Wir küren auch in diesem Jahr die 25 besten Alben des Jahres. Dafür haben wir in der Redaktion abgestimmt – herausgekommen ist ein bunter Strauß Alben, die unser breites Musikspektrum abdecken. Oder anders formuliert: viel Spaß mit einer Reise durch Metalcore, Alternative Rock, Hardcore, (Post-)Punk, Indie, Thrash Metal und vieles mehr.
25. Fall Out Boy – So Much (For) Stardust
Label: Fueled By Ramen/VÖ: 24.03.
Wer hätte gedacht, dass Fall Out Boy nach dem seelenlosen Electro-/Synth-Pop von Mania (2018) noch einmal zu ihren Wurzeln zurückkehren? Wir definitiv nicht. Umso größer war im Januar die Überraschung über Love From The Other Side, die erste Single-Auskopplung des achten Albums mit großspurigem Klavierintro, Streichern, druckvollen Gitarren und umwerfendem Stadionrefrain. So Much (For Stardust) überzeugt aber nicht nur dank seines großartigen Openers, sondern auch, weil Fall Out Boy Pop und Rock seit langer Zeit mal wieder genau richtig austarieren, was auch Produzent Neal Avron zu verdanken ist, mit dem die Band aus Wilmette, Illinois zuletzt auf Folie à Deux (2008) zusammengearbeitet hatte. Etwa in Heartbreak Feels So Good. In Heaven, Iowa zeigt sich die Band aus Wilmette, Illinois dagegen herrlich dramatisch, während das folgende So Good Right Now die Regenwolken wegtanzt. I Am My Own Muse ist dank langgezogenen Orchester-Intros und Queen-Moment in der Bridge ebenfalls ein Highlight einer nicht an Highlights mangelnden Platte. Die Melancholie von The Kintsugi Kid (Ten Years) weiß nur noch der finale Titeltrack mit berückendem Schlagzeugspiel zu überbieten. Ein starkes Finale eines durchweg gelungenen Albums und ein unverhofftes Highlight in 2023. – Jonathan Schütz
24. Captain Planet – Come On, Cat
Label: Zeitstrafe/VÖ: 08.09.
Keine halbe Minute dauert es, um zu wissen, dass das hier nicht schiefen gehen kann. Die beste deutschsprachige Emo-Punk-Band ist nach fünf Jahren zurück und sie haben sich, Gott sei Dank, dazu entschieden, weiter hibbelige Hymnen für Bierflaschenetikettenknibbler:innen zu schreiben. Die Grundpfeiler aus windschiefen Gitarren und Texten übers Hinfallen und Aufstehen sind 18 Jahre nach der Unterm Pflaster der Strand-EP noch dieselben, die Unterschiede liegen in den Feinheiten, etwa in von Jan Arne von Twisterns Gesang, der sich nicht nur überschlägt wie früher, sondern auch Zeit hat, um Gesangslinien zu finden, die nicht weit vom Pop entfernt sind. Mit Blick auf den aufgeräumt klingenden Vorgänger Ein Ende fällt Come On, Cat als Reaktionhingegen druckvoller aus. Textlich verfahren Captain Planet nach dem alten Prinzip: Melancholisch bis depressiv, aber nie peinlich. Zeilen, die auf Betonwände, an Kirchenmauern, auf die Haut gehören: „Das Nest, aus dem wir kommen/Kein Ort, an den wir glauben.“ In Neujahr tauchtsogar so etwas wie Hoffnung auf („Ab heute alles besser“). Was es für die Weltlage bedeutet, wenn jetzt auch Captain Planet mit Optimismus anfangen? Vermutlich nichts Gutes. – Marlo Oberließen
23. Teenage Wrist – Still Love
Label: Epitaph/VÖ: 04.08.
