Releaserodeo November 2023: Spiritbox, Psychedelic Porn Crumpets, Tränen, Spidergawd, All diese Gewalt & Kora Winter

Spiritbox – The Fear Of Fear (Label: Rise/VÖ: 03.11.)
Mit sechs Songs ist The Fear Of Fear auf dem Papier eine EP, die Lauflänge von 25 Minuten gleicht allerdings eher der eines Minialbums, als das die Platte auch im Pressetext bezeichnet wird. The Fear Of Fear folgt auf die 2022 veröffentlichte Drei-Song-EP Rotoscope und erscheint zwei Jahre nach dem Debütalbum Eternal Blue, dem das halbe Dutzend Songs qualitativ in nichts nachsteht. Soundtechnisch bewegt sich das Minialbum zwischen den Polen metallisch-rockend und brachiale Härte, zwischen denen sich Spiritbox seit ihrer Gründung bewegen. Der Opener Cellar Door täuscht erst elektronische Sounds an, bevor er in rasendes Geballer ausbricht, das sich anschließend dem brutalen Geschrei von Frontfrau Courtney LaPlante unterordnet, bevor der Song im weiteren Verlauf an Groove gewinnt. In der Bridge baut sich das Stück klasse auf, bevor Spiritbox einen ihrer bis dato härtesten Songs mit einem ihrer bislang härtesten Breakdowns beenden. Das folgende Jaded kommt dank eingängiger Riffs und deutlich mehr Klargesang sowie eines Ohrwurmrefrains zugänglicher daher und in Too Close / Too Late verzichtet LaPlante sogar gänzlich auf gutturalen Gesang. Angel Eyes zieht Tempo und Härte nochmal deutlich an, ehe mit The Void ein weiterer Metalrock-Ohrwurm folgt. In die gleiche Kerbe schlägt das abschließende Ultraviolet, welches das Minialbum zudem mit pluckernden elektronischen Sounds beschließt. The Fear Of Fear ist ein weiterer Beweis dafür, dass Spiritbox zu den aktuell besten Metalcore-Bands zählen. Das findet zunehmend auch außerhalb des Genres Anerkennung, wie der nur fünf Tage nach The Fear Of Fear veröffentlichte Rock Remix von Cobra von Megan Thee Stallion in Zusammenarbeit mit den Kanadier*innen beweist.

Tränen – Haare eines Hundes (Label: Eklat/VÖ: 03.11.)
Mit Haare eines Hundes veröffentlicht das aus Kraftklub-Gitarrist Steffen Israel und Sängerin Gwen Dolyn, die seit 2020 Popsongs mit Punk-Attitüde veröffentlicht, bestehende Duo sein Debütalbum. Das ist im Studio von Produzent Simon Freidhöfer entstanden und musikalisch der Neuen Neuen Deutschen Welle zuzuordnen, während die Texte mal an Wir sind Helden, mal an Hans-A-Plast und dann wieder an Ideal erinnern. Während sich Gwen Dolyn beim melancholischen Opener Es ist nicht wie es aussieht lyrisch hinter einem schwermütigen Schleier versteckt, verhandelt sie im tanzbaren Stures dummes Herz Liebe und den Wunsch, glücklich zu sein, angenehm kitschfrei. Das reduzierte Kapitulation drückt sich textlich dagegen laut und unmissverständlich feministisch aus: „Bin ich eine Radikale/ Weil ich leben will und gern‘ die Wahl hab/ Bin ich eine Radikale/ Weil ich Mädchen glaub‘ und es ist wahr“. Mit Duell der Letzten gibt es eine dank Drum Machine und Synthesizern tanzbare Neuinterpretation des Deutschpunk-Klassikers von Chaos Z, ehe Zu alt geboren flächige Synthesizer auffährt. Dass an The Cure erinnernde Schießen lernen pendelt lyrisch zwischen Ermächtigung und dem Thematisieren von Ängsten weiblich gelesener Personen im Alltag: „Ich lerne schießen/ Weil ich ohne Waffe Angst hab’/ Ich geh nachts raus und ich bin laut“. Das gitarrenlastigere Alte Wunden ist ein Werwolf-Song der etwas anderen Art, bevor sich in Mitten ins Gesicht alles entlädt, was sich in den vorherigen neun Songs lyrisch aufgestaut hat: „Mein Zorn ist nicht bequem/ Meine Gefühle sind nicht schicklich/ Brülle und ich schrei’/ Damit ich nicht im Schmerz ertrink’/ Meine Waffe ist Verletzlichkeit/ Ich zeig dir was ich fühl/ Seh‘ nicht schön dabei aus/ Aber das ist alles for real“. Das sich kathartisch aufschwingende Was bleibt beendet ein tolles Debütalbum nach gerade einmal 28 Minuten, in denen Tränen zu einem zackigen, verträumten und dennoch harmonischen Sound finden.

