Jahresrückblick 2020: Wie die Corona-Pandemie die Livemusik-Branche verändert hat – und wie es 2021 weitergeht

2020 war für die Livemusik-Branche ein Jahr zum Vergessen. Nach zweieinhalb Monaten regulärem Betrieb muss aufgrund des ersten Lockdowns alles heruntergefahren werden. Nachdem im Sommer immerhin Konzerte mit Hygienekonzepten möglich werden, herrscht Mitte Dezember die gleiche Situation wie neun Monate zuvor. Wir haben mit Hendrik Seipel-Rotter, Presse- und PR-Verantwortlicher des Schlachthof Wiesbaden, Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Melanie Wald-Fuhrmann vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und The Hirsch Effekt-Frontmann Nils Wittrock über die vergangenen Monate sowie die derzeitige Situation gesprochen.

Es hätte so schön werden können. Kummer, Kvelertak, Itchy oder das HipHop-Festival Tapefabrik – die für Mitte bis Ende März geplanten Veranstaltungen im Wiesbadener Schlachthof lesen sich heute wie Fragmente aus einer anderen Welt. Durchgeführt werden kann keines der Konzerte. Während das Social-Media-Team des hessischen Kulturzentrums am 11. März noch verlauten lässt, dass es davon ausgeht, „dass in den nächsten Tagen das zuständige Wiesbadener Gesundheitsamt Veranstaltungen ab 1.000 Personen verbieten wird“, muss es nur einen Tag später vollständig schließen – was bis auf ein paar Konzerte und Lesungen im Herbst unter strengen Hygieneauflagen bis heute anhält. „Eine Schocksituation“ nennt Hendrik Seipel-Rotter, beim Schlachthof zuständig für Presse und PR, die zweite vollständige März-Woche, als er in unserem Interview Ende November darauf angesprochen wird. Doch die sich am Anfang schnell entwickelnde Corona-Pandemie lässt den Verantwortlichen keine Zeit zum Trauern, wie Seipel-Rotter erzählt: „Dieser Schock hat dann vielleicht eine Woche angehalten und dann haben wir uns mit der Situation, wie sie eben war, arrangiert. Wir haben gleich am Anfang relativ viel zu tun gehabt, weil wir ja aus dem komplett laufenden Programm von 100 auf 0 Prozent gefahren sind, was vor allem für unser Booking und unsere Öffentlichkeitsarbeit viel Arbeit bedeutet hat, weil wir Veranstaltungen absagen mussten, was vor allem Märkte, Partys und Slams betroffen hat.“
Ein Großteil der Konzerte kann glücklicherweise verlegt werden – zunächst in den folgenden Herbst, dann in den Frühling 2021 und mittlerweile werden manche Shows zum bereits dritten Mal „angefasst“ – wie Seipel-Rotter es nennt – und in den Herbst 2021 verlegt. Neben der Arbeit, die durch das Absagen und Verschiebungen von Veranstaltungen anfällt, werden sich die Verantwortlichen des Schlachthofs jedoch auch ihrer Rolle als leerstehendes Kulturzentrum in der Krise bewusst, wie Seipel-Rotter erklärt: „Kurz nach dem Veranstaltungsverbot und dem Überstehen der ersten Schocksituation haben wir uns Gedanken gemacht, welche Aufgaben Kultur und der Schlachthof in einer Krise übernehmen können, wenn keine Veranstaltungen durchgeführt werden können. Wir haben unsere Halle dann der Stadt Wiesbaden zur Verfügung gestellt. Das Amt für soziale Arbeit hat die Halle genutzt, wir haben sie verschiedenen Initiativen und Vereinen zur Verfügung gestellt und der Ortsbeirat sowie der Wiesbadener Kulturbeirat und der Arbeitskreis Stadtkultur haben bei uns getagt. Unsere Backstage-Räume im Kesselhaus haben wir wiederum dem Arbeiter-Samariter-Bund zur Verfügung gestellt, da ist seit Ende März eine vollständige Rettungswache drin, die von dort Einsätze in ganz Wiesbaden fährt.“