Gleich die ersten Sekunden von Still Love erinnern die hörende Person daran, was sie seit dem Vorgänger Earth Is A Black Hole vermisst hat: daskratzige Gitarrenriff von Sunshine gepaart mit dem Einsatz von Marshall Gallaghers schon von Natur aus melancholischer Stimme sorgen für einen instinktiven Lidschluss, um sich mit langsamen Kopfbewegungen der Stimmung besser hingeben zu können. Vielleicht öffnet man die Augen im Anschluss auch einfach 47 Minuten nicht mehr, denn trotz weiterhin erhöhter Experimentierfreude schaffen es die beiden Kalifornier auf ihrem ersten komplett alleine produzierten Album durchgehend das Gefühl zu erwecken, bei einer langen Zugfahrt fasziniert die langsam vorbeiziehende Landschaft anzusehen. Egal ob mit rauerem Sound wie auf dem phänomenalen Cigarette Two-Step oder der leicht trüben, langsamen Traurigkeit von Diorama: das Shoegaze-Duo schafft es, eine faszinierende Kohärenz zwischen sehr verschiedenen Songs zu fabrizieren, was Still Love als Gesamtkunstwerk auszeichnet. Standouts gibt es trotzdem, denn sowohl der Titeltrack als auch der emotionale Drahtseilakt Sprawled, in dessen romantisch-gefühlsexplosiven Chorus sich der im späten Albumteil langsam anwachsende Grunge-Sound entleert, sind faszinierend gelungen und müssen sich vor den ganz Großen des Genres wahrlich nicht mehr verstecken. – Julius Kling
22. Movements – Ruckus!
Label: Fearless/VÖ: 18.08.
Die Emo-Post-Hardcore Band hat es dieses Jahr geschafft, sich genau dieses Labels zu entledigen: Ruckus! zeigt neugewonnenen Facettenreichtum in einem Sammelsurium aus zehn sehr kurzweiligen Songs. Zeitweise trumpfen die Kalifornier sogar mit bisher nicht gekanntem, offenem Visier auf, so wie in der elektrisierenden Single Lead Pipe. An anderer Stelle gelingt es ihnen aber auch weiterhin, die Hörer*innen mit gewohnt emotionalen Passagen zu fesseln, präsent zum Beispiel im wohl stärksten Song des Albums Tightrope. Gerade auf diesem Song zeigt sich aber, dass sich auch diese Passagen im Vergleich zu vorherigen Alben weiterentwickelt haben, denn der vormals raue Sound von Feel Something hat sich deutlich verändert und setzt inzwischen auf feinere Nuancen. Movements wollen sich auf dieser Platte in keine Schublade stecken lassen, denn sie präsentieren die komplette Bandbreite von Mauerblümchen-Synth-Pop bis hin zu wütend-melodischem Post-Hardcore. Das gelingt in fast jedem Fall isoliert betrachtet sehr gut, Ruckus! bezahlt die sehr starke musikalische Vielfalt aber mit einem gewissen Kohärenzverlust. Besonders tragisch ist das nicht, denn es fällt auf, dass die Band in ihrem Sound gereift ist und sich traut, ihre musikalische Stärke voll auszuschöpfen, was das Album zu einem lauten Ausrufezeichen macht. – Julius Kling
21. Angel Du$t – Brand New Soul
Label: Pop Wig/VÖ: 08.09.
Auf ihrem fünften Album knüpfen Angel Du$t an das dritte Album Pretty Buff an und lassen das dazwischen erschienene und vergleichsweise ruhige YAK: A Collection Of Truck Songs verblassen. Brand New Soul hat dieses Mal nicht Will Yip produziert, sondern Frontmann Justice Tripp, der die Studiotüren für scheinbar alle befreundeten Musiker*innen geöffnet hat. Etwa für Turnstile-Gitarrist Pat McCrory und -Schlagzeuger Daniel Fang, die jedoch nicht als Features gelistet werden. Im flotten und mit Akustikgitarren, Bongos, Synthesizern und Kuhglocke instrumentierten Racecar singt dagegen Fizzy von der New Yorker Pub-Rock’n’Roll-Band Loosey mit und im melodischen Born 2 Run Label-Kollegin Mary Jane Dunphe. Very Aggressive ist dagegen auch dank des Auftritts von Citizen-Sänger Mat Kerekes eines von vielen Highlights. Obwohl Angel Du$t öfter zur akustischen als zur elektrischen Gitarre greifen, ist Brand New Soul eindeutig eine Hardcore-Platte. Wer daran zweifelt, kann sich beim rasenden Space Jam inklusive Two-Step-Part und Gitarrensolo als auch Sippin’ Lysol in anderthalb Minuten die Nase blutig schlagen. Don’t Stop, I’m Not Ready und Fuel For The Fire sind wiederum Power Pop in Reinform und mit In The Tape Deck gibt es zum Abschluss noch eine tolle Akustikballade. Die neue Hardcore-Welle in den USA reitet die Band aus Baltimore, Maryland an der Seite von Turnstile ganz vorne mit. – Jonathan Schütz
20. Creeper – Sanguivore
Label: Spinefarm/VÖ: 13.10.
