Vor anderthalb Jahren ist Kettcars fünftes Album Ich vs. Wir erschienen. Mit Der süße Duft der Widersprüchlichkeiten (Wir vs. Ich) erweitern die Hamburger die Themenkomplexe der Platte um fünf Songs.
Nach dem gefühlsbetonten Zwischen den Runden von 2012, hielten Kettcar mit Ich vs. Wir wieder den Finger in die offenen Wunden des Zeitgeistes. Daran knüpfen sie mit ihrer neuen EP an, die am 15. März digital via The Orchard und am 17. Mai physisch auf Grand Hotel Van Cleef veröffentlicht wird. Der süße Duft der Widersprüchlichkeiten (Wir vs. Ich) versteht sich als Komplementärwerk, das nicht auf verworfene Ideen und B-Seiten zurückgreift, sondern sich aus neu geschriebenen Songs zusammensetzt. Textliche Motive werden aufgegriffen und ergänzt, dabei wird der Scheinwerfer weg vom Großen und Ganzen hin zum Einzelnen gerichtet. Denn auch im Privaten gibt es genug Stühle zwischen denen man sitzen kann, genug Zweifel, die sich hinter Häuserecken verstecken und zu viele Fragen, die quälen. Bis wann ist es mitfühlende Anteilnahme und ab wann „Elendstourismus“? Dient kritischer Konsum der Weltveränderung oder doch nur der Beruhigung des eigenen Gewissens? Hat ein Spendenmarathon die Nächstenliebe oder die eigene Selbstbeweihräucherung im Sinn? Bedeutet Digitalisierung gleichzeitig Fortschritt? Und wenn ja, auch für alle?
Um sich seinen Mitmenschen zu nähern, schicken Kettcar ihren Protagonisten im Opener Palo Alto nicht in die Ankunftshalle, sondern in den Waschsalon. Dort tummeln sich ein Kulturjournalist, eine Pornodarstellerin, ein Bankangestellter und ein Plattenhändler – kurz: Die Verlierer der Digitalisierung. Wie reagieren? Ab ins Auto. Anstatt Kartoffelchips, gibt es Streichhölzer zum Benzinkanister und das Reiseziel heißt nicht Meer, sondern Palo Alto im Silicon Valey, Standort zahlreicher Unternehmen der IT-Branche. „Palo Alto, burn!“ Trotzdem: Das Ende ist eher blutig als happy.
Kettcar begeistern mit der Art wie sie ihre Geschichten erzählen. Sie entwerfen Bilder, die hängen bleiben, beherrschen die einfachen, wirkungsvollen Wörter wie die kryptischen Metaphern, schlagen überraschende Referenzbögen und vor allem: Sie lösen Emotionen aus, regen zum Hinterfragen, zum Nach- und Überdenken an, liefern schmerzhafte Erkenntnisse, spenden Hoffnung. Dabei fallen haufenweise Zeilen, die sich im Kopf festbeißen. Gekommen, um zu bleiben. Kostprobe gefällig? „Und als Mozart in deinem Alter war/ da war er schon zwanzig Jahre tot“ aus dem über Kunst, moralische Werte, Prinzipien und Selbstverwirklichung philosophierenden „Notiz an mich selbst“ oder „Ich liebe mein Kind/ Aber ich hasse mein Leben“ aus Weit draußen, einer berührende Ballade über eine Mutter, die mit ihrem behinderten Sohn in die Provinz zieht, um dem Mitleid der Anderen zu entkommen.
Musikalisch bleiben Kettcar ihrer Art von Indierock treu, klingen auf Ep-Länge aber abwechslungsreicher als auf Ich vs. Wir. Palo Alto kombiniert Sprechgesang in den Strophen, der entfernt an Sommer 89 (Er schnitt Löcher in den Zaun) erinnert, mit einem typischen Kettcar-Refrain, Weit draußen setzt, mit Akustik-Gitarre im Vorder- und Piano im Hintergrund, auf Reduktion und Natürlich für Alle kommt mit einem treibenden Synthesizer daher. Notiz an mich selbst zeigt die Band in bisher ungekannter Spielfreude. Bereits im Vorfeld mit Spannung erwartet wurde das, mit zehn Gastbeiträgen gespickte, Scheine in den Graben, das die Notwendigkeit von Charity Events und der zur Schau gestellten humanitären Hilfe hinterfragt und, schon alleine wegen der „’Most-Wanted‘-Schreie“ von Fjørts David Frings, als ihr „härtester“ Song bezeichnet werden kann. Ab Minute 3:25 kommen so unterschiedliche Künstler wie Love A-Sänger Jörkk Mechenbier, Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen, Bela B, Kraftklubs Felix Brummer, Rapperin Sookee oder Jen Bender von der Electro-Punk-Band Grossstadtgeflüster zu Wort und sorgen mit ihren Stimmen für Kontraste im Sekundentakt. Damit steht das Stück exemplarisch für eine EP, die die Komplexität unserer heutigen Zeit im Blick hat, nicht nur eine Meinung aufzeigt, sondern mehrere Stimmen miteinbezieht, und dabei immer auch die Botschaft mitträgt: Du bist nicht alleine.
Label: Grand Hotel Van Cleef
VÖ: 17.05.2019Genre: Indierock
Vergleichbar:
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Love A – Nichts ist neuWertung:
12/15