Bis zum Sommer tritt der Schlachthof zudem ein weiteres Mal in Erscheinung. Nur vier Wochen nach Beginn der Einschränkungen des öffentlichen Lebens startet das Kulturzentrum via Startnext eine Spendenkampagne. Innerhalb von vier Wochen kommen 155.000€ zusammen, wovon aus Solidaritätsgründen 10% jeweils zur Hälfte an das Bündnis Seebrücke und an Frauen helfen Frauen, Anlaufstelle für von Gewalt betroffene Frauen in Wiesbaden, weitergegeben werden. „Wir finanzieren uns im Regelbetrieb zu 95% selbst und erhalten fünf Prozent Förderung von Stadt und Land“, klärt Seipel-Rotter auf. „Diese Förderung erhalten wir auch weiterhin, auch wenn wir keine Veranstaltungen machen. Wir haben außerdem diverse Förderanträge gestellt. Bei Bund, Land und der Stadt Wiesbaden.“ Darüber hinaus beteiligt sich der Schlachthof während des ersten Lockdowns an dem Live-Streaming-Projekt United We Stream Rhein Main. „Verschiedene Clubs haben sich dabei zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Streaming-Programm über alle Facebook-Kanäle der einzelnen Clubs auszuspielen“, berichtet Seipel-Rotter über den Hintergrund der Plattform. „Hier können zwar keine Einnahmen erzielt werden, aber es gelingt den Clubs sichtbar zu bleiben und Akzente zu setzen. Teilnehmen konnten wir hier auch dank einer Förderung durch das Kulturamt Wiesbaden.“
Das Beispiel des Schlachthofs Wiesbaden verdeutlicht also: Auch wenn sämtliche Veranstaltungen nicht durchgeführt werden können, braucht es dank der Möglichkeiten des Internets und eines breit gefassten Solidaritätsgedanken mehr als eine weltweite Pandemie, um Kultur zum Schweigen zu bringen.

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Gleiches gilt auch für Musik an sich. Während hierzulande Veranstaltungen erst seit zwei Tagen untersagt sind, sind die sozialen Medien rund um das zweite März-Wochenende vom 13. bis 15. März – anschließend müssen auch Kneipen und Restaurants schließen – von auf Balkonen singenden, in Italien lebenden Menschen dominiert. Das südeuropäische Land ist in Europa als erstes Land stärker vom Coronavirus betroffen, sodass dort bereits die Isolation gilt, während in Deutschland noch die Kneipen gut gefüllt sind. Auch Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann wird erst durch die Medienberichte „über balkonsingende Italiener“ bewusst, dass das Coronavirus unsere Rezeption von Musik verändern könnte. Wald-Fuhrmann ist Direktorin der Abteilung Musik des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main und hat sich in ihren Forschungen bereits vor der Corona-Pandemie mit der Frage auseinandergesetzt, ob Musik wie andere Kunstformen auch nur ein Luxusprodukt ist. „Aufgrund dessen, was ich von der Musikgeschichte weiß, würde ich sagen, dass Musik eben kein ausschließliches Luxusprodukt ist, sondern durchaus auch ein Mittel, mit dem Menschen ihre ganz grundsätzlichen Fragen und Probleme bearbeiten“, beantwortet sie diese Frage in unserem Interview. „Insofern ist Musik gerade etwas, was in Zeiten von Not, Mangel, Krise und Anfechtungen eine vielleicht sogar größere Rolle spielt.“
Durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und das Gebot zum Abstandhalten etablieren sich im Frühling andere Formen eines Konzertes, wie wir es vor der Corona-Pandemie gewohnt waren. Als mitunter erster Künstler spielt Rapper Alligatoah Ende April ein Konzert in einem Autokino. Die in Düsseldorf stattfindende Show wird via Arte Concert auch auf YouTube übertragen. Es folgen vornehmlich Rapper wie Sido, Fatoni oder Die Orsons, die die 1933 in den USA erfundene Variante eines Freiluftkinos für die risikofreie Durchführung eines Musikkonzerts nutzen. Noch schneller etabliert sich vorher die Art des im Internet (teilweise) gegen Entgelt übertragenen Streaming-Konzertes. So spielt die US-Hardcore-Formation Code Orange bereits Mitte März notgedrungen ein Live-Konzert mit voller Bühnenproduktion in einer leerstehenden Venue, bevor Kvelertak rund einen Monat später ein eigens dafür geplantes Streaming-Konzert gegen Almosen ins Internet übertragen. Wie ein perfektes Livestream-Konzert auszusehen hat, liegt dabei im Auge des Betrachters. Während der einen Person ein reduziertes Akustikset von Biffy-Clyro-Frontmann Simon Neil gegen die Einsamkeit reicht, nährt sich eine andere Person noch Tage später an der üppigen Produktion der Architects in der Londoner Royal Albert Hall.
