NinaMarie – Das Westernhagen-Syndrom

Daran, dass NinaMarie in ihrer zwanzigjährigen Karriere erst zum zweiten Mal auf Tour sind, ist vor allem der Kalender schuld. Der ist voll, wenn die Menschen, die die Termine eintragen, Marten Ebsen und Thomas Götz heißen, also bei Turbostaat Gitarre bzw. bei Beatsteaks Schlagzeug spielen. Wie es ist nach so langer Zeit die eigenen Songs live zu spielen? Warum braucht eine Rockband ein gewisses Maß an Sachlichkeit? Und was hat Marius Müller-Westernhagen damit zu tun? Die beiden erklären es uns.

09. Februar 2024, Volksbad in Flensburg, Tourauftakt zur ersten NinaMarie-Tour – 18 Jahre nach ihrer Debüt-EP Scheiss Taxi – Scheiss. Paris, 20, nachdem Götz und Ebsen sich das erste Mal an Silvester zum gemeinsamen Musizieren getroffen haben, und am Ende mit zwei Songs und einer neuen Band aus dem Proberaum gehen. Schon da steht fest: NinaMarie ist nicht für die Bühne gedacht ist, eher als sporadischer Zeitvertreib. Erst 2013 erscheint die zweite EP Feuer in der Nachbarschaft, neun Jahre später die aktuelle, sechs Songs starke Was für Land, welch ein Männer. Dazwischen zwei 7-Inches. Das war’s. Der Sinneswandel kommt mit den Jahren, der Wunsch wächst, die Songs vor Publikum zu präsentieren. Aber nicht nur das: In Flensburg stehen Ebsen und Götz nicht allein auf der Bühne, live wachsen NinaMarie vom Duo zum Quartett. Mit dabei sind Sophie Labrey an Schlagzeug, Gitarre und Orgel sowie Julius Rothländer am Bass – zwei nicht minder beschäftigte Musiker*innen: Während Labrey Teil der Crossover-Band Shoshin ist, mit Beatsteaks-Bassist Torsten Scholz bei Das Kate Schellenbach-Experiment! spielt und solo unter dem Namen labreylien Musik veröffentlicht, pendelt Rothländer zwischen Berlin und Island, zwischen Filmmusik und dem Indie-Duo BSÍ, „benannt nach dem Busbahnhof in Reykjavik“, wie Thomas erklärt, und mit Blick auf die gesteigerten Möglichkeiten eines Quartetts hinzufügt: „Das Schöne an der Besetzung ist, dass wir wechseln können. Sofie spielt ultragut Schlagzeug, kann Orgel, kann Gitarre spielen. So können wir sagen: Ah, das Lied machen wir so, das Lied machen wir so.“ Anders als die Entscheidung auf Tour zu gehen, sei laut Götz die Wahl schnell auf die beiden als Mitmusiker*innen gefallen. Wie schwierig ist es, sich die Songs, angesichts der langen Veröffentlichungspause und veränderter Besetzung, im Vorfeld einer Tour wieder draufzuschaffen? Gar eine Verbindung zu ihnen herzustellen?