Nach dem von warmen Americana-Gitarren durchströmten Sex, Death & The Infinite Void setzen Creeper mit ihrem dritten Album den langgehegten Traum einer Vampirplatte in die Tat um und feiern eine erneut phänomenale Wiedergeburt, dieses Mal als Gothic-Rock-Band. Erzählten die Briten auf dem zweiten Album die apokalyptische Romanze der Charaktere Roe und Annabelle, geht es auf Sanguivore (Blutsauger) um die Vampirin Mercy und den in ihre Fänge geratenen älteren Mann Spook. Den beiden Figuren ist die an Nick Cave erinnernde The Ballad Of Spook & Mercy gewidmet. Die eröffnende, neunminütige Goth-Oper Further Than Forever ist hingegen einer der besten Songs des gesamten Jahres. Wie bereits auf dem Vorgänger geizen Creeper auch auf dem von Tom Dalgety (Ghost) produzierten Sanguivore nicht mit schmissigen Ohrwurmrefrains. Die Darkwave-Stampfer Cry To Heaven und Black Heaven sind zwei davon, während Chapel Gates und Sacred Blasphemy an den Horror-Punk der Misfits erinnern. Und dann haben wir noch nicht über die abschließende Klavierballade More Than Death geredet, die dank des leidenschaftlichen Gesangs von Frontmann Will Gould Meat Loaf Tribut zollt. Auch zwei Monate nach Erscheinen ist unser Durst nach Sanguivore noch nicht gestillt. – Jonathan Schütz
19. Kvelertak – Endling
Label: Rise/VÖ: 08.09.
Auf Splid, dem ersten Album in neuer Besetzung mit Ivar Nikolaisen am Mikro und Håvard Takle Ohr am Schlagzeug, hatten sich Kvelertak erstmals an lokalen norwegischen Sagen probiert, der Nachfolger Endling ist nun vollgepackt mit der Mythologie ihres Heimatlandes. In Skoggangr („in den Wald gehen“) geht es etwa um Helmut von Botnlaus, der an der Südwestküste Norwegens in Abgeschiedenheit gelebt und gegen alle gekämpft hat, die versucht haben, die umliegende Natur zu zerstören. Seine Vita soll viele der Songtexte des fünften Albums inspiriert haben. Die sind nach ersten englischen Ausflügen auf Splid wieder ausschließlich in norwegischer Sprache gehalten. Die Naturverbundenheit von Endling spiegelt sich zudem im Aufnahmeprozess wider, für den sich Kvelertak drei Wochen lang mit den drei norwegischen Produzenten Jørgen Træen, Yngve Sætre und Iver Sandøy in einem Haus in Bergen eingeschlossen haben. Das Ergebnis ist ein höchst abwechslungsreicher Koloss von einem Album. Krøterveg Te Helvete ist etwa ein toller Albumopener mit immer wieder ins Metallische abdriftenden Classic-Rock-Gitarren, Hardcore-Punk-Gekeife von Nikolaisen und mehrstimmigem Gesang, wie ihn nur das Sextett aus Stavanger beherrscht. In Fedrekult blitzen dagegen Black-Metal-Blastbeats und Tremolo-Gitarren immer wieder auf. Absolutes Highlight ist aber Døgeniktens Kvad mit dem nach 25 Sekunden einsetzenden Banjo. Wahnsinn, diese Teufelskerle. – Jonathan Schütz
18. Mitski – The Land Is Inhospitable And So Are We
Label: Dead Oceans/VÖ: 15.09.