Zu den Musikhörformaten der Krise hat das Max-Planck-Institut eine Umfrage durchgeführt, die einen Gewinner hervorgebracht hat, wie Wald-Fuhrmann erzählt: „Das Tolle am Internet ist ja, dass alles immer zu jeder Zeit da und verfügbar ist. Jemand führt etwas auf, stellt es ins Netz und dann ist das für immer da und ich kann es mir, wann immer und wo immer ich will, anhören. Ein Livestream, der hinterher nicht dauerhaft ins Internet gestellt wird, unterläuft das indes bewusst, weil er künstlich die Verfügbarkeit verknappt. Unsere eigenen Umfragedaten zeigen, dass der Livestream eine Art Gewinner im Kontext der Musikhörformate der Krise ist. Es scheint mir, dass das daran liegt, weil er etwas entweder nur suggeriert oder vielleicht tatsächlich auch ermöglicht, was das Konzert auszeichnet, nämlich dass Menschen gleichzeitig etwas Erleben in Bezug auf Musik. Und dass Musiker*innen wissen, ihnen wird jetzt gerade auch zugehört.“

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In die Umfrage noch nicht eingeflossen sind die über den Sommer und teilweise bis in den Herbst hinein veranstalteten Konzerte mit Hygienekonzept. Solche Shows hat unter anderem die Berliner Booking-Agentur Landstreicher Booking unter dem Namen „Picknick Konzerte“ von Ende Juli bis Mitte September in Dresden, Leipzig, Münster, Berlin und Köln veranstaltet. Vor einem auf einzelnen Picknickdecken und mit genug Abstand zueinander platzierten Publikum sind dabei Künstler*innen wie Thees Uhlmann, Faber, Giant Rooks, Provinz, Mine, Milky Chance, aber auch internationale Größen wie Mando Diao aufgetreten. Thees Uhlmann ist Anfang September auch im Schlachthof zu Gast gewesen, jedoch in der Halle des Kulturzentrums. Dort finden normalerweise 2.400 Besucher Platz – dieses Mal aus gegebenen Gründen jedoch nur 250. „Für unsere Konzertreihe Bienvenue trotz Pandemie haben wir ein solides Hygienekonzept entwickelt“, berichtet Hendrik Seipel-Rotter. „Kontaktlos bezahlen, kontaktloses Scannen, ein smartes Vorverkaufssystem, das schon beim Kauf die notwendigen Abstände einhält und verschiedene Gruppengrößen zulässt. Dazu die Möglichkeit sich die Hände desinfizieren zu können und eine gute Lüftungsanlage. Als Wiesbaden auf Grund erhöhter Fallzahlen nur noch Veranstaltungen bis 50 Personen erlaubte, haben wir mit diesem Konzept eine Sondergenehmigung für 250 Personen bekommen. Und trotzdem: Planungssicherheit gibt es nicht. Was gestern galt kann morgen schon obsolet sein. Trotz Genehmigung mussten wir die Veranstaltungen im November wieder einstellen.“
Gleichzeitig macht er aber auch klar, dass der Schlachthof mit dazu beitragen will, „dass die Kontaktzahlen sinken, damit für die Menschen, die dringend Hilfe brauchen auch noch genug Kapazitäten in den Krankenhäusern zur Verfügung stehen. Aber es ist wichtig, dass die kulturelle Infrastruktur erhalten bleibt, damit wir und die vielen anderen Veranstalter*innen und Kulturschaffenden wieder an den Start gehen können, wenn wir wieder loslegen können.