Kreativ frei schaffen und trotzdem ein großes Publikum für sich gewinnen können: Mine beweist seit nun mehr sechs Jahren, dass Pop auch mit Anspruch und tieferem Sinn funktionieren kann. Auf ihrer aktuellen Tour zum Album Klebstoff waren wir im Schlachthof Wiesbaden dabei.
Es ist schon beachtlich voll, als das Duo AB Syndrom die Bühne betritt. Bei den beiden Herren stehen die Synthesizer vollkommen im Vordergrund, sowohl optisch am von Samplepads überhäuften Schlagzeug und dem analogen Synthesizer rechts daneben, als auch klanglich. Die Mehrzahl der Lieder treibt sich im Midtempo herum und beruht auf extremem Flow, den Schlagzeuger Anton Kirik gekonnt beisteuert. Besonders überzeugend ist die Mixtur aus Echtzeit Sampling und soliden Beats zugleich, während Sänger Bennet Seuss berserk auf seinen Synthesizer einhämmert. In der Tat ist das mit – selbst proklamiert – „live gespielter Elektronik“ gespickte Set erfrischend, da die Performance beider Mitglieder von absolut gekonntem Zusammenspiel als auch ausgefallenem elektronischen Sounds zeugt. Single Bora Bora beispielsweise wirkt live noch ein wenig basslastiger und nicht so poliert wie im Studio, was die ganze Affäre wesentlich hörbarer macht. Wenn gleich ganze 40 Minuten womöglich ein wenig lang sind für einen Support, können AB Syndrom gegen Ende ihres Auftritts mächtigen Applaus für sich verbuchen.
Wie es sich bei einem Heimspiel gehört tobt die Menge schon bereits vor der ersten gesungenen Note und man könnte meinen, bei Mine würde es sich um eine weltbekannte Popkünstlerin handeln. Selbstironisch lächelnd startet die Singer-Songwriterin mit Du kommst nicht vorbei und einer schicken, mit gold verzierten Keytar. Der differenzierte Sound kommt gut über die Boxen der Halle herüber, und die Stimmung ist auch angemessen: Das Publikum singt lauthals bei verschiedenen Klassikern mit, wie etwa dem schönen Ziehst du mit . Mine und ihre Band treten dieses Mal in einer leicht anderen Konstellation auf im Verhältnis zu vergangenen Touren, mehr Sounds werden synthetisch reproduziert. Eine mit abstrakten Bildern befüllte LED-Leinwand kündigt sich nach dem ersten Drittel an und bildet im Verlauf des Abends neben Mines starker Bühnenpräsenz den visuellen Mittelpunkt. Die Sängerin selbst gibt sich in ihren Ansagen stets nahbar und freundlich; ja es ist, als wäre man zu Gast auf einem Wohnzimmerkonzert, zu dem mehr Leute aufgetaucht sind, als erwartet. Die pure Freude an der Musik steht der gebürtigen Jasmin Stocker förmlich ins Gesicht geschrieben, und spätestens beim Stagediving während Erdbeeren ohne Grenzen wird auch dem letzten bewusst, dass diese Frau ihren Job liebt. Musikalisch spiegelt sich diese Motivation in spannender Dynamik zwischen den Mitgliedern wider: So werden manche Gast-Rapparts an die Schlagzeurin oder Bassistin weitergegeben und ergänzen somit den Sound mit weiteren beeindruckenden Stimmen neben der der einzigartigen Frontfrau. Katzen stellt die Solokünste des Gitarristen in den Vordergrund und bildet einen der wenigen rocklastigen Momente des Abends dar.
Ein wenig düsterer wird es in dem emotionalen, Mines verstorbenen Mutter gewidmeten Lied Klebstoff, welches Gänsehaut evoziert und zum Nachdenken darüber anregt, was wirklich wichtig ist im Leben. Die beiden absoluten Highlights des Abends sind die Neuzugänge 90 Grad und Einfach so. Ersteres Lied schreit nach Hitsingle und bringt die Stimmbänder der Zuschauer an ihre Grenzen, während letzterer Song mit seiner gelungenen, dem Disstrack ähnelnden Selbstironie und eingängigem Refrain brillieren kann. Den Zugabenblock des Abends leitet Spiegelbild ein, für welches sich AB Syndrom zur Hilfe geholt werden. Auch wenn dieses Lied auf Platte in Teilen vielleicht ein bisschen zu sehr von Effekten überladen wirkt, ist es live sehr unterhaltsam: Synchrone – nur in Teilen ernstzunehmende – Tanzchoreografie, Autotune und Subbässe stehen hier auf dem Programm. Im Anschluss beendet die Singer-Songwriterin mit Das Ziel ist im Weg und einer extensiven Instrumentalpassage ihr Konzert.
Der Konzertabend mit Mine war insgesamt der erste Schritt in Richtung größerer Bühnenproduktion – und im Umkehrschluss auch größerem Publikum. Das Wachstum der Künstlerin in den letzten zwei Jahren, sowie die hohe Chartplatzierung des jüngsten Albums dürften wohl nur kleine Anzeichen dafür sein, was Mine noch in Zukunft erwarten wird. Wenn dazu auch immer noch ein durch und durch schönes, vielseitiges Set geboten wird, könnte man nicht glücklicher damit sein.
© Fotos von Jonathan Schütz