Ein brennender Mann. Ominöse Synthesizer. Eine Kinderstimme, die zur Selbstinspektion aufruft. Waberndes, Inception-ähnliches Grummeln, dann weißes Rauschen. Let’s Take a Good Look at You.
Das neueste Album von Code Orange signalisiert bereits zu Beginn, dass die Reise diesmal noch tiefer in den Abgrund führen wird, als zuvor bei Forever (2017) oder den jüngsten EPs, die die Brücke zum aktuellen Klangbild schlagen. Das Intro (deeperthanbefore) knüpft direkt dort an und bildet den Anfang einer endlosen Wendeltreppe, die in die düstersten Gefilde der menschlichen Psyche führt. Der Schlagabtausch zwischen clever platzierten Klavierpassagen und artifizieller Brutalität im anschließenden Swallowing The Rabbit Whole gibt bereits eine Vorahnung auf die zugleich düstere und destruktive Ästhetik, die auch auf dem Rest des Albums die Oberhand hat.
Ohne Verschnaufpause wird man in das nächste Lied In Fear geschubst, das ein klangliches Gruselkabinett ist, dem man nicht entfliehen kann. Der aggressive Hardcoresong ist von elektronischem Piepen, Glitchklängen, und klinisch reinen Schnitten durchtränkt, und wartet sogar mit einem Jumpscare auf – Pures Slasher Kino in akustischer Form. You and You Alone fährt eine ähnliche Schiene und fokussiert sich auf abrupte Start-Stop-Technik, die sich wie ein roter Faden durch die junge Karriere der Band zieht, und eines der Markenzeichen Code Oranges ist. Während die Ausführung solcher Ästhetik bei Forever noch ein wenig rau und unfokussiert wirkte, wird sie bei Underneath zu einem der Markenzeichen und Alleinstellungsmerkmale des Quintetts. Die Mixtur aus verschiedenen Produktionsfacetten fällt bereits hier in der Schlagzeugarbeit auf: Das Ride Becken als auch die Bassdrum werden von Jami Morgan mit triolischer Motivik bis ins ärgste massakriert, um im nächsten Moment von elektronischem Schlagzeug und geflüsterten japanischen Sätzen unterbrochen zu werden.
Who I Am brilliert mit wirrem Gitarrenfeedback und klaustrophobischer Atmosphäre, die sowohl durch unkonventionelle Akkordfolgen als auch verzerrte Schlagzeugbreaks besonders gegen Ende hin geschaffen wird. Der Beginn von Cold.Metal.Place fühlt sich an wie eine Messerstecherei, die in einem schrillen, metallischen Breakdown endet. Bei Konzerten der Band dürfte das Lied die dunkelsten Emotionen des Publikums heraufbeschwören. Das Schlagzeug brettert, einem Maschinengewehr ähnelnd, vor sich hin und gibt dem Zuhörer eine gehörige Injektion von Rage. Ebenso reihen sich Erasure Scan und Last Ones Left in die Auswahl brutaler Stücke ein, die unaufhaltsam nach vorne gehen und die härteren Songwritingkapazitäten der Gruppe repräsentieren. Last Ones Left hat zeitweise Slipknot Hitcharakter, nur um den Zuhörer gegen Ende hin in den Abgrund zu ziehen und sich in furchteinflößender Verzerrung zu verlieren.
Keyboarder, Shouter und Gitarrist Shade Balderose hält den außerweltlichen Sound der Band während der Laufzeit wie Klebstoff zusammen, und mischt sich gekonnt mit verstörenden Samples, artifiziellen Horrorgeräuschen und Soundflächen in das akustische Gesamtbild ein. Seine Übergänge zwischen den Stücken sind fließend und wie für einen Spielfilm angelegt, mit viel räumlicher Variation, die besonders auf Kopfhörern einen überwältigenden Effekt haben. Ein Vergleich zu Nine Inch Nails ist ein einfacher Weg, den Sound der Band zu kategorisieren, da Ex-Drummer Chris Vrenna bei der Albumproduktion auch mitprogrammiert hat. Dennoch sind die Stücke in ihrem Wiedererkennungswert eigenständig und einzigartig: Sulfur Surrounding ist ein Beispiel für das Talent der Band, sich jeglicher Klangelemente zu bedienen, diese durch den Drechsler zu jagen, und schlussendlich ihr eigen nennen zu können: So hört man hier klare Metaleinschläge, inklusive einem prägnanten Ende mit Rammstein-Stampfcharakter.
Nowhere to Run.
Melodisch und konzeptuell gesehen ist The Easy Way einer der größten Triumphe des Albums, da zuvor verwendete Liedzeilen von Only One Way aufgegriffen und zu einem stadiontauglichen Spektakel industrieller Art mit gigantischem Chorus verschmolzen werden. Besonders die Häufung von Klängen und Gitarren im letzten Refrain ist so überrumpelnd und plastisch greifbar, das man schon eher von einem audiovisuellen Erlebnis sprechen kann, als von Musik. Gitarristin Reba Meyers steht in gleichem Maße zu Drummer Jami Morgan im Rampenlicht, und packt die dunkle Thematik der Entfremdung durch Selbsterkennung in knurrenden, frustrierten Klargesang. Autumn and Carbine wirkt hier wie eine logische Fortführung von The Dillinger Escape Plan’s One Of Us Is The Killer, ohne abgekupfert zu wirken.
A Sliver kehrt mit Gelächter Samples zu klaustrophobischer Atmosphäre zurück und kommt wie eine Single der eher milden Sorte daher. Das letzte Drittel des Songs rüttelt den Zuhörer wieder wach und setzt auf treibende Rhythmik und hämmernde Industrial Sounds, die direkt in das letzte Lied, Underneath, leiten. Der Titelsong ist nach dem chaotischen Klangerlebnis vorheriger Lieder eine Offenbarung, und beinahe positiv, falls man davon bei dieser Band überhaupt sprechen kann. Der Fluch ist abgewaschen, man versteht die eigenen Abgründe. Die Katharsis setzt ein, und der Abspann läuft – der Film ist zu Ende.
Mit Underneath haben Code Orange ein modernes klangliches Meisterwerk geschaffen, das in seiner Vielfalt und Unberechenbarkeit in der gleichen Liga wie The Downward Spiral mitspielt. Es ist ein Album, das am Stück gehört werden muss. Etwas, das den Zuhörer mit seiner Horrorfilmästhetik und visueller Gestaltung der Musikvideos an der Kehle packt, umherzerrt und brutal seziert, ehe man blutend und verstört aus dem Kinosaal torkelt. Passend, dass die Veröffentlichung am Freitag den 13. ist. Mit Sicherheit wird es viele Projekte geben, die versuchen werden diesen revolutionären Richtungseinschlag der Gruppe zu imitieren. Schlussendlich kann man aber nicht ignorieren, das Code Orange mit ihrem neuesten Werk zu Pionieren eines eigenen Genres geworden sind, das die Grenzen zwischen Filmmusik, Glitch, Hardcore und Industrial sprengt.
Label: Roadrunner Records
VÖ: 13.03.2020Genre: Industrial Hardcore, Glitch, Metal, Horror
Vergleichbar:
Nine Inch Nails – The Downward Spiral
Vein – ErrorzoneWertung:
15/15