All diese Gewalt – Alles ist nur Übergang (Label: Glitterhouse/VÖ: 10.11.)
Hatten Die Nerven bei ihrem im vergangenen Jahr veröffentlichten herausragenden fünften Album den jahrelang auf ihren Texten liegenden Schleier abgezogen, zieht ihr Sänger und Gitarrist Max Rieger auf dem vierten Album seines Soloprojekts diesen wieder auf. Alles ist nur Übergang sei während des dritten Corona-Lockdowns im Winter 2021 in kürzester Zeit aus ihm herausgeflossen, so Rieger. Das erklärt die oftmals wie Gedankenfetzen wirkenden Texte, für die sich Rieger von christlichen Texten und alten Gesangsbüchern hat inspirieren lassen. Songtitel wie Ich bin das Licht oder Zu staub werden sind daher selbsterklärend. Im pulsierenden und besten Song Ab ab ab singt Rieger zu einem an Die Nerven erinnernden Rocksound zunächst manisch von der Abmontierung, ehe er am Ende zu einem träumerischen Sound gelöst klingt: „Ich bin immer noch hier/ Das Schlimmste hinter mir/ Sonne im Gesicht und etwas neben mir“. Insgesamt klingt sein Singer/Songwriter-Artpop so organisch wie nie zuvor und immer wieder beweist Rieger sein starkes Dramaturgiegespür. In Zu staub werden setzt er etwa zum Refrain immer wieder zum Crescendo an und auch Ich bin das Licht wird mit flächigen Synthesizern in der zweiten Hälfte deutlich lauter. So leicht und den abschließenden Titeltrack begleitet Rieger dagegen am Klavier, während Etwas fehlt am Ende von einer Klarinette veredelt wird. Vor allem zeigt sich der Songwriter, Sänger und Produzent aber als Meister des Zusammenbauens elektronischer Soundscapes, die mal atmosphärisch dicht (Beleuchtete Höhle) und dann dank pochender Beats wieder nuanciert ausfallen (21 Gramm).

Psychedelic Porn Crumpets – Fronzoli (Label: What Reality?/VÖ: 10.11.)
Fronzoli ist bereits das sechste Album der 2014 im australischen Perth gegründeten Psychedelic-Rock-Band. Die hatte Frontmann Jack McEwan zunächst im Rahmen seines Studiums erfunden, mit dem 2016 und 2017 erschienenen Doppel-Debüt High Visceral fand er aber schließlich Spaß am sich zwischen Pop und Metal bewegenden Psych-Rock. Nur 2018 und 2020 gab es kein neues Album des Quintetts. Das liefert auch auf Fronzoli wie gewohnt ab, insgesamt lassen es Psychedelic Porn Crumpets nun aber auch zunehmend etwas ruhiger angehen. Vorher gibt es im quatschig betitelten Opener Nootmare (K.I.L.L.I.N.G) Meow! aber den gewohnten Wahnsinn in Form dicker Psych-Rock-Gitarren, fast proggiger Rhythmusspielereien, 8-Bit-Sounds und einer an King Gizzard & The Lizard Wizard erinnernden Riff-Abfahrt. (I’m A Kadaver) Alakazam beginnt mit weirdem „Loop-de-loop“-Gesang, bevor Psychedelic Porn Crumpets den Song in zugänglichere Bahnen lenken. Dilemma Us From Evil macht es anschließend genau andersherum, ehe die Australier mit dem zurückgelehnten Cpt. Gravity Mouse Welcome ihrer Liebe für The Beatles frönen. All Aboard The S.S. Sinker tauscht den anfänglichen Groove für die letzten 50 Sekunden gegen Geballer ein und das mitreißende Hot! Heat! Wow! Hot! ist eine Meisterübung in Psychedelic Rock. Mit Illusions Of Grandeur gibt es sogar ein kurzes Akustikstück, ehe mit Pillhouse (Papa Moonshine) der vielleicht eingängigste Moment der Platte folgt. Das abschließende Mr & Mrs Misanthrope fährt die Band mit einem eingebauten Sample in der Songmitte kurz herunter, bevor sie den Song schleppend ins Ziel trägt. Die Spielfreude der Psychedelic Porn Crumpets ist noch immer unverkennbar, ihren jugendlichen Elan haben die Australier nach einem halben Dutzend Alben aber gegen ein gereifteres Songwriting eingetauscht. Das macht das zum Titel passend mit jeder Menge weirden Samples vollgestopfte Fronzoli (Firlefanz) zu keinem absoluten Highlight in ihrer Diskografie, aber zu einer weiteren gelungenen Platte.

