Mit voller Kraft voraus ins Ungewisse: Enter Shikari entblößen die Bandbreite ihrer musikalischen Ambitionen und Vorlieben auf dem vielfältigen Neuwerk Nothing is True and Everything is Possible . Das sechste, selbstproduzierte Album der Band vereint lang verschollen gewesene Post-Hardcore Riffs der älteren Sorte mit brillanten Orchesterparts, Poesie, und gesundem Größenwahn.
Alle Jahre wieder stellt sich die Frage, welchen Weg die Band diesmal einschlagen wird. Bekannt dafür, Fans mit kleineren Releases und Singleauskopplungen hinters Licht zu führen, hat das aus St. Albans stammende Quartett dieses Mal ein paar extra Asse im Ärmel. Es dürfte eine Erleichterung für die meisten Fans sein, dass der neueste Release nicht nur Imitatformen vom poppigen Stop The Clocks annimmt. Im Gegenteil, bereits der Opener THE GREAT UNKNOWN ist ein stampfender Hilfeschrei, der in Sachen Stil ebenso wegweisend wie verwirrend für den Zuhörer ist. Die Reise geht in noch mehr Richtungen als zuvor, inklusive klassischer Versatzstücke und elektronischen Spielereien, wie man sie auch auf Common Dreads vorfinden würde. Verfolger der ersten Stunde werden nun aufhorchen und sich fragen, was die Band mit diesem Album vorhat, ob es Breakdowns gibt, oder ob der Sound softer geworden ist. Die vereinfachte Antwort ist jein – das Album fällt insgesamt dunkler und weniger minimalistisch aus als The Spark: Dieses Mal dreht sich die Geschichte um Kapitalismus und die (Un)Möglichkeiten des Menschenlebens aus der Perspektive von Wahrheit und Lüge.
Crossing the Rubicon fällt in die Sparte der poppigsten und leider auch nervigsten Lieder, die Enter Shikari bis dato zu bieten haben. Trotz Referenzen zu Verzweiflung und dem „Labyrinth“ vergangener Entscheidungen, die textlich direkt an Take to the Skies angelehnt sind, wird das simpel gestrickte Singalong Lied stark vom drückenden {the dreamers hotel} überschattet. Reynolds kontrastiert hier die imaginative Koexistenz und Diskussion verschiedener Meinungen (Das Hotel der Träumer) mit Protesten, Unruhen und Diskreditierung in der Außenwelt, sprich der momentanen Realität. Gespickt mit Tuben und Blechblassoli wirkt Waltzing off the Face of the Earth (I. Crescendo) fast wie der thematische Titelsong des Gesamtwerks, da hier dem Orchester zum ersten Mal Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man könnte schon fast so weit gehen und behaupten, dass die Eigenarrangements eben dieser Instrumentation mit zu dem innovativsten Schaffen gehören, das Enter Shikari für sich bisher verbuchen können. Äußerst philosophisch angelegt spricht die Band in Metaphern und Historik, statt dem Zuhörer Sinn auf einem Silbertablett zu servieren.
Insgesamt werden Streicher und co. effektiv und thematisch eingesetzt, wie für das rein instrumentale, ins Chaos abdriftende Filmmusikwerk Elegy For Extinction, oder dem schlussendlich hoffnungsvollen Waltzing off the Face of the Earth (II. Piangevole). Obwohl im Verlauf der Bandgeschichte Streicher immer wieder mit griffigen Synthesizern kollidiert sind, gelingt das Experiment mindestens so gut – wenn nicht besser – wie zuletzt auf den epischeren Stücken von The Mindsweep. Der absolute Höhepunkt dieser Kombination ist das Finale des Zweiteilers Marionettes (I&II): Weg von was man als tanzbares Elektrolied bezeichnen kann, hüpft Teil zwei mit Dreierverschiebungen in ein neues Tempo und einen glänzenden Refrain, der von dramatischen Streichern und Reynolds hoffnungserregendem Gesang getragen wird. Die Band schafft es vor allem dank der Streicher in der zweiten Albumhälfte, die Popaspekte des Albums wesentlich individueller zu gestalten. Während satellites* * gehen Breakbeats und Subbässe zusammen mit legato Orchesterarrangements auf einen Rave, um die wohl nächste Singleauskopplung zu einem knackigen Sommerjam zu transformieren. Diese Kombination verschiedener Klangwelten wird auch auf thē kĭñg fortgeführt und kulminiert in einer Fanfare des Untergangs für den gefallenen König, die genüsslich in Dubstepgefilde abrutscht.
Ähnlich zum „outside the box“ Ansatz der ehemaligen Tourkollegen As It Is krempeln Enter Shikari auf ihrem Neuwerk gewohnte Liedstrukturen mit Hilfe guter Eigenproduktion und breiten Spagaten zwischen Genres unimitierbar um. Sind die breiter angelegten Orchesterstücke das Yin, so kann man aggressivere Stampfer und Elektrozwischenspiele als das konsequente Yang der Platte betrachten. Die Tatsache, dass sich Spielereien mit dem Synthesizer sowohl inmitten als auch zwischen den Liedern wiederfinden, erinnert stark an das musikalische Alter Ego der Band, Shikari Sound System. Die Band hat bereits betont, dass die Neuveröffentlichung das „definitive Shikari ALbum“ sei, und sowohl der Opener als auch T.I.N.A. bringen auf den Punkt, wofür man die Band lieben gelernt hat: treibende Gitarrenriffs, ausgeklügelte Texte und vielversprechende Lieder für den Liverahmen. Eben hier wird es auch spannend, da die Mehrzahl der Lieder auf NITAEIP nicht praktisch umsetzbar wirken und viele Fragezeichen bezüglich der Wintertournee aufwerfen. Was schlussendlich bleibt ist ein Album, das viele Durchläufe braucht, ehe sich die Knotenpunkte des artistischen Konzepts erschließen. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns nicht all zu viele Gedanken um die Qualität der (hoffentlich) kommenden Konzerte machen. Denn wir wissen doch genau, dass Enter Shikari live immer eine Wucht bleiben werden.
Label: So Recordings/The Orchard
VÖ: 17.04.2020Genre: Rock, Pop, Post-Hardcore, Elektro
Vergleichbar:
As It Is – The Great Depression (Reimagined)
Bring Me The Horizon – AmoWertung:
11/15