Mit ihrem siebten Album hat Mitski es erneut geschafft, sich neu zu erfinden. War das Vorgängeralbum Laurel Hell (2022) noch deutlich disco- und synthielastiger, nimmt sie ihre Hörer*innen auf The Land Is Inhospitable And So Are We auf eine Reise durch sanfte und organisch klingende Country- und Americana-Spären mit. Und eins sei direkt gesagt: Inhospitable oder nicht, ein Aufenthalt in diesem Land sei dringend empfohlen. Bereits beim Opener Bug Like An Angel lässt Mitski Neues verlauten: Hier taucht zum ersten Mal der 17-köpfige Chor auf, den die japanisch-US-amerikanische Sängerin für das Album arrangiert hat. Damit aber nicht genug: Neben der Tatsache, dass The Land Is Inhospitable And So Are We Mitskis erstes Album ist, das eine Band live im Studio eingespielt hat, ist immer wieder ein Orchester (arrangiert und dirigiert von Drew Erickson) zu hören. In diesem musikalischen Rahmen besingt Mitski auf insgesamt elf Songs Hoffnung und Schmerz (Buffalo Replaced/I Dont Like My Mind), verhandelt das Thema Sucht und den Wunsch nach Erlösung (Bug Like An Angel/The Deal) und stellt sich vor, was mit ihrer Liebe nach ihrem Tod geschieht (My Love Mine All Mine). Aus dem Zusammenspiel all dessen entsteht ein unglaublich mitreißendes Album, mit dem Mitski ein wahres Meisterwerk innerhalb ihrer Diskografie geschaffen hat. Zum Schluss noch eine Empfehlung von Schauspieler Paul Mescal, die dieser kürzlich in einem Interview mit MTV gab: „Do yourself the service of just sitting down and spending two or three hours on a long drive, listening to her [Mitskis] songs. But be prepared to pull over and cry many, many times.“ So ist es und deshalb lieben wir Mitski. – Olivia Braun
17. Enter Shikari – A Kiss For The Whole World
Label: So Recordings/VÖ: 21.04.
Hatten Enter Shikari mit Nothing Is True & Everything Is Possible 2020 einen großartigen von der Klimakrise geprägten Abgesang auf die Menschheit veröffentlicht, stärkt ihr siebtes Album nach pandemiebedingter Leidenszeit den Gemeinschaftssinn. Musikalisch macht das Quartett aus St Albans auf A Kiss For The Whole World dagegen nicht viel anders als auf dem etwas poppigeren Vorgänger. Die ausschließlich mit Solarenergie aufgenommene Platte eröffnen Enter Shikari im Titeltrack im wahrsten Sinne des Wortes mit Fanfaren, ehe die Briten ruhige Strophen mit einem nach vorne marschierendem Refrain kontrastieren. Den Trancepop-Refrain von Leap Into The Lightning bauen Enter Shikari dagegen wie einen EDM-Drop auf, nur, dass hier auch krachende Gitarren mitraven dürfen. Der Raverock von Jailbreak trägt dagegen das Herz am rechten Fleck und verkörpert die Botschaft des Albums: „I hope I keep hope intact”. Bloodshot ist hingegen der beste The-Prodigy-Song seit fast 15 Jahren. Ein weiteres Highlight ist die sich hymnisch aufschwingende Streicherballade Dead Wood. Weil der Orchestersound von Nothing Is True & Everything Is Possible auch diesem Album gutgestanden hätte und Enter Shikari es in Goldfish mit ihrem mitunter weirden Sound etwas übertreiben, reicht A Kiss For The Whole World nicht ganz an den fantastischen Vorgänger heran. Aber welches Album tut das schon? – Jonathan Schütz
16. Blink-182 – One More Time…
Label: Columbia/VÖ: 20.10.
