Review: The Hirsch Effekt – Kollaps

Eine der wohl verfrickelsten Bands in der härteren Musikszene: The Hirsch Effekt widmen sich auf ihrem bereits fünften Album der Thematik des Klimawandels, Aktivismus, und Narrativen aus der Perspektive von Greta Thunberg und zukünftiger Generationen.

Fast drei Jahre nachdem das Epos Eskapist einen lyrischen Stilwechsel gen Sozialkommentar und Politik andeutete, steuert das Trio aus Hannover auf KOLLAPS weiter in Richtung Kritik des Status Quo. Für Sänger und Gitarrist Nils Wittrock bedeutet das vor Allem eins: die Parallelen zwischen vergangenen gescheiterten historischen Gesellschaften und heutiger Kultur aufzuzeigen. KRIS wirft den Zuhörer direkt, einer Kurzgeschichte ähnelnd, in das Geschehen hinein, und diskutiert die Anfänge der Klimaproteste von Thunberg und ihrer resultierenden Bewegung, Fridays for Future. Als Hommage sind außerdem, bis auf das instrumentale Zwischenspiel moment, alle Titel auf Schwedisch. Über den Verlauf der Platte wird definitiv kein ambivalentes Bild unserer Situation gezeichnet, was übersetzte Liednamen wie „Wahnsinn“, „Gericht“, „Kollaps“ oder „Handeln“ erahnen lassen. Ein großes Thema ist hierbei Frustration auf Grund der Ignoranz der Politik als auch Klimaskeptikern, was in DOMSTOL aus der Perspektive zukünftiger Generationen aufgegriffen und mit Verständnislosigkeit beantwortet wird. Wie konnte jeder die Warnrufe ignorieren? Hat denn niemand die Zukunft der Menschheit und des weltlichen Lebens im Sinn gehabt?

„Wandel wird kommen – whether you like it or not“

Klangtechnisch ist KOLLAPS wieder ein wenig rauer als zuletzt, was womöglich an den fast ausschließlich einzeln komponierten und aufgenommenen Instrumentalparts liegen könnte. Den Liedern kommt das aber zugute, und macht beispielsweise das Duo DEKLARATION und ALLMENDE zu zwei der kreativsten, unverzeihlich härtesten Auswüchsen der Gruppe. Die Kombination von Zitaten Thunbergs, gepaart mit Blackmetal und der seitens The Hirsch Effekt bekannter Start-Stopp-Technik grummelt vor sich hin, beißend und kratzend. Als Kehrseite finden sich außerdem Lieder wie TORKA und KOLLAPS auf der Platte, bei denen Bassist Ilja Lappin den Gesang und die meisten Instrumentalparts beisteuert. Diese im Verhältnis als Ruhepol agierenden Lieder nehmen den Zuhörer mit auf eine ungewisse Reise, die von wankenden 5/4 Rhythmen und die den Verfall anstimmenden Dissonanzen gekennzeichnet wird. Die Gitarren schweben hier förmlich im Raum, und greifen in einem hoffnungsvoll klingenden Gitarrensolo wieder die Thematik der Streicher in moment auf. So kommt es, dass die Musik mindestens in gleichen Maßen das Geschehen erklärt, wie die dystopisch-realistischen Texte auch, und diese sich gegenseitig kommentieren.

Trotz allem Ernst packt die Band mit BILEN noch einen Rammstein-artigen Knaller auf die Tracklist, der in sarkastischer Manier über die kultartige Vergötterung des Automobils herzieht. Lustig, wenn man sich Zuschauer beim Schreien des Wortes AUTO auf künftigen Konzerten vorstellen möchte. Auf eine Art und Weise ist das Lied jedoch der einzig witzige Aspekt auf dem Album, welches von realistischem Pessimismus und der Kritik ökonomischen Wachstums durchzogen ist. Was gut gelöst ist, ist jedoch Wittrocks Perspektivwechsel zwischen Vergangenheit und Zukunft, sowie Klimaaktivisten und deren Gegnern. Es wird weniger nach Schuldigen gesucht, sondern das Scheitern der jetzigen menschlichen Welt auf triste Weise hinterfragt. Per se kann man also behaupten, dass es sich hierbei mehr um ein sozialkritisches als nur ein politisches Album handelt.

“Sagt, wovor habt ihr Angst? Sind alle Schuld, ist’s keiner. Ein kleiner Schritt rückwärts oder ein letzter überhaupt.”

Mit AGERA erreicht das für die Gruppe vermeintlich kurze Album seinen Höhepunkt. Gewappnet mit einem herzzerreißenden Kinderchor, melancholischen Streicherarrangements und einem eingängigen Hauptriff fasst das Endstück sowohl die musikalische als auch textliche Thematik des Albums in knapp sechseinhalb Minuten zusammen. Wittrock und Kollegen treiben das Lied in einem Gänsehaut erregenden, zwischen Prog und Djent angesiedelten Gitarrensolo auf die Spitze. Der Aufruf zum Handeln ist zugleich Hoffnungsschimmer und Appell, den Planeten zu retten. Mit einem plötzlichen Umschwung zu Moll signalisiert das optimistische Lied die Gefahr, die die Untätigkeit zu verantworten haben wird. Ein konditionelles Happy Ending.

Insgesamt wirkt KOLLAPS zugänglicher, nicht zuletzt wegen der Problematik des Klimawandels, des Protests und der Ignoranz, die unsere Medien in den vergangenen Jahren geprägt haben. The Hirsch Effekt haben den Soundtrack zum Klimawandel und einhergehender Fragen der Menschheit geliefert, ohne zu versuchen, all diese zu beantworten. Die Texte sind direkter denn je, die Musik auf ihre Art der Repräsentation des Geschehens noch experimenteller. Das einzige, kleine Manko des Albums ist das Fließen der Lieder, was teils ein wenig abrupter gelöst ist als auf vorherigen Werken (siehe beispielsweise Holon: Anamnesis). Auch der Grund für den Einsatz eines Gastrappers auf NOJA ergibt sich eher aus dem Albumkontext und dem textlichen Inhalt, als isoliert betrachtet. Dennoch besitzen die zehn Lieder ebenso viel Neues für Fans der introspektiven älteren Alben als auch Neuzugänge, da KOLLAPS alle Facetten der Band gleichermaßen in den Fokus rückt. Black Metal, Rock, Jazz, Progressive Rock, Klassik, Indie, Thrash, Djent… “Finde dein Genre” war gestern.

cover The Hirsch Effekt - Kollaps

Label: Long Branch Records
VÖ: 08.05.2020

Genre: Artcore, Mathcore

Vergleichbar:
The Dillinger Escape Plan – One Of Us Is The Killer
Fall of Troy – Doppelgänger

Wertung:
13/15