Ebsen: Ich kann nur für mich sprechen. Aber für mich war es gar nicht schwierig, Verbindung zu den Songs aufzubauen. Natürlich hast du welche, die gehen sofort wie einmal schnippen, dann bist du drin und andere musst du zweimal spielen, bevor du dich erinnerst: Aha, okay, so geht man da rein. Aber aus meiner Warte gesprochen: Für mich fühlte sich das sehr natürlich an, auch mit Julius und Sofie zusammen. Ich war sehr sehr aufgeregt, als wir das erste Mal geprobt haben, und es hatte sich gleich sehr toll angefühlt. Ich habe mich gleich wohlgefühlt. Das ist auch nicht selbstverständlich.
Götz: Das macht total Spaß. Klar vergisst man viele Sachen und dann erinnert man sich wieder. Und das ist ja auch lustig, wenn man sie erstmal vergisst und sich dann wieder erinnert. Eine Verbindung aufbauen, so esoterisch sehe ich es auch nicht. Eher: Ahh, so ging es nochmal, und dann spielt man es wieder. Und merkt dann: So hoch kann ich es gar nicht mehr singen, lass mal einen Halbton tiefer spielen. Solche Sachen können passieren. Aber ist irgendwie lustig zu hören, weil auf den Platten tauschen wir ja so durch. Da spielt Marten mal Bass und dann spiele ich mal Bass und jetzt spielt Julius immer Bass und Marten kann sich auf die Gitarre konzentrieren. Und wenn es mal eine Gitarrenstimme gibt, die er nicht spielen kann, kann die Sofie spielen. Eigentlich ist es total einfach, die Lieder haben sich dann auch selber erklärt. Wir haben nicht 30 verschiedene Versionen von einem Lied probiert, bis wir wussten, wie man es spielt. Ist ja auch alles kein Hexenwerk. Ist nicht so krass anspruchsvoll.
Ebsen: Ne, aber man muss ja trotzdem auch eine emotionale Verbindung zu einem Song eingehen, um dann den richtigen Ton zu treffen. Nicht im melodischen Sinne, sondern im Sinne von Ausdruck. Verstehst du, was ich meine?
Götz: Ich verstehe, was du meinst, aber ich muss da bei mir immer vorsichtig sein. Ich habe eher das Problem, dass die Emotion überhandnimmt und es der Darbietung gar nicht mehr so gut tut.
Ebsen: Mein Schamane sagt, das ist völlig okay.
Götz: Dann ist es gleich eine Spur zu dolle. Dann wird es manchmal so: Uh, das ist ja unangenehm. So dolle empfunden, dass es schon unangenehm ist. Konzentrier dich auf die Akkorde und sing die Melodie, da ist schon genug Gefühl.
Ebsen: Das Westernhagen-Syndrom, oder was?
Götz: Genau. Bei Deutschrock ist das besonders so, da gibt es ganz viele tolle Beispiele. Bloß keine Gefühle, im Notfall.
Also Ist eine gewisse Sachlichkeit wichtig?
Götz
: Eine gewisse Wacklichkeit?
Die auch. Sachlichkeit.
Ebsen
: Die bringen wir mit (lacht). Manchmal ist eine Sachlichkeit schon auch nicht schlecht.

Um zu verstehen, wie Ebsen und Götz miteinander arbeiten, hilft ein Blick zurück, zurück zum bereits erwähnten ersten Silvesterabend, zurück zu den zwei dort entstandenen Songs, von denen die beiden währenddessen nicht wissen, wie sie am Ende klingen werden. „Bei den ersten Liedern war das wirklich so der Ist-Zustand. Also Thomas spielt Schlagzeug in dieser Punkrockband und ich spiele Gitarre in dieser Punkrockband und dann haben wir einfach ein Lied gemacht, mit dem, was wir gerade in der Hand hatten und was wir eh tun. Bei späteren Platten ist natürlich schon so, dass wir andere Möglichkeiten nutzen und auch mal Klavier spielen“, so Ebsen. Götz kann sich in den Jahren danach auch an zwei Situationen erinnern, in denen es nicht nur um die eigene musikalische Intuition, sondern auch um das Analysieren konkreter Inspiritationsquellen ging – so stand bei der Grundstimmung von Der Fucking Kommandeur die Endzeitballadenexpert:innen von Crippled Black Phoenix Pate und bei 33 Runden der Schlagzeugsound von The Velvet Underground. Wie das Musikalische ist bei NinaMarie auch das Textliche Gemeinschaftsarbeit. Oft entstehen die Texte bei einer Tasse Kaffee im Studio des Beatsteaks-Schlagzeugers, oft nach längeren Gesprächen, auch weil Ebsen nach eigenen Angaben „nicht so der Typ für konzentriertes Arbeiten“ ist. Normalerweise erklären sich die beiden ihre Texte nicht gegenseitig, die zweite Strophe von An der Hand schreibt Götz etwa, ohne zu wissen, wovon die erste Strophe handelt, ähnlich wie beim Songwriting gibt es aber auch hier Ausnahmen, also Songs wie Die Geister, bei dem sie sich im Vorfeld über das Thema austauschen. Diese Form der Zusammenarbeit führt zum einen dazu, dass auch für die Hörer*innen ausreichend Interpretationsspielraum für eine eigene Lesart bleibt, zum anderen zum fantastisch-assoziativen Zusammenspiel von Zeilen und Refrain, auf Was für Land, welch ein Männer etwa in Es strahlt, in dem „Das Kernkraftwerk am Horizont/Es strahlt und strahlt und strahlt/Das Glück immer zu weit entfernt/Ist rosa angemalt“ auf „Die Jahre sind doch eh verloren“ trifft. Oder Nackt im Spind, dessen „Lass mich los, du dummes Land“ auch versteht, wer nicht weiß, was Sekunden vorher „Flucht oder Wahn/Streng dich nicht mehr an/Schwein oder Sein/Drei Felder sind frei“ bedeuten soll. In Käsejunge taucht der von Extrabreit geliehene und einmal durcheinandergewürfelte EP-Titel auf, dazu wagen NinaMarie einen Ausflug in die grelle Welt des Synthiepop. Ein gelungenes Experiment, auch wenn sich die beiden uneinig sind, ob sie es solches bezeichnen möchten.

