten hat sich ein Publikum in so kurzer Zeit dermaßen verausgabt und brutale Tanzmoves wie Eminem Wörter aneinandergereiht.
Kalt ist nach sieben von acht Bands trotz des frühen Wintereinbruchs keinem mehr und das Ergebnis der hessischen Landtagswahl haben gegen 21:45 Uhr auch schon alle mitbekommen, ohne den letzten verbliebenen Landtagseinzug der AfD schon verdaut zu haben. Perfekte Voraussetzungen also für Anti-Flag. Die Punkpolitiker sind nach 25 Jahren im Musikbusiness natürlich absolute Profis und wissen, wie sie den krönenden Abschluss eines fantastischen Konzertabends zelebrieren. Zum Einstieg gibt’s mit “Die For The Government“ eine Zeitreise ins Jahr 1996, gefolgt vom 21 Jahre älteren “I Came. I Saw. I Believed“ vom aktuellen Album “American Fall“. Weil spätestens jetzt eh keiner mehr stillhalten kann, gibt es keine akustische Neuinterpretation vom neuen “American Reckoning“, sondern 18 Hymnen, wie man sie so nur von Anti-Flag kennt. Zu “When The Wall Falls“ und dem Cranberries-Cover “Salvation“ gibt es Unterstützung von der Reel-Big-Fish-Horn-Sektion, zu zweitgenanntem steuert Worriers-Frontfrau Lauren Denitzio den Gesang bei, um der verstorbenen Dolores O’Riordan zu gedenken. Anti-Flag-Frontmann Justin Sane kommt zudem auf die schreckliche Tat in Pittsburgh, der Heimatstadt seiner Band, zu sprechen, bei der einen Tag zuvor ein 46-jähriger Mann in einer Synagoge elf Menschen erschossen und weitere verletzt hat. Man solle nicht nur trauern, sondern auch demonstrieren, dass man sich von solch grausamen Taten nicht einschüchtern lässt und es immer noch genügend Dinge auf der Welt gibt, die einem den Grund geben, das Leben zu feiern.
Dazu zählt auch das Antifest, das kollektive Begeisterung hervorruft und ein Zeichen für friedliches Miteinander in der hessischen Landeshauptstadt setzt. Dass die Hardcore Help Foundation nicht nur mit einem Stand vor Ort vertreten ist, sondern auch während des Anti-Flag-Sets eine Ansprache an die versammelte Mannschaft richtet und zum Spenden aufruft, ist die Kirsche auf der Sahnetorte. Bäckermeisterprüfung erfolgreich bestanden.
© Fotos von Valentin Krach