Andrej Dietrich alias AKa Rinde ist eine Hälfte des Genres sprengenden Duos Dÿse und hat nach mehr als 20 Jahren Jahren im Bandkonstrukt sein Solo-Debüt Kids veröffentlicht, das mit herkömmlichen Akustik-Soloalben in etwa so viel zu tun hat wie Friedrich Merz mit gehobener Mittelschicht. In einem ausführlichen Gespräch erzählt Andrej von den Beweggründen hinter Kids, von seinen musikalischen Einflüssen und seinen Blick auf den Rechtsruck in Deutschland.
„Vor ungefähr zehn Jahren habe ich damit angefangen, akustische Songs aufzunehmen und für mich Ideen ausprobiert“, erklärt Andrej Dietrich, während er bei herrlichem Frühsommer-Wetter auf einer Parkbank in Hannover sitzt. „Mir war es wichtig, meine Ideen hundertprozentig so verwirklichen zu können, wie ich das möchte. Wenn ich mit anderen Musiker*innen zusammenarbeite, lasse ich ihnen Luft und Raum, sich einzubringen, Ideen miteinfließen zu lassen und es entsteht etwas ganz Neues. Diesmal wollte ich es anders gestalten.“ Knapp 2 Stunden später steht er auf der kleinen Bühne der Nordstadtbraut, als Ein-Mann-Band mit Akustischer Stahlsaitengitarre, Bassdrum, Snare und Tamburin-Sizzle, um sein Solo-Debüt zu präsentieren. Wer auf Lagerfeuer-Romantik, gezückte Feuerzeuge und Sentimentalitäten hofft, wird enttäuscht nach Hause gehen. Alle anderen können sich über Songs freuen, die sich dem Format Singer-Songwriter mal aus der Post-Hardcore, mal aus der Dadaismus-Richtung nähern. Aber dazu später mehr.
Erstmal wieder zurück zur Parkbank und dem Entwicklungsprozess von Kids, in Zuge dessen sich Dietrich mit einigen Hürden konfrontiert sieht: Zeit, Kindererziehung, gescheiterte Förderungsanträge. Bei der Fertigstellung unterstützt ihn sein Produzent Thies Neu, der ihm mit Sugar Rush von Jet-Sänger Nic Cester eine wichtige Inspirationsquelle mit auf den Weg gibt. Selbst wenn sich Andrejs Beschreibungen von Sugar Rush „crispy, gospelig und soulig“ nicht eins zu eins übertragen lassen, zeichnet sich auch Kids durch eine enorme stimmliche Vielfalt aus: Von geflüsterten Passagen über Chöre bis zu Schreiattacken – Letztere sind mit dafür verantwortlich, dass im Promo-Text zur Vorabsingle K.U.R.Z.B.E.F.E.H.L Vergleiche zu den Post-Hardcore-Querköpfen Refused auftauchen. Ein Vergleich, der weder vom Künstler selbst noch von dessen Label Noisolution stammt: „Es kam von Leuten, die den Song vorab gehört haben. Viele kennen Punk Of Shape To Come, auf der musikalisch einiges passiert und durch die sich viele aus dem Hardcore-Bereich vor den Kopf gestoßen gefühlt haben. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute ein ähnliches Gefühl hatten, als sie Kids gehört haben, nach dem Motto: Was passiert da? Was ist das?“ Trotzdem betont Dietrich, sei für ihn selbst Refused kein großer Einfluss bei der Albumentstehung gewesen. Im Gegensatz zu anderen Künstler*innen wie der US-amerikanische Komponist Philip Glass, Trip-Hop-Ikonen Massive Attack oder der australischen Soul- und Funk-Band Hiatus Kaiyote. Und nicht zuletzt Blur-Sänger Damon Albarn: „Damon Albarn mag ich sehr, sehr gerne. Er hat mir gezeigt, dass man, wenn es von der Seele, vom Herzen kommt, musikalisch viel ausprobieren kann.“
Kein Wunder also, dass auf Kids kein Song wie der andere klingt. Was sie eint, ist die Suche nach ihren eigenen Ausdrucksformen. Unberechenbarkeit als einzige Konstante. So erinnert Tough Is The Way an US-amerikanischen Indierock um die Jahrtausendwende, Rolaner spielt mit Country-Charme und High Five spannt – um ein Regal weiter oben anzusteuern – den Referenzrahmen bis zu Queens-Of-The-Stone-Age-Balladen. Und bedient sich dann doch bei einem stilprägenden Merkmal von Solo-Alben: Der Verarbeitung persönlicher Schicksalsschläge. „In dem Song geht es um einen guten Freund aus meiner Jugendzeit, mit dem ich früher viel auf Konzerten war und den ich ewig nicht gesehen habe, weil wir an unterschiedlichen Orten gelebt haben. Bis wir irgendwann wieder in Kontakt gekommen sind – nur für einen kurzen Moment, dann war weg. Er ist gestorben und ich habe erst viel später davon erfahren“, so Dietrich. „Es war ein Stich ins Herz.“