One More Time… ist das erste Album von Blink-182 seit der Rückkehr von Sänger und Gitarrist Tom DeLonge im vergangenen Jahr und damit das erste Album, welches das Pop-Punk-Trio seit Neighborhoods (2011) in seiner Erfolgsbesetzung veröffentlicht. Bereits ohne ein neues Album im Gepäck war die Freude über das Comeback groß, was die weltweit ausverkaufte Tour verdeutlicht, die zudem in einem verdienten ersten Platz der Billboard-Charts kulminiert ist. Auf dem von Schlagzeuger Travis Barker produzierten zehnten Album findet die Band eine perfekte Balance zwischen Pop-Punk und Alternative Rock und schafft es, komplexe Emotionen in eingängige und mitreißende Songs zu verpacken. Blink-182 sind reifer geworden und verarbeiten ernste Themen, ihren jugendlichen Leichtsinn hört man aber noch immer deutlich heraus. Dance With Me und Fell In Love sind nur zwei der zahlreichen Hits, die Klassikern wie First Date in nichts nachstehen und Nostalgie versprühen. Die berührende Ballade One More Time verarbeitet dagegen den Weg und die privaten Katastrophen der Band, zu der nicht nur ein verheerender Flugzeugabsturz von Barker 2008 gehört, den dieser nur knapp überlebte, sondern auch eine mittlerweile überstandene Krebserkrankung von Bassist Mark Hoppus, in deren Folge DeLonge und Hoppus ihren Disput ausgeräumt haben. One More Time… beinhaltet alles, was den Pop-Punk von Blink-182 um die Jahrtausendwende so beliebt gemacht hat. – Florian Hilger
15. Militarie Gun – Life Under The Gun
Label: Concord/VÖ: 23.06.
Im Juli 2023 stehen in Deutschland zwei Generationen Post-Hardcore auf einer Bühne. Rival Schools um Walter Schreifels (Gorilla Biscuits, Quicksand) und Support-Act Militarie Gun aus Los Angeles, die zwei Wochen zuvor mit Life Under The Gun ihr Debütalbum veröffentlicht haben. Die zwölf darauf enthaltenen Songs bewegen sich zwischen Angel Du$t und Drug Church, auch weil Frontmann Ian Shelton seine Texte ähnlich heiser hervorpresst wie Drug Church-Sänger Patrick Kindlon. Die Härte früherer EPs ist einer Eingängigkeit gewichen, die sie in Return Policy in die Nähe von Indierock-Bands wie Modest Mouse befördert, in See You Around sogar an Blur erinnert (Shelton ist bekennender Fan). Militarie Gun wenden sich nicht vom Hardcore ab, sie nutzen nur, ähnlich wie Turnstile, alle Möglichkeiten aus, die das Genre bietet, und treffen damit einen Nerv – auch dank Shelton, der mit dem Verhandeln seiner von Sucht bestimmten Vergangenheit die Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation einfängt, ohne auf Tough-Guy-Gehabe zurückzugreifen. “I’ve been feeling pretty down/ So I get very high” aus Very High ist nur eine von vielen einprägsamen Zeilen. 2021 hatte Turnstile, 2023 hat Militarie Gun. – Marlo Oberließen
14. Citizen – Calling The Dogs
Label: Run For Cover/VÖ: 06.10.
Das fünfte Album des Quintetts aus Toledo, Ohio ist der beste Beweis dafür, dass sich in gewissen Szenen liebgewonnene Bands weiterentwickeln können, ohne dass dies mit einem Abfall von Qualität verbunden ist und den langjährigen Fans vor den Kopf stößt. Die Entwicklung vom Emo und Grunge der frühen Alben hin zum von Pop-Sensibilität geprägten Indierock und Garage Rock hatte sich bereits mit dem tanzbaren Vorgänger Life In Your Glass World (2021) angekündigt, auf Calling The Dogs gehen Citizen jedoch vollkommen in ihrem neuen Sound auf. Can’t Take It Slow ist etwa ein an The Strokes erinnernder Ohrwurm, aber bereits mit dem vorangehenden Gute-Laune-Opener Headtrip schließen Citizen einen mit warmen Gitarren und verträumten Gesang in die Arme. Aus der neuen Entspanntheit reißt an fünfter Stelle Lay Low dank leidenschaftlichen Gesangs von Frontmann Mat Kerekes heraus und im düsteren Dogs kippt sein Gesang sogar in leichtes Geschrei. Der Power Pop von Needs, When I Let You Down sowie Takes One To Know One erinnert wiederum an Angel Du$t, auf deren aktuellen Album Brand New Soul Kerekes mitwirkt. Nicht verändert haben Citizen hingegen den Ansatz ihrer Texte, gegenwärtiger Melancholie mit einem positiven Blick in die Zukunft zu trotzen. „It makes me sick when I let you down“ heißt es etwa in When I Let You Down, während der beste Song If You’re Lonely zugleich die schönste Hymne über emotionale Unterstützung in diesem Jahr ist: „I know that you will call me if you’re lonely”. – Jonathan Schütz
13. Shame – Food For Worms
Label: Dead Oceans/VÖ: 24.02.