Götz: Also ich kann mich nicht mehr ganz genau erinnern. Marten, du musst mich jetzt unbedingt verbessern. Bei Käsejunge hatte ich nicht das Gefühl, dass wir experimentieren wollten. Es hing nur manchmal ‚Ach, wir könnten ja auch mal so ein Keyboard-Pop-Album machen‘ in der Luft, oder Synthie-Pop, oder wie man das nennt, vielleicht hat das ein bisschen da rein gefärbt, aber ich glaube nicht, dass wir experimentieren wollten. Es gab einfach diese Drumcomputer-Spur von Marten und ich dachte immer: Wieso spiele ich nicht einfach dazu? Ich muss doch nicht das wegnehmen, dann Schlagzeug spielen und dann machen wir ein Lied, sondern, ich kann doch einfach zu dem spielen, was bereits da ist. Dann haben wir halt einen Drumcomputer und ein Schlagzeug.
Ebsen: Der Drumcomputer kam von dir, mein Lieber. Ich soll dich doch verbessern. Ja, ich hatte während der Pandemie mit den Synthiesachen rum geschraubt, das haben wir uns vorgespielt und dann haben wir aus den Parts, die ich gemacht habe, den Song arrangiert. Und erst dann hattest du den Drumcomputer dazu gespielt.
Götz: Ach stimmt, da waren wir bei dir in der Kammer, da war gar kein Schlagzeug.
Ebsen: Nee, und irgendwann haben wir es dann noch aufgeblasen, mit Gitarre und Schlagzeug, weil es irgendwie nicht so richtig fetzen wollte.
Götz: So rum war es, alles klar. Aber dann war es auch nicht so richtig experimentiert, sondern wir waren bei Marten in der Kammer und hatten kein Schlagzeug. Ich glaube das einzige Mal, wo wir experimentiert haben, war, als wir diese 10cc-Chöre gemacht haben, da haben wir so Stimmen aufgenommen und die auf ein Keyboard gelegt. Das haben wir schließlich bei allen Songs gemacht.
Ebsen: Insofern haben wir doch relativ viel rumexperimentiert.
Götz: Stimmt, hat also überhaupt nicht gestimmt, was ich gesagt hatte.
Gibt es auch Experimente, die gescheitert sind und es nicht auf die Platte geschafft haben?
Götz: Eines das gescheitert ist, ist, dass ich dachte, man könnte einen Soundtrack zu einem Film machen, den es nicht gibt. Mit Schlachtenszenen und dass man dann so richtig in die Vollen geht, aber das hat nicht so richtig geklappt.
Ebsen: Aber das kann ja noch werden.
Götz: Das wäre noch eine Idee, dass man einen Soundtrack zu einem Kostümfilm macht, also mit ganz vielen Kostümen und ganz vielen Schlachten, nur dass es den Film nicht gibt, aber die Musik, die muss genauso sein. Nur halt mit Schlagzeug und Gitarre und nicht dem Orchester.
Aber hat dann einfach nicht geklappt?
Götz
: Nee, wir haben nie so richtig angefangen. Wir hatten ganz viele Themen und einen Tag haben wir auch so rumgedaddelt, aber das war alles ziemlich sinnlos. Aber ich glaube Nackt im Spind kommt aus der Zeit
Ebsen: Genau. Aber ich habe das neulich mal wieder gehört, ich finde das super. Vielversprechend.
Götz: Flieg nicht zu hoch mein kleiner Freund, aber ich habe es mir wirklich monumental vorgestellt (lacht).

Wenn Experiment bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen, dann handelt es sich bei NinaMarie per se um ein Experiment, da es für die beiden Musiker eine ungewohnter Rolle bedeutet: die des Sängers. Selbst wenn beide auch in ihren Hauptbands gelegentlich Gesangsbeiträge leisten, ist es doch etwas anderes als Hauptsänger vor einem Studiomikrofon oder sogar auf einer Bühne zu stehen. Ebsen bezeichnet die Rolle als „ganz schwierig“, und führt aus: „Mir fällt es vom Selbstbewusstsein total schwer, sich auf die Bühne zu stellen, anderen Leuten in die Augen zu gucken und dabei zu singen. Das merke ich die ganze Zeit.“ Sein Bandkollege ergänzt: „Was ich gemerkt habe, ist dass das Verständnis für Probleme, die Sänger haben, gewachsen ist. Denn ich bin oft auch so: ‚Ach, stell dich doch nicht so an‘ und jetzt denke ich: Oh, das ist aber schon ein ganz schöner Brocken, den man da zu schleppen hat, wenn das Instrument in einem selber drin ist.“