Insgesamt nutzt der Musiker Kids, um sich intensiver mit sich und seinem eigenen Leben auseinanderzusetzen, zu dem seit 17 Jahren auch der Wohnort Berlin gehört. „Der Song Fisch ist für mich eine Hommage an die Stadt Berlin. Die Liebe zum Urbanen, aber auch der Nerv und der Druck, der dich die ganze Zeit verfolgt.“ Apropos Druck: Verspürt er jetzt, wo er für die Texte allein verantwortlich ist, mehr davon? „Druck nicht unbedingt. Manchmal fließt es einfach raus. Aber das ist schon ein Grund, warum ich mir so lange Zeit gelassen habe. Ich habe noch viele andere Songs geschrieben, die es nicht aufs Album geschafft haben, weil ich eben nicht den Druck haben wollte, zu sagen: Jetzt musst du noch einen Song machen und noch einen – und am Ende ist es irgendwas Zusammengewürfeltes.“ Wer bei den weiter oben genannten musikalischen Einflüssen gut aufgepasst hat, dem wird aufgefallen sein, dass sich in der Aufzählung keine deutschsprachigen Künstler*innen finden lassen. Aber wie sieht es bei Dietrichs deutschsprachigen Inspirationsquellen aus – gerade textlich? „Textlich weniger – vielleicht noch Jens Rachut, den kennen wir ja auch sehr gut, der hat mich schon beeinflusst. Oder Sachen aus dem NDW-Bereich, Palais Schaumburg zum Beispiel.“ Im Hinblick auf seine intuitive, weniger verkopfte Art zu texten, spielten ebenso aktuellere Punkrock-Bands wie Team Scheisse eine Rolle: „In dem Sinne, du hast irgendeinen Furz im Kopf und denkst: Warum denn nicht? Ist doch egal. Einfach machen.“
Intuitiv, emotional, vielschichtig – drei Eckpunkte, an denen sich der Sound von Kids festmachen lässt. Seinen größten Coup aber hebt sich die Platte bis zum Ende auf: Ein Feature mit Prinzen Sänger-Sebastian Krumbiegel, der dem abschließenden Es ist wie es ist – Welt verändern seine Stimme verleiht und eine andere Konstante aus Dietrichs künstlerischem Schaffen fokussiert: politisches Sendungsbewusstsein. „Montags auf den Straßen tobt das sogenannte Volk/Auf Social Media regiert der blanke Hass/In den Parlamenten träumen Asis voller Stolz von Machtergreifung/Das ist wirklich krass/Es wird immer schlimmer/Was ist eigentlich passiert?/Warum haben alle Angst und schreien sich an?“, heißt es in dem Song, den Dietrich im Interview um noch weitere Punkt ergänzt. „Wenn man sieht, was alles in der Welt passiert: Rechtsruck, Egomanie, Gewalt als legitimes Mittel. Dieses ständige: Wer ist der Stärkere? Das ist alles so fürchterlich.“ Als weiteres Problem adressiert er das Kategorisieren bei Straftaten nach Nationalität, das von rechter Seite genutzt würd, um rassistische Ängste und Vorurteile zu schüren – „und das obwohl rechte Gewalttaten wahrscheinlich fünf, sechs, sieben Mal so hoch sind wie Gewalt, die von Linken ausgeht.“ Gleichzeitig betont er, dass er nichts davon halte die heutige Situation mit der zu Beginn des dritten Reichs gleichzusetzen. „1933 ist es noch nicht. Für uns ist es wie in den 90er-Jahren. Ich habe mal erlebt, wie Neonazis auf einem Konzert in Chemnitz den Laden auseinandergenommen haben, die sind mit Flaschen und Baseballschlägern auf die Leute los und haben sie teilweise schwer verletzt. Es war fast wie ein Mordversuch.“
Die Stärke von Es ist wie es ist – Welt verändern liegt nicht nur darin, Schlaglichter auf die wichtigen Fragen zu richten, sondern auch eine Lösung in Petto zu haben, die noch nicht mal originell sein muss. Die Lösung, die Dietrich und Krumbiegel anbieten, ist so alt wie die Geschichte der Popmusik: Liebe. Aber nur deshalb ist sie nicht weniger wirksam. „Wir streben alle nach Harmonie/In jedem Falle ist Empathie/Ein Schlüssel/Manchmal auch Musik/Ton Steine Scherben bringen Glück/Wenn dich mal wieder alles stresst/Dich die Zuversicht verlässt/Du dich selbst hasst wie die Pest/Halt dich an deiner Liebe fest/Liebe ist die Antwort/Liebe siegt an jeder Front/Liebe ist der Silberstreif am Horizont“, singt Krumbiegel Zeilen, die auf einem Dÿse-Album in dieser Klarheit und Nähe zum Kitsch wahrscheinlich nicht möglich gewesen wären. So aber bilden sie den Abschluss eines vielschichtigen und gelungenen Solo-Debüts, findet auch der Künstler selbst: „Es ging mir darum, diese Aussage auf dem Album zu haben. Ich bin sehr happy, dass Sebastian mit dabei ist.“ Und schiebt mit einem Grinsen hinterher: „Danke Sebastian für die schöne Zusammenarbeit.“