Idles, Fontaines D.C., Shame – es scheint, als sei sich die Speerspitze des modernen Post-Punk einig, auf dem dritten Album nicht mehr so klingen zu wollen wie auf dem ersten. Idles und Fontaines D.C. haben es vorgemacht, Shame machen es nach – und wie: Food For Worms ist ihre beste Platte, vor allem, weil es die fünf Engländer nicht mehr nötig haben, ihre großartigen Songs unter einer widerborstigen Lärmschicht zu verstecken. Zwei Jahre liegen zwischen Drunk Tank Pink und Food For Worms, es könnten auch zwei Alben sein, so sehr bei sich wirken Shame, die es sich leisten können mit Fingers Of Steel ihren größten Hit seit One Rizla als Opener zu verballern. Auch, weil sie das Niveau bis zum Ende halten. Und überraschen: Six Pack schafft die Fusion zwischen Psychedelic Porn Crumpets und The Fall, All The People ist die Art melancholischer Abschlusssong, wie er im Post-Punk sonst nur Fontaines D.C. gelingt. In Orchid klingen sie so lange nach Nick Cave, bis sie ihn am Ende in den Noise-Abgrund stürzen. Der Unterschied zu früher: Sie dekonstruieren den Song nicht. Jetzt müssen die anderen nachlegen. – Marlo Oberließen
12. Invent Animate – Heavener
Label: UNFD/VÖ: 17.03.
„Durchweg beeindruckend“ ist wahrscheinlich das Erste, woran man nach einer sechsundvierzigminütigen Listening-Session von Invent Animates diesjährigem Album Heavener denken mag. Der im Anschluss darauffolgende Gedankengang, sich das vierte Studioalbum der Texaner erneut anzuhören, ist aufgrund der unglaublich sauberen und ausgefeilten Produktion der Band gemeinsam mit Landon Tewers (The Plot In You) nahezu selbstverständlich. Vor allem die Gesangskünste von Sänger Markus Vik haben sich innerhalb kürzester Zeit auf ein neues, höheres Level entwickelt, welche die atmosphärischen Klänge der Platte hervorragend ergänzen. Durch Songs wie Immolation Of Night, False Meridian oder Void Surfacing hat die Band wahre, abwechslungsreiche und emotionale Highlights geschaffen, welche die Standards für kommende Platten der Band deutlich anheben. Man darf sich freuen, in welche melodischen Weiten Invent Animate sich in kommenden Jahren begeben und Heavener aus diesem Jahr hinaus weiterhin mit im Herzen (und in den Ohren) tragen zu dürfen. – Mariella Scherzer
11. Currents – The Death We Seek
Label: Sharp Tone/VÖ: 05.05.
The Death We Seek ist das mittlerweile dritte Album der US-Metalcore Band, die sich spätestens seit diesen beiden Releasezyklen in den meisten Spotify-Jahresrückblicken genreaffiner Streamingnutzer*innen etabliert hat. Schon Albumcover und Lead-Single The Death We Seek ließen erahnen, was sich hinter dem gleichnamigen Albumtitel verbirgt: eine gewisse Art von Rückkehr zum düsteren Sound von beispielsweise der EP I Let The Devil In, den einige Hörende auf dem Vorgänger The Way It Ends schwer vermisst hatten. So sollte es auch kommen, denn während sich die technische Kunstfertigkeit der Gitarren deutlich erhöht hat, klingt alles das etwas dunkler, verwaschener, wütender und dämonischer. Das funktioniert wundervoll, denn während einige Songs wie das brachiale Vengeance durchaus auch auf älterem Material zu finden sein könnten, ist beispielsweise das leicht verspieltere – aber nicht weniger düstere – So Alone ein eindeutiges Zeichen der Weiterentwicklung der Band. Brian Willes Klargesang bleibt dabei der herausstechende Faktor, denn seit seinem Bandeinstieg zu The Place I Feel Safest hat sich an dieser Stelle wahnsinnig viel getan. Insgesamt liefern Currents hier ihr vermutlich bestes Album, das Hunger auf noch mehr Material in diese leicht weniger massentaugliche Richtung macht. – Julius Kling
10. Musa Dagh – No Future
Label: Hayk/VÖ: 14.04.
