Review: Boston Manor – Glue

Mit ihrem dritten Album Glue streifen Boston Manor das Pop-Punk-Korsett ihres Debüts Be Nothing endgültig ab und emanzipieren sich als eine der spannendsten Alternative-Rock-Bands Großbritanniens.

Welcome To The Neighbourhood kann also nicht nur aufgrund seines Status‘ als zweites Album des Quintetts als Brücke zwischen Be Nothing und Glue gesehen werden, es verbindet auch die unterschiedlichen Stile beider Alben miteinander. Boston Manor trauen sich raus aus der Komfortzone, was ihnen und ihrer Musik eindeutig zugutekommt. Das fängt schon bei den Texten von Frontmann Henry Cox an: Hat dieser auf den vergangenen Veröffentlichungen stets den Blick nach innen gerichtet, stehen auf Glue viel größere Themen im Mittelpunkt. In 1’s & 0’s kanalisiert er seine Wut über den Brexit und die damit verbundenen Folgen in nahezu Hardcore-Gebrüll, wie man es sonst eher von Caleb Shomo (Beartooth) gewohnt ist. Der Song liefert passenderweise Material für den ersten Moshpit nach der Corona-Krise und eröffnet zusammen mit dem in die gleiche Kerbe schlagenden Opener Everything Is Ordinary das Album auf eine so verzerrte Art und Weise, dass man sich phasenweise im Industrial wähnen kann.

Diese Soundkulisse wird bereits mit dem dritten Song Plasticine Dreams aufgebrochen, der zwar gemäßigter vor sich hin schreitet, aber dennoch ungemeine Power in der Gitarrenarbeit von Mike Cunniff und Ash Wilson beinhaltet. Neben tagesaktuellen Themen wie dem Brexit oder dem Klimawandel handelt Glue auch vom Klassenkampf (You, Me & The Class War) und toxischer Männlichkeit (Stuck In The Mud) und der Rebellion dagegen. Lyrisch geht Cox diese Themen nicht so drastisch wie zum Beispiel Refused an, im Verbund mit dem energischen und aufgeladenen Alternative Rock seiner Band schafft er es aber, dass man sich als einzelne Person angesprochen fühlt und die gleiche Wut wie der Frontmann gegen patriarchale Strukturen und die Unfähigkeit vieler führender Politiker entwickelt. Das ist es auch, was Glue nach Angaben von Cox erreichen soll: „Das Ziel der gesamten Platte ist es, die Menschen wütend zu machen. Sie sollen sagen: ‚Das kotzt mich an, wie kann ich das ändern? Was kann ich direkt heute persönlich tun, um einen Unterschied zu machen?‘“

Diese Überlegungen bezieht Cox auch auf seine psychische Gesundheit: Terrible Love setzt sich nicht nur mit dem Thema auseinander, sondern findet durch seinen nach vorne gerichteten Blick Hoffnung in der musikalischen Therapiearbeit. Musikalisch ist der Song in einem viel reduzierteren Soundbild eingebettet als ein Großteil der Platte. Während andere Bands so einen Song mit Pop-Glasur überzogen hätten, lassen Boston Manor ihn eher roh. Auch deshalb und aufgrund des Fingerspitzengefühls, mit dem sich Boston Manor in jedem der 13 Songs an die Themen heranwagen, hat Glue keine Ausfälle zu verzeichnen. Angesichts der Themenauswahl ist der sich dadurch entfaltende und von Wut angetriebene Alternative Rock mit Post-Hardcore-Einschlag das unweigerliche Ergebnis. Damit heben sich Boston Manor von einem Groß ihrer britischen Kolleg*innen ab und beweisen, dass unstete Zeiten noch immer großartige Alben hervorbringen.

Glue Cover

Label: Pure Noise Records
VÖ: 01.05.2020

Genre: Alternative Rock

Vergleichbar:
Bring Me The Horizon – That’s The Spirit
Don Broco – Technology

Wertung:
12/15