Düsterer Sprechgesang, halbnackte Astralkörper und Pyromanie: Rammstein betreten 1995 mit ihrem ersten Album Herzeleid eine ihnen damals noch unerforschte Welt der Meinungsfreiheit und Schockästhetik. Aus dem Untergrund der DDR geboren ist das Sextett im Gegensatz zu heute zunächst Gesprächsstoff wegen seiner feurigen Liveauftritte, die letztendlich die Verkaufszahlen höher treiben als die Albumpromo selbst. Eine Reise zu den Anfängen des unnachahmlichen Neue-Deutsche-Härte Sounds der Berliner im neuen HD-Gewand.
Wo Herzeleid im Vergleich zu anderen Rammstein Alben produktionstechnisch ein wenig an Druck verloren hat, ist diese Remaster-Version quasi wie ein verspätetes Ass im Ärmel, um alten und neuen Fans die Ursprünge der Band gleichermaßen schmackhaft zu machen. In einem insgesamt klareren Klangbild springen dem Zuhörer ulkige Synthesizer mehr entgegen, das Schlagzeug peitscht transparent nach vorn, und auch die Gitarrenarbeit ist transparenter. Ein Beispiel für das Klangupdate findet sich auf dem testosteronbeladenen Das alte Leid. Das fast sechsminütige Stück schleppt sich müßig von Takt zu Takt, und wendet sich ab der Hälfte zum wohl sperrigsten Gitarrensolo der Banddiskographie, ehe das Lied final im Kinderweinen erstickt.
Schon in den Anfangstagen war das Rezept für Schock mit Thematiken wie Abtreibung, expliziter Beschreibung sexueller Handlungen oder Fantasien zum Tod bereits ausgereift. Bevor das Sextett später auf Sehnsucht seiner Kreativität und Affinität zu Christian „Flake“ Lorenz‘ Keyboards mehr Raum gibt, ist das Debüt im Kontrast eine Anomalie aufgrund der stumpfen Kraft, die in knapp 50 Minuten nicht nachzulassen scheint. Im Kontext harter Musik ist das Album nebenbei auch ein bezeichnender Meilenstein, da es zeitgleich einen Anfangspunkt für harte deutsche Musik im Radio wie auch die Einzigartigkeit des Projekts erschuf.
Produzent Jacob Hellner schuf auf Herzeleid letztlich eine Dampfwalze, dessen Können und Wucht auf Folgealben noch glänzen würde. Als absolutes Highlight gilt immer noch Fanfavorit Du riechst so gut, welcher sich nun noch breiter auf beide Ohren verteilt und allen Instrumenten mehr Raum für Fausthiebe verleiht. Es ist wohl unmöglich zu sagen, wie viele unzählige Musiker von diesem Album als auch dem späteren Werk Rammsteins beeinflusst worden sind, aber eines ist klar: Herzeleid war das verbotene Rezeptbuch, das auf Sehnsucht noch vulgärer fortgeführt wurde. Der markante Gitarrensound von Richard Kruspe und Paul Landers, den man nun von riesigen Bühnen kennt, dominiert das Hörvergnügen. Wenngleich man der Gruppe hier ihre Naivität bei der Aufnahme anhört (Rammstein), spielen ihnen simple Kompositionen insgesamt eher zu als komplexe – und hämmern so drauf, wie Lindemann es auf seinem Oberschenkel bei Performances zu tun pflegt.
Herzeleid ist demnach auch noch ein Vierteljahrhundert nach seiner Veröffentlichung ein gefühlt verbotener Entwurf zum Sound einer Band, die angesichts ihrer Selbstdarstellung auch nie hätte berühmt werden können. Aber dem ist nicht so, und es scheint, als dürfe man sich schon bald auf neues Material der Gruppe freuen, die sich in den letzten Monaten mit unfertigen Songs beschäftigt hat. In diesem Sinne wird das alte Leid der Band wohl noch mehrere Generationen weitergetragen.
Label: Vertigo
VÖ: 04.12.2020Genre: Neue Deutsche Härte
Vergleichbar:
Kraftwerk – Autobahn
Ministry – Filth PigWertung:
13/15