Im vergangenen Jahr eröffneten Carlswerk Victoria weiß man heute gar nicht, auf welche der drei Bands man sich am meisten freuen soll: Ist es der feministische Post-Hardcore der Petrol Girls? Der legendäre Hardcore-Punk von Refused? Oder doch der virtuose Post-Hardcore von Thrice?
Als Petrol Girls um 19:30 Uhr die Bühne betreten, ist die kalte Halle mit jeder Menge Industriecharme noch spärlich gefüllt, das Quartett und insbesondere Frontfrau Ren Aldridge lassen sich dadurch allerdings nicht aus dem Konzept bringen, eine gewohnt starke Show abzuliefern. Größere Venues ist die britisch-österreichische Band inzwischen gewohnt, erst vor wenigen Monaten traten Petrol Girls noch im Vorprogramm von La Dispute auf. Was im Vergleich der beiden Touren sofort auffällt, ist die weiter gewachsene Bühnenpräsenz der Band und vor allem von Aldridge. Ihr größtenteils stürmischer Schrei-Gesang sitzt und wenn dieser in den Songs für kurze Phasen pausiert, headbangt die Frontfrau mit ihren langen Haaren auf der Bühne, als könne sie dadurch die gesellschaftliche Schieflage wieder ins Gleichgewicht bringen. Das ist natürlich nicht der Fall, weswegen Aldridge zwischen den Songs vermehrt das Wort ans Publikum richtet. Mit ihren schlau gewählten Worten thematisiert sie nicht nur die politische Lage in ihrer Heimat England, sondern stellt auch im Rahmen von Touch Me Again unmissverständlich klar, welche Bedeutung das Wort „No“ im sexuellen Kontext besitzt. Zudem trägt Aldridge während des Auftritts ein selbstgemachtes T-Shirt mit dem Aufdruck „Rise up for Rojava“, um ihre Solidarität mit der gleichnamigen demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien zu zeigen, die aktuell einem Angriffskrieg der türkischen Besatzungsarmee ausgesetzt ist.
Das ist natürlich auch eine Anprangerung des Kapitalismus, den Refused schon seit Beginn ihrer musikalischen Karriere vor 27 Jahren als Feind ausgerufen haben, der auf dem kürzlich erschienenen fünften Album War Music wieder ordentlich Fett wegbekommt und auch in einer Brandrede von Frontmann Dennis Lyxzén zur Zielscheibe wird. Dabei darf gerne diskutiert werden, ob Ticketpreise jenseits der 40 und T-Shirt-Preise von 30 Euro nicht auch einen kapitalistischen Charakter besitzen. Richtigen Punk-Spirit besitzt das Carlswerk Victoria zudem nun auch eher nicht. Sieht man über all das und die ebenfalls diskussionswürdigen Texte vieler Songs auf War Music hinweg, wird man dagegen Zeuge einer energischen Show, mit der Refused sämtliche Zweifel hinsichtlich ihrer Relevanz im Jahre 2019 zerstreuen.
Zu den ersten (neuen) Songs Rev001 und Violent Reaction will noch nicht so richtig Stimmung aufkommen, das Einstreuen älterer Titel, zielgenaue Ansagen von Lyxzén, eine ausgeklügelte Lichtshow mit dem Kontrast aus dunklen und hellen Elementen und das sehr gute Zusammenspiel aller Bandmitglieder lassen die einstündige Show jedoch immer besser werden. Von den neuen Songs entpuppt sich Turn The Cross als absolutes Live-Highlight, während Refused im vorherigen The Deadly Rhythm einfach mal das ikonische Raining Blood-Riff einstreuen. Dass es der Band nach wie vor nicht um sie als Einzelpersonen, sondern um das Vertreten wichtiger gesellschaftlicher und vor allem politischer Standpunkte geht, zeigt die Inszenierung der letzten Rede von Lyxzén, die er im absoluten Dunkel hält, lediglich seine Körperform wird durch einen einzigen Scheinwerfer sichtbar gemacht. Mit dem finalen und ikonischen New Noise endet kurze Zeit später eine gelungene Show in wildem Moshen und absoluter Ekstase.
Das wäre natürlich auch ein perfekter Abschluss des gesamten Konzertabends gewesen, doch Thrice packen in jeder Hinsicht nochmal eine Schippe drauf und ersticken diese Überlegung im Keim. Als die US-Band vor anderthalb Jahren ihre bislang letzte Headliner-Tour hierzulande absolvierte, war ihr zehntes Album Palms noch nicht erschienen, mit The Grey gab es damals aber schon einen Song der Platte live zu hören. Stand damals das 2016er-Comeback-Album To Be Everywhere Is To Be Nowhere noch deutlich im Fokus der Show, verteilen sich heute die 14 Songs der Show ziemlich gleichmäßig auf insgesamt sechs Alben.
Eröffnet wird mit dem Palms-Opener Only Us, schon im folgenden Image Of The Invisible zeigt sich ein Großteil des gut gefüllten Carlswerks textsicher, nur um es im anschließenden Silhouette noch besser zu machen. Ihre größten Hits lassen Thrice natürlich nicht aus: Hurricane, The Artist In The Ambulance, Black Honey – alles dabei und euphorisch vom Publikum gefeiert, sowohl durch lautstarkes Mitsingen als auch wildes Pogen. Frontmann Dustin Kensrue zeigt sich im direkten Vergleich zu Dennis Lyxzén deutlich weniger wortgewandt, seine Band schafft dafür in der gleichen Spielzeit aber auch einen Song mehr. Schon vor dem melancholischen Finale Beyond The Pines kann man nur den Hut vor dieser grandiosen Band ziehen, die Leichtigkeit und Komplexität miteinander verschmelzt, als seien es Metalle. Die famose Diskographie von Thrice gleicht dabei einem Periodensystem und man darf gespannt sein, welche Elemente die Band in der Zukunft noch hinzufügen wird.
© Fotos von Valentin Krach