Wer wagt, gewinnt. Nachdem das Vereinigte Königreich bereits seit letztem Jahr davon profitieren darf bringen Enter Shikari auf ihrer aktuellen Deutschlandtournee den fulminanten Quadraphonic Surround Sound mit. Was die Zuschauer im Kölner Palladium erwartet hat und warum die Briten zu den besten Livebands unserer Zeit gehören lest ihr hier.
Trapbeats erklingen aus den Boxen, als der DJ der Waliser Astroid Boys den Abend einleitet. Mit ihrem diesjährigen Album „Broke“ und einer Fusion aus Grime und Rockklängen wollen die Jungs sich nun auch mal in der deutschen Szene breit machen. Ähnlich wie Hacktivist steht bei der Band Rap im Vordergrund, welcher von Grooves und Elektronik untermalt wird. Hierbei wird der kaum zu hörende Gitarrist fast schon überflüssig und wirkt eher wie eine Notlösung, um die Bühne vollends zu füllen. Viel wichtiger ist die Tightness des Rests der Band: Die Beats des Schlagzeugers Harry decken sich mit dem vom DJ bereitgestellten Drumtrack und krachen gediegen während MCs Traxx und Benji sich ein Duell des Doubletimes liefern, von dem sich jeder VBT Rapper mal eine Scheibe von abschneiden könnte. Insbesondere „Dirt“ beschert der Halle erste Moshpits und schöpft das Potenzial der noch jungen Band ganz aus. Abschlusssong „Dusted“ steuert mit unfassbarer Präzision geradewegs auf Chaos und schwitzige Wände zu, nur um abrupt zu enden. Trotz nicht vorhandener Lichtshow können Astroid Boys definitiv live überzeugen und werden mit einer etwas ausgereifteren Liveshow garantiert noch berüchtigter für Ihre Auftritte werden. In Zeiten des aufsteigenden UK Grime trägt die Zukunft für das erfolgreicher werdende Sextett noch viel Hoffnung.
Nach einer kurzen Umbaupause betreten Lower Than Atlantis die Bühne. Opener „Had Enough“ verspricht mit einem lang anhaltendem Intro Großes, doch sobald Sänger Mike Duce das 45-minütige Set mit halboffenem Mund einleitet ist klar, dass diese Band ihren Studioproduktionen live leider nicht gerecht werden kann. Das überaus stimmige Soundbild, wie man es von „Safe in Sound“ kennt, kommt live leider nur matschig, dünn und unspektakulär herüber. Duce tut sich schwer, deutlich zu singen, sodass es selbst für einen Muttersprachler unmöglich wird, seine Texte zu verstehen. Selbst das spaßige „Work For It“ kann im Rahmen der Performance nur ansatzweise an seine Studioversion heranreichen. Diese unglückliche Tatsache wird leider auch nicht durch eine etwaige kraftvolle Bühnenpräsenz wettgemacht, im Gegenteil – bis auf das gelegentliche Headbangen wirkt die Band wie an den Boden geheftet und bietet nichts für’s Auge. Am Ende des enttäuschenden Auftritts bleibt ein bitterer Geschmack zurück, denn man ist sich sicher, dass es Lower Than Atlantis angesichts ihrer relativ starken Diskografie doch besser können müssten.
Doch all diese Gedanken sind ganz schnell vertrieben, sobald „The Spark“ zu hören ist. Binnen weniger Sekunden tanzt sich das Palladium ins Delirium und schwingt die Abrissbirnen zu der überwältigenden Energie, die Enter Shikari auf die Bühne bringen. „The Sights“ kommt live wesentlich wuchtiger herüber als die Studioversion und bringt die Menge bereits nach kurzer Zeit ins Schwitzen. Grundsätzlich kann für alle Lieder des neuen Albums gesagt werden, dass diese live noch besser klingen. Das die Jungs etwas besonderes sind äußert sich auch in ihrem Aussehen und der Attitüde, die sie an den Tag legen: Frontmann und Alleskönner Rou Reynolds tanzt mit Vogelnestfrisur wie wild umher und könnte mit seinen Bewegungen in der obersten Liga von Dance Dance Dance mithalten, die anderen Mitstreiter liefern ihren vor Energie strotzenden Auftritt in Jackett oder Polohemd und Anzugshosen ab. Eine absolute Augenweide!