“ Dafür macht sich auch das Bündnis #AlarmstufeRot stark. Gegründet wurde dies von den „einflussreichsten Initiativen und Verbände[n] der deutschen Veranstaltungswirtschaft“, wie es auf der Webseite heißt. Auf dieser stellt das Bündnis zudem seine Forderungen dar, die auch auf zahlreichen Demos in diesem Jahr gestellt worden sind. Auch der Schlachthof Wiesbaden hat sich dafür stark gemacht, wie Seipel-Rotter ausführt: „Wir sind zu den Demos gegangen, weil wir wollen, dass die Branche gesehen und wahrgenommen wird. Alle Veranstalter*innen gehen dieses Konzept mit und sind bereit, gute Hygienekonzepte zu erarbeiten und unterstützen das. Auf den Demos ist auch niemand ohne Maske aufgetaucht und alle haben sich an den Abstand gehalten, da hat sich keiner danebenbenommen und die Richtlinien beachtet. Da kann man die Querdenker-Demos mal gegenüberstellen, das ist wie Tag und Nacht. Wir brauchen die Hilfe und wollen, dass die Infrastruktur erhalten bleibt und wenn das gewährleistet ist, gehen wir bei allen Maßnahmen mit und stemmen uns nicht dagegen.“

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Wie sieht es auf Seite der Künstler*innen aus? Nimmt man solche Konzerte mit Hygienekonzept dankend entgegen, wenn man monatelang höchstens gemeinsam im Proberaum musizieren konnte? Oder wartet man bei der fehlenden Aussicht auf schwitzige Moshpits und größere Menschenmengen lieber noch etwas länger, bis man wieder als Livemusiker*in in Erscheinung tritt? Zu den Künstler*innen und Bands, die in diesem Jahr Picknick-Konzerte, Corona-Konzerte, Konzerte mit Hygienekonzept oder wie auch immer man diese Gattung der Liveshows nennen möchte, gespielt haben, zählt auch die Hannoveraner Mathcore-Band The Hirsch Effekt. „Es ist einfach irgendwie anders gewesen“, fasst Sänger und Gitarrist Nils Wittrock das eigene Erleben dieser Konzerte zusammen, die für das Trio zugleich die ersten Konzerte seit dem Erscheinen des fünften Albums Kollaps im Mai gewesen sind. „Diese Corona-Tour ist ja schon eine Art Release-Tour gewesen, aber dadurch, dass sie wegen der Umstände so besonders war, weil das Publikum sitzt und Abstände beachtet werden müssen, fühlte sich das jetzt nicht wie eine normale Release-Tour an, auch wenn es schön war, wieder Konzerte zu spielen.“ Vor der ersten Show dieser „Corona-Rutsche“ habe für Wittrock und seine beiden Bandkollegen die besonderen Umstände dabei gar keine so große Rolle gespielt: „Wir hatten aufgrund von Corona und der Albumvorbereitung so lange nicht gespielt, dass wir vor dem ersten Konzert eher damit beschäftigt waren, alles richtig zu machen, was wir da spielen müssen. Bei den darauffolgenden Konzerten muss man das auch wieder zweiteilen, da gab’s einmal die Open-Air-Shows, da war es dann auch toll in so einem besonderen Ambiente und auf so großen Bühnen, auf denen wir normalerweise eher nicht spielen, aufzutreten. Da spielte es dann gar nicht so die große Rolle, dass das Publikum sitzt. Weil das auch während des Sommers war, hat das dann auch einfach Bock gemacht. Dann kamen die Konzerte drinnen und die waren dann wieder ein bisschen anders. Das war dann auch alles in der Zeit, in der die Infektionszahlen wieder gestiegen sind. Da ist uns dann auf jeden Fall auch etwas mulmig zumute geworden, weil das ja auch alles drinnen war.“
Das deckt sich auch mit den Aussagen von Hendrik Seipel-Rotter zum Erfolg der Indoor-Veranstaltungen, die im Schlachthof im Herbst mit einem Hygienekonzept durchgeführt werden konnten: „Die Veranstaltungen sind alle recht unterschiedlich gelaufen. Während die Auftritte von Thees Uhlmann und Mark Benecke beide ausverkauft waren, ist eine Veranstaltung wie Interstellar Overdrive nicht so gut gelaufen. Wir haben keine Umfrage gemacht, woran das liegt, ich könnte da also nur tippen und glaube, dass das damit zusammenhängt, ob sich die Leute bei uns in die Halle trauen oder nicht. Interstellar Overdrive locken ja eher ein Publikum im älteren Spektrum an. Das hat dann vielleicht auch weniger was mit uns als mit Indoor-Veranstaltungen im Allgemeinen zu tun. Und auch damit, dass die Politik relativ schnell angefangen hat, die Veranstaltungen wieder zu verbieten.“