Die weiter oben zitierten Songzeilen zeigen: NinaMarie ist eine Band, die über ein politisches Sendungsbewusstsein verfügt. Keine Überraschung bei Götz und Ebsen, die mit ihren Hauptbands wiederholt öffentlich Stellung bezogen haben und in alternativen, linken Strukturen sozialisiert wurden – und sich eben für diese Strukturen einsetzen, als Beatsteaks und Turbostaat in diesem Jahr unabhängig voneinander in AJZs und kleinen Läden, größenteils in Ostdeutschland, spielen. Anlass der Konzerte sind auch die zu dem Zeitpunkt der Tour-Ankündigung noch drohenden, mittlerweile Gewissheit gewordenen, AFD-Erfolge bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Mit etwas zeitlichen Abstand: Welche Erfahrungen haben Götz und Ebsen gesammelt?

Götz: Dass die sich dolle freuen, wenn man da spielt. Dass es fernab von den großen Städten wie Leipzig oder Dresden einen unglaublichen Bedarf nach Musik gibt, die live aufgeführt wird. Dass das eine ständige Einrichtung werden sollte, dass ich es Bands wirklich ans Herz legen würde da zu spielen, auch um ein anderes Klima zu erzeugen, und dass ich es erschreckend finde, mit was für Konsequenzen die Leute, die die Clubs machen konfrontiert sind – von Aufpassen auf dem Nachhauseweg bis zu Morddrohungen. Das ist zu krass, das geht zu weit. Das kann ich auf die Schnelle sagen.
Ebsen: Kann mich da nur anschließen. Mir fällt das sehr schwer die Erfahrung so richtig einzuordnen, letztendlich haben wir das ja auch unser Leben schon gemacht, in AJZs zu spielen, das ist jetzt nichts Besonderes, das wurde jetzt nur wegen der Wahl besonders hervorgehoben. Ich tue mich immer ein bisschen schwer mit dem Finger in Osten zu zeigen, das finde ich auch nicht ganz so geil, aber die Situation vor Ort ist, da hat Thomas komplett Recht, ziemlich hart und wenn man das erfährt, ist es noch viel härter als man sich das vorstellt. Also die völlige Abwesenheit von einer humanistischen Ideologie, in Anführungsstrichen, ich weiß nicht, wie ich es anders benennen soll, und von Gegenkultur, und wo Rechts und Menschenhass alles Mainstream ist. Das ist schon krass.
Götz: Ja, wir müssen einfach zusammenhalten. Natürlich musst du da wieder hin, wo es feindlich ist, aber man muss sich die gute Zeit auch schaffen, muss die schönen Abende haben, da die einen reproduzieren für den Rest der Woche. Aber Marten hat Recht, das ist nicht nur ein ostdeutsches Ding. Im Schwabenland auf dem Land ist es auch nicht lustig, war es auch nicht, als ich dort aufgewachsen bin, da hat man auch auf die Fresse gekriegt, aber jetzt ist nochmal anders, jetzt ist es salonfähig geworden ist. Man muss einfach zusammenhalten – nicht nur in Schwerin, sondern natürlich auch in Biberach. Das ist auf jeden Fall richtig. Zusammenhalten und aktiv werden. Alle da, wo sie können. Wir sind auch in der AJZ-Kultur groß geworden, deswegen die Stange halten und immer wieder dahin zurückgehen, weil wir da gelernt haben, wie man sich dort betätigt, wie man diskutiert. Das war ja die Lehre, durch die man gegangen ist – statt Tischler ist man halt AJZler geworden. Bevor ich mich jetzt ganz verquatsche, ich habe mich da auseinandersetzen gelernt.
Ebsen: Ich finde das aber einen sehr guten Aspekt, den du sagst. Denn es geht darum, Diskurs zu führen, andere Meinungen zu hören, damit konfrontiert zu werden und auch sich selbst zu ermächtigen, selber in die Tätigkeit zu kommen und sich nicht so verloren zu fühlen. Gerade in so Zeiten, in denen die Leute das Gefühl haben, sie werden überrollt vom Zeitgeschehen, mehr als sonst anscheinend, dass sie sich nicht so machtlos fühlen, und trotzdem Leute neben sich stehen lassen können, die vielleicht ganz anders sind. Das hat man da doch gelernt.“

NinaMarie – Live:
24.11. Osnabrück – Kleine Freiheit
25.11. Hamburg – Monkeys Music Club
27.11. Leipzig – Conne Island
28.11. Bremen – Eisen
29.11. Langenberg – KulturGüterBahnhof
30.11. Düsseldorf – Weltkunstzimmer