Long Beach Records feiert sein 13-jähriges Jubiläum – und lädt zur Sause in den Wiesbadener Schlachthof. Auch wenn statt den geplanten fünf Bands am Ende nur vier davon auftreten, besitzt dieser Samstagabend eindeutig Festivalcharakter.
Krankheitsbedingt müssen leider The Tips absagen, welche in der Mitte des abendlichen Festivals aufgetreten wären. Den Anfang machen so oder so Hamapple um Label-Gründer Mudd Lowder am Bass. Die frisch gegründete US-Band hat erst im vergangenen Jahr auf einer Compilation von Long Beach Records ihr erstes musikalisches Lebenszeichen in die Welt gesendet: Vier knackige Hardcore-Punk-Songs, bei denen vor allem das bellende Gegrunze von Frontmann Mike Woods heraussticht. So ist es auch zu früher Stunde in der noch mäßig gefüllten Halle des Schlachthofs, das Quintett schafft es mit einer zurückhaltenden Bühnenperformance allerdings nicht, die Massen vor die Bühne zu bewegen, stattdessen verharrt der Großteil der Konzertbesucher noch im hinteren Bereich der Halle. Natürlich in unmittelbarer Nähe zur Bar.
Anders verhält es sich bei den folgenden Sidewalk Surfers. Das Quintett aus Saarbrücken spielt mitreißenden Skatepunk an der Grenze zum Melodic Hardcore, wofür vor allem Bassist und Sänger Kiwi verantwortlich ist, dessen raues Geschrei phasenweise an Jeremy Bolm von Touché Amoré erinnert. In den optischen Mittelpunkt spielt sich Keyboarder Chris, der das Publikum immer wieder zum Klatschen und seine Mitstreiter auf der Bühne zum Biertrinken animiert. Diese wissen das mittlerweile aufgetaute Publikum auch zu überraschen und bereiten mit Ska-Einwürfen in den finalen zwei Songs den perfekten Übergang zu den noch folgenden Künstlern vor.
Der Anlass für den Auftritt von The Prosecution ist ein trauriger: Das bayerische Ska-Punk-Kollektiv hat im vergangenen November eine Pause auf unbestimmte Zeit angekündigt, die Show am heutigen Abend ist die vorletzte Gelegenheit, das Septett live zu erleben und sogar die vorerst letzte Indoor-Show, denn im Sommer steht nur noch ein Auftritt auf dem Deichbrand Festival auf der Agenda. Damit in der Zwischenzeit auch niemand die Band vergisst, feuert diese noch einmal aus allen Rohren – und das zu Beginn sogar wortwörtlich, denn: Es regnet Konfetti. Danach gibt’s alle Hits auf die Ohren, quittiert mit den ersten richtigen Moshpits des Abends. Erste Tränen gibt es zu Where We Belong und weil der Band der (vorläufige) Abschied offensichtlich schwerfällt, dürfen The Prosecution ihr Set um einige Minuten verlängern und noch einmal auf die Bühne zurückkehren. Where they belong.
Ska-Punk gilt als Genre, welches auf Platte gut funktioniert, seine volle Wirkung jedoch erst live entfalten kann. Dies gilt auch für das Live-Phänomen Talco. Gegründet hat sich das italienische Sextett zu Beginn des Jahrtausends in Venedig, ob ihnen das ganze Wasser irgendwann zu Kopf gestiegen ist und sie die Musik als Ventil dafür genutzt haben, ist nicht überliefert. Was dagegen bekannt ist, ist die wahnsinnige Energie, die die Südländer auf ihr Publikum loslassen. Gitarrist und Sänger Tomaso De Mattia alias Dema unterbricht diese zwar gelegentlich mit kleinen Ansagen, im Grunde sind aber alle nur zum Tanzen da. Das dürfte selten so leicht gefallen sein wie heute, denn die angepriesene Energie sprudelt nur so aus Talco heraus. Egal, ob Danza dell‘ autumno rosa, La torre oder ihre Version der Widerstandshymne Bella ciao, Talco lassen keinen Hit aus und reihen diese so schnell aneinander, dass man die Übergänge zwischen den einzelnen Songs vereinzelt gar nicht bemerkt. Die Pits sind wild, das Bier fliegt umher und auch wenn nur die wenigsten Leute italienisch reden und verstehen dürften, wird inbrünstig mitgesungen. Dennoch schaffen es Talco und insbesondere Dema, dass das Spektakel für einen Bruchteil verstummt, wenn der Frontmann zu später Stunde einen Song einem kürzlich verstorbenen Freund der Band widmet. Danach geht es im gewohnten Schema weiter, bis nach viereinhalb Stunden Musik auch die letzte Person im Raum all ihre Energie verbraucht hat.
© Fotos von Valentin Krach