Womit wir in der Realität angekommen wären. Lockdown, die mitunter höchsten Infektions- und Todeszahlen seit Beginn der Pandemie vor neun Monaten und eine ungewisse Zukunft, ab wann selbst Veranstaltungen mit einem ausgetüftelten Hygienekonzept wieder stattfinden können. „Wir haben ganz lange in Marburg mit der Veranstalterin des KFZ ein Gespräch geführt“, erinnert sich Nils Wittrock. „Der Club ist dort von der Stadt subventioniert und ein Kulturauftrag, also nicht so ganz frei am Markt. Als wir dort aufgetreten sind, sind die Leute dort alle gerade aus der Kurzarbeit zurückgekommen und branden alle darauf wieder was zu machen, haben sich ein Hygienekonzept überlegt und viel Aufwand darein gesteckt. Die Leute aus der Kulturbranche, nicht nur Bands, sondern auch Veranstalter*innen, geben mehr als man normalerweise so gibt. Das sieht man auch bei Festivals, wie viel Ehrenamtliche da auch bei angehaucht-kommerziellen Festivals tätig sind. Das ist einfach eine Branche, in der sehr viel Herzblut drinsteckt und in der im Endeffekt nicht auf den Stundenlohn geschaut wird. Da wird viel mit Tagessätzen oder einfach auch über das normale Arbeitspensum hinaus gearbeitet. Mit dieser Einstellung haben die diese Corona-Konzerte auf die Beine gestellt. Das sind jetzt nicht einfach Konzerte, bei denen gesagt wird, dass gesessen statt gestanden wird, sondern das wird alles neu gebucht, das sind ganz andere Deals und ganz andere Bedingungen. Das wird alles verlegt und umgebucht“, so der Frontmann. „Dann guckt man, was man auf diese Art und Weise doch noch umsetzen kann, so war es bei unserem Konzert auch, das hätte eigentlich an einem anderen Datum unter anderen Voraussetzungen stattfinden sollen. Dieses Konzept konnten die jetzt sechs Wochen lang durchführen und jetzt wird das wieder komplett eingestampft. Die hätten bis Weihnachten eigentlich ein volles Programm gehabt. Da steckt sich auch wirklich keiner an. Das ist eine 1.000er Halle, in die 100 Leute reingelassen werden, die Lüftungsanlage läuft auf Vollgas und jede/r wird zum Platz begleitet, da wird überall auf Abstand gehalten. Aber was passiert? Es ist jetzt doch erstmal alles verboten und ich bin mir nicht sicher, ob diese Leute jetzt sagen, ‘ja okay, wir machen das jetzt nächstes Jahr nochmal von vorne. Wir planen das jetzt nochmal und gucken ob wir dürfen, wenn nicht, lassen wir es halt wieder sein‘. Ich stell‘ mir eher vor, dass diese Leute es dann genauso lassen und warten bis wieder richtige Konzerte möglich sind und sich denken, ‘diesen Aufwand, ohne zu wissen ob wir das machen können und die Gefahr, dass wir die Ersten sind, die man wieder dicht macht, ist uns zu groß‘.“
