Die angehenden Hardcore-Veteranen Stick To Your Guns haben im Oktober ihr sechstes Album “True View“ veröffentlicht. Die fantastische Platte löste einen echten Ticketsturm auf die Europa-Tour los. Doch ist der große Andrang berechtigt?
Mit drei Vorgruppen im Gepäck touren die US-Amerikaner aktuell durch Europa. Den Eröffnungsslot übernehmen abwechselnd Silent Planet und First Blood. Während zweitgenannte die ausverkaufte Show im Skaters Palace in Münster aus der Taufe gehoben haben, durften erstgenannte bei dem ebenfalls ausverkauften Konzert in Hannover die leicht undankbare Position einnehmen. Silent Planet ließen sich davon jedoch nicht verunsichern. Ähnlich souverän wie am Vorabend spielte die Metalcore-Band ihr Programm. Das Set der Kalifornier wurde mit den bisher erschienenen Alben “The Night God Slept“ und “Everything Was Sound“ gefüllt und verschaffte denen, die das Quartett bisher nicht kannten, einen perfekten Einblick in die Musik der christlichen Formation. Diese variiert zwischen ruhigen, melodischen Passagen und ausufernden, brutalen Metzeleien. Frontmann und Schreihals Garrett Russell zeigte sich besonders bewegungsfreudig. Immer wieder kniete er sich vor Schlagzeuger Alex Camarena, besuchte aber auch für einen kurzen Zeitraum gegen Ende das Publikum. Bislang haben Silent Planet nur in ihrem Heimatland USA eine Headliner-Tour gespielt, in Europa bislang nicht. Bislang.
First Blood kommen ebenfalls aus den USA, spielen aber klassischen Hardcore-Punk. Während in Münster nur vereinzelt Bewegung im Publikum stattgefunden hat, zeigte sich die niedersächsische Landeshauptstadt deutlich energetischer. Dies dürfte vor allem an der barrierefreien Bühne gelegen haben. Unzählige Male kletterten Fans die Bühne hoch, um im Anschluss vereinzelt athletische Stagedives abzuliefern. Das Quartett zeigte sich zudem musikalisch äußerst engagiert: Vor allem Frontmann Carl Schwartz war es zu verdanken, dass die halbstündigen Auftritte der Formation zu schweißtreibenden Angelegenheiten wurden. Der Sänger motivierte die Konzertbesucher immer wieder zu Circlepits und Stagedives und bedankte dies mit Gastvocals einzelner Fans. Obwohl sich First Blood bereits 2002 gegründet haben, dürften sie sich nach siebenjähriger Auszeit noch lange nicht auf ihrem Zenit befinden.
Den Anstich für die zweite Konzerthälfte durften jeweils Being As An Ocean übernehmen. Die ebenfalls aus den USA kommende Band zeigte die mit Abstand experimentellste Musik des Line-Ups. Seinen Melodic-Hardcore würzt das Quintett mit Ambient-Passagen und kreiert so schon fast ein eigenes Genre. Während die emotionale Musik der Amerikaner auf Platte nie ganz ihre volle Wirkung entfalten kann, tut sie es live umso mehr. Frontmann Joel Quartuccio begab sich bei beiden Konzerten immer wieder ins Publikum, besonders in Münster zeigte sich der glatzköpfige Sänger lauffreudig. Quartuccio scheint zudem ein Faible für Erhöhungen zu haben. Sowohl in Münster als auch in Hannover sprang er von einem Gerüst in der Halle ins Publikum. Die nach einem Gandhi-Zitat benannte Band stellte ihre Setlist konsequent zusammen – ihre vier Alben präsentierte die Formation in umgekehrter Reihenfolge. So folgte als finaler Höhepunkt ihr Evergreen “The Hardest Part Is Forgetting Those You Swore You Would Never Forget“ vom Debütalbum “Dear G-D…“.
Nach den bewegenden Auftritten von Being As An Ocean war das Publikum in beiden Fällen endgültig heiß auf den Headliner der Abende: Stick To Your Guns! Im Vorfeld der Münster-Show teilte Sänger Jesse Barnett mit, dass er während der Tour an einer Halsentzündung erkrankt sei und seine Band aufgrund dessen ihre Shows etwas kürzen müssen, um die geplanten Auftritte nicht komplett absagen zu müssen. Am Ende des Tages mussten die Tracks “We Still Believe“ und “Empty Heads“ sowie die Akustik-Songs “Left You Behind“ und “The Reach For Me: Forgiveness Of Self“ dran glauben und wurden von der Setlist gestrichen. Nichtsdestotrotz zeigte das Quintett allesumfassende Hardcore-Shows. Während in Münster noch etwas die Enttäuschung der Band zu spüren war, fehlte in Hannover davon jede Spur. Obwohl es die Tour zum neuen Album ist, machte “True View“ mit fünf Songs weniger als die Hälfte des Auftritts aus, was Stick To Your Guns ein Highlight-Feuerwerk ermöglichte.
“Nobody“ sorgte als Exempel bereits an dritter Position für Begeisterungsstürme. Die Barrierefreiheit in Hannover nutzten die Fans zudem erst vollends beim Headliner aus: Kein Song verging ohne Stagediver und Crowdsurfer. Barnetts Aufforderung, ihm durch enthusiastisches Mitsingen auszuhelfen, nahmen einige Besucher außerdem zu ernst und entrissen dem Frontmann teilweise sein Mikrofon, um Gastparts beizusteuern. Der angeschlagene Sänger honorierte dies jedoch mit Applaus. Eine Durchschnaufpause gewährten Stick To Your Guns zudem nur mit dem äußerst melodischen Song “The Suspend“, bei dem Barnett emotionsgeladen beim letzten Break sein Mikrofon über die Bühne schleuderte und seinen Emotionen freien Lauf ließ. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, erklärte er dem Publikum, dass die an dieser Stelle eigentlich eingeplanten Akustik-Songs wegen seiner Halsentzündung gestrichen werden mussten, was in beiden Fällen auf Verständnis stoß. “Amber“ und “Against Them All“ formten ein Grande Finale und verlangten beiden Parteien noch einmal alles ab.
Trotz vier gestrichenen Songs und einem angeschlagenen Frontmann haben Stick To Your Guns den großen Andrang gerechtfertigt. Nachdem der US-Fünfer im letzten Jahr als Support für Architects und in diesem Frühjahr für Parkway Drive hierzulande unterwegs war, setzt er aktuell ein eigenes Statement. Hardcore erfreut sich hierzulande enorm wachsender Popularität und Stick To Your Guns haben großen Anteil an dieser Entwicklung.
© Fotos von Joshua Lehmann