Musa Daghs Dampfwalzenpop bildet das Bindeglied zwischen der Unsane-Noise-Fraktion und denjenigen, deren schlimmster Albtraum das Ziehen ungeschnittener Fingernägel über eine Kreidetafel ist. Ja, man hört deutlich, dass hier der Harmful-Typ und der Blackmail-Sänger am Werk sind, Musa Dagh auf ihre einzelnen Teile zu reduzieren wäre allerdings töricht. Zu autonom klingt No Future, auf dem sie mehr noch als auf dem bereits starken, aber stellenweise noch nicht ausgereiften Debüt (2021), die richtige Melange aus den Stakkato-Riffs von Aren Emirze und dem Popappeal von Aydo Abay finden. Etwa in Weekend Warrior, in dem Beatsteaks‘ Bernd Kurtzke gegen Hardcore-Raserei anschreit, bis ihm ein doppelt melancholischer Refrain den Wind aus den Segeln nimmt. Oder in Rhythm Pigs (A.F.M.D.), der alles, was die Band ausmacht, in einen Song vereint. Für den nach dem Debüt ausgestiegenen Thomas Götz haben sie mit Sascha Madsen passenden Ersatz gefunden, der sich mit Spielfreude durch die zehn Songs drischt, im richtigen Moment aber auch zurücksteckt, zum Beispiel in 0200 Hours, einer Akustikgitarren-Ballade, die in ihrer Erhabenheit an Disarm von Smashing Pumpkins erinnert. Wenn das hier Noiserock ist, dann ist No Future das Noiserock-Album des Jahres. – Marlo Oberließen
9. Pascow – Sieben
Label: Rookie/VÖ: 27.01.
Schnörkelloser als auf Jade, mit unverkrampften Liebesliedern wie Himmelhunde und rund ein Dutzend Hymnen auf das Außenseitertumlegen Pascowaus dem pfälzischen GimbweilerAnfang des Jahres die Latte für das deutschsprachige Punkrockalbum des Jahres hoch. Spätestens seit Diene der Party (2014) haben sie nicht nur bei denjenigen einen Stein im Brett, die ihr Plattenregal von A wie Angeschissen bis O wie Oma Hans sortiert haben. Die Texte sind klug, referenzgespickt und die Musik steuert riffgetrieben Richtung Punkrockdisko. Pascow schaffen den Spagat zwischen Erweiterung der Zielgruppe und Szeneintegrität. Sieben ist im Vergleich zum Vorgänger Jade wieder direkter und druckvoller, eine Klavierballade wie Wunderkind gibt es nicht, dafür eine Geige in Mailand und in mehreren Songs Unterstützung von Gastsängerinnen, etwa von Acht Eimer Hühnerherzen-Sängerin Apokalypse Vega in Königreiche im Winter. Gentrifizierung, Altersarmut, Erderwärmung – alles Themen, an denen sich Sänger Alex Thomé gewohnt bissig abarbeitet. Einer der besten Songs der Platte bringt LoFi-Ikone Daniel Johnston und den österreichischen Künstler Hermes Phettberg zusammen und baut damit auch allen anderen kaputten Helden dieser Welt ein Denkmal: „Du wurdest nie das was du solltest/Nur das was du jetzt bist/Und kein Team der Welt hast du jemals vermisst/Deine Lieblingslieder spielt das Radio nie/Du hast ein Zimmer das stinkt/Und ein Herz größer als Wien“. – Marlo Oberließen
8. Clowns – Endless
Label: Fat Wreck/VÖ: 20.10.