„Wir haben jetzt festgestellt, dass man sich – wofür man die Politik aber auch kaum für verantwortlich machen kann – auf feste Veranstaltungszahlen nicht verlassen kann“, führt Seipel-Rotter diesen Gedankengang fort. „Wir haben ein Hygienekonzept und eine Genehmigung zur Veranstaltungsdurchführung durchgesetzt bekommen, mussten dann aber trotzdem die Veranstaltungen durch den zweiten Lockdown wieder absagen. Dabei hatten wir auf Grund des Auf- und Ab ohnehin darüber nachgedacht, wie wir ein Rollup-Konzept erstellen können, das Veranstaltungsverbote leichter kompensieren könnte als fest gebuchte Konzerte. Das Konzept heißt Trinkhalle. Kleine feine Highlights mit Biergartenbestuhlung in der Halle. Damit wollten wir eigentlich Anfang November schon an den Start gehen, was aufgrund des Lockdowns jetzt nicht ging. Wenn der vorbei ist, werden wir damit aber an den Start gehen, weil diese Veranstaltungen leichter zu- und abzusagen sind. Bei einem gebuchten Konzert mit Künstler*innen ist es sehr aufwendig, verlegen oder absagen zu müssen.“
Auch wenn die für den November und Dezember geplanten Veranstaltungen nachgeholt werden sollen, klingt das doch eher nach einer Notlösung, festigt aber auch die Feststellung vom Anfang dieses Artikels, dass Kultur nur schwer zum Schweigen gebracht werden kann.

Doch was bleibt am Ende von diesem für die Livemusik- und Kulturbranche fürchterlichen Jahr? Was nimmt man als Band mit, wenn man unter den gänzlich schlechtesten Vorzeichen ein neues Album veröffentlicht und nur einige wenige Konzerte spielen kann, bei denen zudem nur schwer Emotionen durch das Publikum herausgefiltert werden können? „Ich habe ziemlich stark den Eindruck, dass uns als Bandmitgliedern nochmal klargeworden ist, wie wichtig uns das Musikmachen an sich ist, ohne die ganzen finanziellen Aspekte“, antwortet Nils Wittrock. „Ich habe richtig gemerkt, dass es bei meinen Kollegen und vor allem bei Ilja [Lappin, Bassist] als Berufsmusiker – ich glaube ich kann das jetzt so sagen – total identitätsstiftend ist, auf die Bühne zu gehen. Da ist man auch nochmal ein bisschen geerdet worden, dass auch unabhängig von dem finanziellen Aspekt zu sehen.“
Für Kulturzentren wie den Schlachthof ein unmögliches Unterfangen. Dennoch siegt am Ende des Interviews mit Hendrik Seipel-Rotter die Hoffnung: „Auch wenn der Vorverkauf um 90% eingebrochen ist, bei neuangekündigten Konzerten für Ende 2021 werden noch Karten verkauft. Das ist doch ein gutes Zeichen. Und klar, wir sind gerade im Lockdown. Es wird also noch ein bisschen dauern. Aber es wird irgendwann wieder große Konzerte geben. Und sobald die Corona-Krise vorbei ist, werden wir zusammen die Party des Jahrtausends feiern.“
Doch wie sieht eigentlich dieses in 2020 oft herbeigesehnte Danach aus? Wird sofort alles wie vor der Pandemie oder müssen wir lernen, uns Schritt für Schritt nach Monaten oder gar Jahren der Einschränkung wieder mit dem öffentlichen Leben, wie wir es kannten, vertraut zu machen? „Der Mensch vergisst ja auch gerne wieder“, schließt Melanie Wald-Fuhrmann. „Was uns im Moment noch wichtig und präsent erscheint, davon ist dann wahrscheinlich in zwei Jahren nicht mehr die Rede. Ich könnte mir vorstellen, dass es, wenn die Konzerte wieder losgehen, eine gewisse Zeit gibt, in der die Menschen noch ein bisschen vorsichtig miteinander umgehen. Aber spätestens, wenn die große Mehrheit geimpft sein wird, wird sich das sicher auch schnell wieder normalisieren. Man hat ja im Sommer schon gesehen, wie eng die Leute in Parks zusammengegluckt haben. Viel Angst scheint da ja nicht mehr vorhanden gewesen zu sein, das wird dann auch im Konzert nicht anders sein.“