Musikalische präsentiert das Quartett auf der derzeitigen Tour die wohl bisher allumfassendste Liederauswahl ihrer Karriere. Von den Strobo-Schwergewichten wie „Solidarity“, alten Underdogs („Anything Can Happen In The Next Half Hour…“ oder auch den auf der B-Stage dargebotenen Balladen „Adieu“ und „Airfield“ ist alles dabei, was das Fanherz höher schlagen lässt. Der Einsatz des Quadraphonic Surround Sound ist zwar selten, macht aber dementsprechend auch mehr Eindruck, wenn er vorkommt. Leider verschluckt die suboptimale Akustik ab Mitte der Halle die Tonsignale der zwei hinteren Boxen, wodurch der vordere Teil des Publikums die kreisenden Effekte teilweise gar nicht mitbekommen kann. Aber so wie bei allen neuen Dingen sind das wohl einzukalkulierende Fehler, die mit der Zeit verbessert werden – wir sprechen immerhin von einer Band die im Inbegriff ist, das Verständnis von Livemusik von Grund auf neu zu definieren.
Die abgestimmte Lightshow ist im vollkommenen Einklang mit den jeweiligen Liedern und einem großen, runden Display, welches hinter dem dauerhaft grinsenden Schlagzeuger Rob Rolfe positioniert ist. Von abstrakten und verstörenden Bildern bis zu politischen Botschaften im Song „Arguing With Thermometers“ werfen Enter Shikari hier dezidiert weniger oft als im Jahr zuvor große Filme auf die Leinwand und berufen sich auf ihre einzigartige Bühnenpräsenz. Alles wird ein wenig heruntergeschraubt und begeistert dadurch auch mehr, da man nicht mit vollkommen vom Strobolicht überlasteten Augen den Konzertort verlassen muss. Der mit absurdeste – wenn nicht auch genialste – Zeitpunkt des Konzertes wird mit der sogenannten „Quickfire Round“ eingeläutet: Beim Versuch vier Lieder in acht Minuten zu spielen liefern wummernde Bässe die Grundlage für die heftigsten Moshpits des Abends. Sowohl „Sorry, You’re Not A Winner“, „Sssnakepit“, „Meltdown“ als auch „Antwerpen“ erblicken das Tageslicht und können seitdem als die wohl bestmögliche Kombination für ein Medley angesehen werden. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, ballern Shikari noch „Zzzonked“ hinterher, damit sich auch ja keiner über zu wenig Action beschwert. Das tut auch niemand und als der Zugabenblock mit „Redshift“ und „Live Outside“ einen wunderbaren Abend beendet ist erneut klar, dass die Jungs es drauf haben. Letzterer Song wird so hart abgefeiert, dass sogar die Crew auf der Bühne sich ihre Mikrofone schnappt und den eingängigen Refrain mitgröhlt.
Am Ende kann man nur mit einem Grinsen nach Hause gehen. Trotz einer bekanntermaßen unvorteilhaften Location holen Enter Shikari alles aus Boxen und Publikum heraus. Die Stimmung ist durchweg sehr gut und die positive Aura, die die Band umgibt, scheint sich bei jedem Konzert im Raum auszubreiten. Von dynamischen Wunderwerken die im Schweiß zelebriert werden bis hin zu leidenschaftlichen Einblicken in die Gedankengänge des Herrn Reynolds offenbart sich die Band bodenständig, ehrlich und verletzlich dem Publikum. Einen kleinen Minuspunkt gibt es aber für ein paar Fans die sich es sich nicht nehmen lassen können, belanglose Parolen durch das Publikum zu schreien, anstatt einfach mal den Moment zu genießen. So etwas gilt überall als Pöbelei und gehört schon gar nicht in die wohl emotionalsten Teile eines Konzertes hinein. Ansonsten bleibt aber nur zu sagen, dass Enter Shikari egal wo, wie und wann sie spielen, immer alles geben, den Laden abreißen und die Zuschauer nicht enttäuschen. Unbedingt anschauen!
Fotos von Joshua Lehmann