Tocotronic – Was gibt mir Hoffnung?

In einer Welt wie dieser erscheint das Finden einer Utopie genauso erfolgsversprechend wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Tocotronic suchen auf Golden Years trotzdem – und finden Trost in der Überwindung des Todes, dem Licht, das sich im ICE-Fenster bricht und der Möglichkeit des Auswegs aus sich selbst. Und stehen am Ende des Albumprozesses wieder zu dritt da. Wir sprachen mit Schlagzeuger Arne Zank über das Album.

Ironie oder Nostalgie? Oder wissen Tocotronic mal wieder mehr als wir? Golden Years – der Titel des 14. Tocotronic-Albums gibt Rätsel auf, als ihn die Band am 06.November veröffentlicht. Dazu das Cover: goldener Hintergrund, der Albumtitel in Zacken-Typographie. Der Titeltrack selbst ist, bis auf einen liebevollen Seitenhieb gegen Recklinghausen, angenehm unironisch, schwelgt in countryesker Melancholie und das lyrische Ich in Gedanken an einen geliebten Menschen. Die Schönheit liegt im Alltäglichen: „Die Sonne steigt über die Gleise/Und zwei, drei Krähen fliegen stumm/In einer steilen Einflugschneise/Um den Beton herum/Die Menschen in der zweiten Klasse/Erscheinen jetzt im gold’nen Licht/Der Dampf aus meiner Kaffeetasse/Steigt mir ins Gesicht“. Das haben sie also damit gemeint, als sie das Album mit den Worten ankündigten: „Wer Tocotronic kennt, dem wird es vertraut erscheinen und zugleich wieder ganz neu.“ Dem ist so, auch weil die Band an dem „Format Indie-Rock-Band“, wie Zank es nennt, festhält, selbst wenn sie es im Vergleich zum Vorgänger Nie Wieder Krieg (2021) und Stücken wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus weniger verzerrt angehen. Dafür gibt es mitreißenden Power-Pop mit Denn sie wissen, was sie tun und Bleib am Leben, und psychedelisch angehauchtes wie Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal. Besonders gelungen findet Zank Niedrig, auch als Beispiel dafür, wie sich Tocotronic im Ausarbeiten von Dirk von Lowtzows-Songskizzen selber dazu antreiben, die eigenen musikalischen Grenzen auszuweiten: „Wir haben sehr prozesshaft gearbeitet, sodass sowas wie Niedrig eine Dub-ähnliche-Anmutung bekommen hat, was wir immer sehr mochten und für uns immer ein großer Einfluss war, was wir aber nie so umsetzen konnten.“ Für die Band im Allgemeinen, aber auch für Zanks Schlagzeugspiel im Speziellen, stelle Niedrig eine Neuerung dar, arbeite er bei dem Song viel mit Ghost Notes und Improvisation – und holt sich Inspiration bei Afrobeat-Legende Tony Allen und James Brown. Für Golden Years haben sie sich gemeinsam mit Langzeitproduzent Moses Schneider gegen Live-Aufnahmen entschieden – und das obwohl es dessen Königsdisziplin ist: „Wir haben gemerkt, wir sind da an ein Ende gekommen und wollten uns das jetzt, auch aus persönlichen Lebensumständen heraus, so einfach wie möglich machen, sodass jeder seine Studioarbeitszeit frei wählen kann und wir nacheinander aufnehmen.“ Trotzdem hätten sie versucht die daraus resultierenden Möglichkeiten – alles kann jederzeit hinzugefügt, entfernt und bearbeitet werden – nicht vollends auszuschöpfen und sich darauf zu besinnen, was eine Band ausmacht: Miteinander spielen und aufeinander reagieren.

Eine der auffälligsten Neuheiten auf dem Vorgänger Nie Wieder Krieg (2021) war unbestreitbar Ich tauche auf, das Duett mit Anja Plaschg alias Soap&Skin und gleichzeitig das erste Feature in der langen Tocotronic-Geschichte. Auch auf mehreren Songs von Golden Years ist weiblicher Gesang in Form von Backing-Vocals zu hören. Diese stammen von Stella Sommer, auch bekannt als Die Heiterkeit, mit der die Band seit mehreren Jahren eng befreundet ist. „Dieses Mal ging es darum, eher eine unterstützende Stimme zu finden und die Gesangsfarbe zu erweitern“, erklärt Zank die Entscheidung. Zu welchem konkreten Song Sommer Gesang beisteuern soll, habe nicht im Vorhinein festgestanden, sondern sich erst während der Produktion ergeben. Zu hören ist sie etwa auf Denn sie wissen, was sie tun, erste Vorabsingle und ein Song, der um die Dunkelheit in der Welt kreist. Nicht erst seit der letzten Woche sollte klar sein, wen von Lowtzow mit Zeilen wie „Diese Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, was sie tun“ meinen könnte. Bei aller Eindeutigkeit verzichten Tocotronic aber nicht auf eine intellektuelle Stolperfalle, einen Irritationsmoment, wie sie ihn in vielen ihrer Songs einbauen: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt. Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt.“ Ein Aufruf zum gewaltfreien Widerstand. Ein Aufruf, der irritiert, auch wegen des Widerspruchs von Mittel und Ziel, „niemals mit Gewalt“ und „machen wir sie schneller kalt“, der Kurt Tucholsky-Referenz und auch, weil die Zeile in Grundsatzdebatten um Gewalt als Mittel antifaschistischen Widerstandes hineinragt. Im Reflektor-Podcast von Tocotronic-Bassist Jan Müller erklärt von Lowtzow sie so: „Ich hatte immer die Vorstellung, man nimmt jemanden so am Kopf und drückt ihn einen Kuss auf den Mund. Und dadurch raubt man ihm die Luft zum Atmen. Das ist eigentlich ein Kuss des Todes.“ Auch abgesehen von Denn sie wissen, was sie tun gibt es textlich einiges zu entdecken. Hinzu kommt, dass die Tracklist Verbindungsnetze zwischen die einzelnen Songs spannt und so Minigeschichten über mehrere Stücke hinweg erzählt. Eines dieser Verbindungsnetze reicht von Mein unfreiwillig asoziales Jahr über Vergiss die Finsternis bis zu Wie ich mir selbst entkam. Die Anordnung der Stücke erweckt den Anschein der Metamorphose einer Person beizuwohnen – Rückzug, Maulwurfwerdung, Ausbruch. Dunkelheit und der Ausweg aus ihr.

