Review: Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt

Kettcar bitten zum sechsten Mal zwischen die Stühle – zwischen Aufgeben und Bengalos, Werk und Autor, Rügen und die Zähne von Darth Vader.

Für einfache Wahrheiten sind Kettcar nicht angetreten, als sie sich 2001 in Hamburg gegründet haben, eher um dem deutschsprachigen Indierock beizubringen, Widersprüchlichkeit auszuhalten. Sie haben es seziert, das eigene kleine Leben, von den Erinnerungssplittern bis zur Bikilinie und drüber hinaus, nur um allen, die es sich in ihrem eigenen zu bequem gemacht haben, ein widerborstiges Album wie Sylt vor den Latz zu knallen. Auf Gute Laune ungerecht verteilt bringen sie das alles zusammen, die Herz-auf-der-Zunge-Frühphase und den messerscharfen Blick auf den politischen Zeitgeist, der bereits den Vorgänger Ich vs. Wir (2017) ausgezeichnet hat. „Mittelmeer, Massengrab/So traurig hier/Zynisch da/First-defense-Konferenzen/Zäune bauen/Hoch die Grenzen/Kleingeister verachten/Bilder abgestumpft betrachten“, bringt Marcus Wiebusch in bester Stream-Of-Consciousness-Manier die Überforderung angesichts des täglichen Bad-News-Dauerfeuer im Opener Auch für mich 6. Stunde zum Ausdruck. Aber, und das ist sinnbildlich für die zwölf Songs auf Gute Laune ungerecht verteilt, am Ende brennt es dann doch: das Bengalo in der Nacht. Ob in der Klassenutopie Doug & Florence, in Einkaufen in Zeiten des Krieges („Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen“) oder Was wir sehen wollten, irgendwo lauert immer ein leises Aufbäumen, die Faust in der Tasche, die Erkenntnis zum Schluss, dass man weitermachen muss.  Wenn Wiebusch im abschließenden Ein Brief meines 20jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter) an sich selbst adressiert: „In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen/In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan/Den Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht/Seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich“, gehört das zu den berührendsten, klügsten und ehrlichsten Schlag-mir-in-die-Magengrube-Zeilen, die er je geschrieben hat.

Nicht nur deshalb dürften zahlreiche deutschsprachige Bands Kettcar um ihr überdurchschnittlich talentiertes Textgespann aus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff beneiden, von denen der eine mit Kanye in Bayreuth die komplexe Debatte um die Trennung zwischen Werk & Künstler*in in einen drei-Minuten-Song übersetzt, während Bustorff mit München gelingt, was sein Bandkollege mit Der Tag wird kommen und Sommer 89 (er schnitt Löcher in den Zaun) geschafft hat: Eine Erzählung, die das Private mit dem Politischen verbindet, und so eine enorme Sprengkraft entfacht: „Vielleicht wärst du auch ein Opfer der NSU/ Vielleicht wärst du auch ein Opfer der Polizei/ Vielleicht wärst du auch ein Opfer der Justiz/ Und man würde fragen:/ ‚Wo wurde der denn geboren?’“ Musikalisch umgesetzt mit Post-Punk und Gastbeitrag von Chris Hell von Fjørt bleibt es der einzige Splitter in einem Album, das sich musikalisch zu sehr in seiner glatten Haut gefällt. Seit Zwischen den Runden (2012) heißt die Regel hanseatischer Heartlandrock, an dem das Überraschendste ist, mit welcher Konsequenz Kettcar daran festhalten, die deutschen The War On Drugs werden zu wollen. Ihre stärkste Platte seit mindestens 15 Jahren bleibt Gute Laune ungerecht verteilt trotzdem.

Label: Grand Hotel Van Cleef/Indigo

VÖ: 05.04.2024

Genre: Indierock

Vergleichbar:
Blumfeld – Old Nobody
Herrenmagazin – Sippenhaft

Wertung:
12/15