Spidergawd – VII (Label: Crispin Glover/VÖ: 10.11.)
Spidergawd sind noch so eine super produktive Band, die mit ihrer bisherigen Diskografie Rockmusik entstaubt hat. Das schlicht betitelte VII ist das siebte Album seitdem Bassist Bent Sæther und Schlagzeuger Kenneth Kapstad Spidergawd 2013 als Nebenprojekt von Motorpsycho gegründet haben. Seit 2016 ist Sæther allerdings bei Spidergawd und Kapstad bei Motorpsycho raus und Spidergawd sind zur besten heutigen NWOBHM-Inkarnation herangereift. Auf VII hat das Quintett aus dem norwegischen Trondheim weiterhin einen Fuß auf dem Fuzz-Pedal, mit dem anderen wird zunehmend für die große Geste posiert, was ihnen aber ausgezeichnet steht. In den eröffnenden Sands Of Time und The Tower schwelgen Spidergawd im melancholischen Midtempo. Ansonsten ist alles beim alten: Sänger Per Borton und Brynjar Takle Ohr duellieren sich mit Doppel-Lead-Gitarren und das dröhnende Saxophon von Rolf Martin Snustad klingt wie eine dritte Gitarre. Mit dem flotten dritten Song Dinosaur lassen Spidergawd ihrer Spielfreude erstmals freien Lauf. Bored To Death wird von einem verführerischen Saxophon eingeleitet und nach dem schmissigen Refrain gibt’s ein großartig ausuferndes Gitarrensolo. Your Heritage ist ein unverschämt eingängiger Hit, ehe Spidergawd beim rasenden Afterburner mit dem zweiten Fuß erstmals auf dem Gaspedal stehen. Mit Anchor Song ist danach sogar noch Platz für einen klassischeren, aber nicht weniger druckvollen Hardrock-Song. VII ist eine Platte aus einem Guss, auch wenn man mittlerweile natürlich weiß, was man bei Spidergawd bekommt. Das soll ihre Leistung aber in keiner Weise schmälern.

Kora Winter – Gott segne, Gott bewahre (Label: Aufewigwinter/VÖ: 24.11.)
Mit seinem zweiten Album möchte das Quintett aus Berlin als erste deutschsprachige Metalband die Perspektive migrantisierter Personen sichtbar machen. Dabei wollen die Jugendfreunde nicht für alle Menschen mit Migrationshintergrund sprechen, aber „den Frust, die Anspannung und vererbte Traumata sichtbar machen, die Migras aus sämtlichen Ländern in Deutschland jeden Tag mit sich tragen, während wir genau wie alle anderen versuchen das Privileg anzuerkennen und zu nutzen, welches viele unserer Elterngenerationen uns gegeben haben“, so Sänger Hakan Halaç (Haxan). Am offensichtlichsten geschieht dies in den Songs Marmelade und Das Trauma, Die Trauer. In Ersterem heißt es „Bin ich hier geboren oder bin ich hier nur aufgewacht/ Einer gegen alle, alle gegen einen/ Staatsfeind Nummer Eins, ein Kanacke im Kleid“, während sich Halaç in Letzterem vom jahrelang aufgestauten Frust einer hierzulande marginalisierten Person befreit: „Ich bin das Leben meiner Eltern/ Das Ergebnis ihrer Welt/ Die Hoffnung, das Trauma, die Trauer“. Auf dem Nachfolger des 2019 veröffentlichten Debütalbums Bitter thematisieren Kora Winter aber auch toxische Männlichkeit. So heißt es in Marmelade „Ein Leben lang Ausreden, Gott segne den Mann“ und im von Selbstakzeptanz und dem Streben nach Authentizität handelnden Mann gegen Wand fragen die Berliner zusammen mit Gerrit Engel sowie Alex Kerski von der ebenfalls aus Berlin stammenden Metal-Band Vianova in Anlehnung an Herbert Grönemeyer „Wann ist ein Mann ein Mann?“ Gott segne, Gott bewahre ist ein wuchtiges Metal-Album, Kora Winter zeigen vor allem in den Refrains der Songs aber auch immer wieder, dass sie ein Gespür für Melodien besitzen. Einzig die „Jeder gegen jeden, alle gegen alle“-Thematik hätte die Band etwas subtiler unterbringen können.