Die Rollenverteilung bei den Texten hat sich mit den Jahren bewährt: Von Lowtzow schreibt, Bassist Jan Müller lektoriert. Und Zank? „Es passiert auch zu dritt, dass wir uns austauschen, aber das ist natürlich ein sensibler Bereich“, beschreibt der Schlagzeuger den Prozess. „Dirk ist da sehr offen, sodass wir unsere Meinungen dazu sagen können. Gleichzeitig ist das aber auch etwas, das man sich trauen muss. Von beiden Seiten ist das durchaus eine Herausforderung.“ Eine kommunikative Herausforderung, die nicht automatisch in den letzten 30 Jahren einfacher geworden sei, sondern auch bandinterne Arbeit erfordere. „Es ist vergleichbar damit, wie eine Beziehung oder eine Freundschaft funktioniert. Man kennt sich lange, auf der anderen Seite: Man kennt sich echt lange. Natürlich hat man gewisse Routinen, die muss man aber auch wieder aufbrechen, weil es sonst zu eng wird oder zu langweilig.“

Zu dem bewussten Aufbrechen von Routinen kommen unfreiwillige hinzu. Am 01. Oktober geben Tocotronic zeitgleich mit der Albumankündigung bekannt, dass Gitarrist Rick McPhail, seit 2004 Bestandteil der Band, aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen eine Auszeit nimmt. Was macht das mit dem Bandgefüge nach 20 Jahren zu viert wieder als Trio dazustehen? „Erstmal war es traurig und eine anstrengende Zeit, bis es zu der Entscheidung kam. Dann stellte sich eine gewisse Erleichterung ein, dass wir wissen, woran wir sind, dass wir weiter machen zu dritt und damit handlungsfähig sind“, gibt Zank einen Einblick. „Es fühlt sich lustig vertraut, aber auch neu an. Als wir die ersten Fotos zu dritt gemacht haben, das war das erste Mal, dass wir uns nach dem Break getroffen haben, war es sehr witzig. Wir mussten lachen, weil man sich so kennt und wir 20 Jahre später anders sind, aber sich trotzdem diese Konstellation und die Gags sehr vertraut anfühlen.“ Kurz wabert die Idee als Trio weiterzumachen im Proberaum herum, wird nach den ersten Proben aber ad acta gelegt. „Wir haben gemerkt, wenn man so lange zu viert musiziert hat und dann auf einmal wieder zu dritt, dass man viel zu tragen hat beim Spielen. Man muss ein bisschen schwerer arbeiten, um dasselbe, was man gewöhnt ist, zu erzeugen. Das ist schwer zu sagen, aber wir hatten alle dasselbe Gefühl: Lustig, aber auch ganz schön anstrengend“, so Zank. Also muss jemand neues her und die Wahl fällt auf Felix Gebhard, unter anderem aktiv bei Muff Potter, der instrumentellen Noise-Post-Rock-Band Zahn und als Live-Mitglied bei Einstürzende Neubauten. Die Entscheidung für Gebhard fällt schnell, weil die Band keine langen Castings, kein Rumprobieren mit verschiedenen Musiker*innen möchte und es sehr gut gepasst hätte zwischen Gebhard und Tocotronic, die Sprache über Musik zu reden sei eine ähnliche, wie Zank erzählt.

Vergiss die Finsternis – fällt schwer in einer Zeit, in der Brandmauern Risse bekommen, rassistische und menschenfeindliche Politik in Europa und der Welt Auftrieb und die schlechten Nachrichten nicht abzureißen scheinen – und ist womöglich gerade deshalb wichtiger denn je. Auch Zank muss bei der Frage, was ihm selbst in dunklen Zeiten Hoffnung gibt, länger überlegen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt, was soll man sagen. Ich dachte an das, wo wir gerade dran sind. An das, was ich mache, was ich zum Glück machen darf, sowas wie diese Band. Was gibt einem Hoffnung? Ich war gestern auf der Demo in Berlin gegen den Rechtsruck, dass man sieht, man kann sich verbinden mit Menschen. Das macht mir Hoffnung. Dass ich spüren kann, dass ich nicht alleine bin. Mit anderen sein, in Gesellschaft sein, im Austausch sein, solidarisch sein. Dass ich sowas spüren kann, wie Liebe und Freundschaft. Das gibt mir Hoffnung.“