Kerrang Studios London, 2014.
„Rou, I have quite a weird band, what would you say is best to market such a product in the current music industry?“
„Stay weird and keep pushing, don’t settle for a half-baked approach.“In der Tat hatte ich, völlig unwissend natürlich, bei einem Seminar über die Musikindustrie neben keinem anderen als Creeper-Sänger Will Gould gesessen. Noch ulkiger ist es rückblickend, dass dieser sich von einem meiner großen Musikhelden Tipps eingeholt hat. Mit Sex, Death & The Infinite Void fährt das Sextett aus Southampton die Linie der kompletten Selbstneuerfindung in einem von ihnen bisher ungehörten Sound zwischen Glamrock, David Bowie und My-Chemical-Romance-Thematik.
Das nur zweite Album der Gruppe, deren schneller Erfolg auch von verschiedenen Musikpreisen wie einem Metal Hammer Award gestützt ist, stürzt sich kopfüber in ähnlich dramatische Gefilde wie der Vorgänger, Eternity In Your Arms, auf Geschichten mit Grandeur und Drama. Wenngleich es bei ersterem Release um einen paranormalen Ermittler ging und die Verweigerung des banalen Alltagslebens, gelingt es Creeper nun eine noch größere Welt zu erschaffen, die in ihrem Überspitztsein absolut musicaltauglich wird dank glänzender Produktion und geschmackvoll eingesetzter Instrumentierung. Für die Fans der Band war lange unklar, wie das Projekt weitermachen würde, nachdem bei der letzten Show zum Debüt auch gleichzeitig die Auflösung bekannt gemacht wurde, und die Regelbrecher einfach von der Bildfläche verschwanden. In dieser Hinsicht ist das Zweitwerk eine Wiedergeburt einer Band, die erst sterben musste, um diesen Hype im Kontext ihrer Todesthematik zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Doch im Vergleich zum Vorgänger fällt sofort auf, dass Atmosphärik und Narrative hier noch mehr als zuvor den roten Faden bilden. Be My End beispielsweise ist wohl am ehesten vergleichbar mit einem Song auf My Chemical Romance’s The Black Parade, was auch daran liegen könnte, dass Frontmann Will Gould Gerard Way in Sachen Melodieführung in nichts nachsteht, und stimmlich wandelbarer denn je klingt. So navigiert Gould in den knapp 40 Minuten Spielzeit zwischen baritonem Gesang à la Bowie, dunklen Nick Cave-Stimmfarben, und Roy Orbison-Stilistik, wobei sich letztere am ehesten auf Poisoned Heart zeigt.
Die Texte, die alle Stücke thematisch zusammenschweißen, handeln von einer fluchbeladenen Liebesbeziehung, die letztlich im Tod endet. Mit Spoken-Word Passagen wie „Love is love until they don’t/ The sky is falling/ And I feel nothing“ glorifizieren Creeper eine gewisse optimistische Hoffnungslosigkeit, die bittersüße Emotionen erweckt. Der Hintergrund zu diesem textlichen Aspekt dürfte wohl auch an Goulds Zeit in L.A. liegen und einer vermeintlichen Selbstfindung außerhalb des Bandrahmens. Man hört dem Projekt nun an, dass es musikalisch anders zugeht; der Punk weicht den grandiosen Chören und Akustikgitarre, Spoken-Word-Passagen mit Donnergeräuschen, die Unheil ankündigen, fungieren als Bindeglieder, und die Instrumentalarbeit ist schussfest und strategisch. Cyanide ist eines der opulentesten Beispiele dieser Klangwelt, inklusive Orgel, unerwarteten Akkordmodulationen und der ikonischen Zeile „Sobriety won’t teach the kids to dance“.
Es wird spannend zu sehen, wie die Gruppe dem Album in ferner Zukunft einen passenden Liverahmen verleihen wird, um die Dramatik dieses Opus korrekt einzufangen. Gewissermaßen haben sich Creeper selbst die größtmögliche Herausforderung gestellt, indem ein absoluter Identitätswandel sich nicht nur in der Musik, aber auch den Outfits und generellen Images manifestiert. Im Umkehrschluss ist der Druck nun hoch, ob diese Aktion nur ein nötiges Freischaufeln vom Punk zugunsten dahergekommen ist, oder ob Creeper von jetzt an bei jeder LP eine neue Identität annehmen – mit Sex, Death & The Infinite Void ist der erste Schritt dieser künstlerischen Wandelbarkeit jedenfalls vollzogen.
Wer also ein Fan ist von neuer Musik, die Einflüsse gekonnt in einer Mini-Rockoper bündelt, sollte sich das äußerst kurzweilige Zweitwerk von Creeper zu Gemüte führen. Außerhalb des Albumkontexts können Lieder stark übertrieben wirken, was die Hörerfahrung zu einem geschlossenen Werk macht, das in sich schlüssig und mitreißend ist. Und ob die Band Rou Reynolds‘ Ratschlag des Weirdseins gefolgt ist, dürfte man jetzt auch klar beantworten können. 2020 steht eine neue Ära für das Sextett an, und es wäre eine große Überraschung, wenn diese Entwicklung nicht noch Folgegenerationen an Künstlern im UK-Rock-Genre beeinflussen würde.
Label: Warner Music
VÖ: 31.07.2020Genre: Alternative Rock, Glam, Emo, Goth
Vergleichbar:
Roy Orbison – Oh, Pretty Woman
My Chemical Romance – The Black ParadeWertung:
13/15