Seit dem Debüt I’m Not Right (2013) stehen Clowns für halsbrecherischen Hardcore-Punk, der mit allen Abwassern gewaschen ist. Selbst wenn sie auf den drei nachfolgenden Alben das Tempo drosseln, ist klar: Wenn sie wollen, können sie alles in Schutt und Asche legen. Auf Endless wollen sie, was sicher auch mit der Entstehungsgeschichte der Platte zusammenhängt – die Band schreibt die Songs während des langen Lockdowns in ihrer Heimatstadt Melbourne. Da hat sich ordentlich was angestaut, bereits dem eröffnenden Schrei von Frontmann Stevie Williams im zweiten Song Formaldehyde tropft der Wunsch nach Unsterblichkeit aus jeder Pore: „And I’m pretty sure I’ll never die/ cause I’m soaking in formaldehyde”. Dagegen sehen die letzten beiden Alben von The Bronx schwachbrünstig aus. Gift und Galle spuckend tobt sich Wiliams durch die Platte, auf der sich Clowns auch 80er-Jahre-Metal-Momente und Synthesizer gönnen. Mit Bisexual Awakening haben sie zudemeinen der besten Coming-Out-Songs der letzten Jahre geschrieben. Die Dichte an starken Hardcore- und Punkbands ist in Australien standesgemäß hoch, allein in diesem Jahr haben mit Gumm und C.O.F.F.I.N zwei weitere ähnlich geartete Bands Alben veröffentlicht – mit Clowns können beide nicht mithalten. – Marlo Oberließen
7. King Gizzard And The Lizard Wizard – Petrodragonic Apocalypse; or, Dawn Of Eternal Night: An Annihilation Of Planet Earth And The Beginning Of Merciless Damnation
Label: KGLW/VÖ: 16.06.
Im internen Wettstreit zwischen den beiden dieses Jahr erschienenen King Gizzard And The Lizard Wizard-Alben ist Petrodragonic Apocalypse… sicherdie bessere Wahl als der Elektro-Prog von The Silver Cord. Besonders Menschen, die Infest The Rats‘ Nest (2019) mochten, werden mit dem Stoner-Thrash-Metal-Feuerwerk ihre Freude haben. Über die sieben Songs spannt sich ein Referenzrahmen, der von Motörhead über Iron Maiden bis hin zu Tool reicht. Im Gegensatz zu Infest The Rat’s Nest sind die Songs länger und ausgereifter. Es ist beeindruckend und beängstigend zugleich mit was für einer Souveränität sich die „fachfremden“ Australier durch die 70er- und 80er-Jahre der Metalgeschichte spielen. Egal ob im Groove-Ungetüm Flamethrower oder im rasenden Gila Monster, es klingt, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. KGLW finden die exakt richtige Mischung zwischen Spielfreude und Virtuosität und setzen damit zur Mitte des Jahres ein Ausrufezeichen, das kein Nachtrag mehr gebraucht hätte: In der Verfassung von Petrodragonic Apocalypse… sind sie nicht zu stoppen. – Marlo Oberließen
6. Code Orange – The Above
Label: Blue Grape/VÖ: 29.09.
Mit dem Vorgänger Underneath hatten Code Orange den Metalrock-Weg gepflastert, den sie auf The Above nun mit einem gewaltigen Selbstverständnis beschreiten. Darauf, dass die Band aus Pittsburgh, Pennsylvania auf ihrem fünften Album auch erstmals Sonnenstrahlen in ihrem moderig Sound-Keller zulässt, deutet im von abgerissenen Panzerband und unheilvollen Gesang von Frontmann Jami Morgan eröffneten Opener Never Far Apart zunächst nichts hin, bis im Refrain auf einmal sanfte Pianoklänge und ebenso sanfter Gesang von Gitarristin Reba Meyers erklingen. Diese neue Zugänglichkeit zersägen Code Orange gen Ende jedoch mit Metal-Gitarren, was zugleich stellvertretend für die folgenden 13 Songs steht, welche immer wieder zwischen Hardcore-Geballer und Eingängigkeit changieren. Für den Industrial-Metal-Stampfer Take Shape holen Code Orange dafür The-Smashing-Pumpkins-Frontmann Billy Corgan hinzu und mit Mirror gibt es zudem eine waschechte und von Streichern durchzogene Ballade. Mit dem im TripHop beginnenden Snapshot, Circle Through sowie But A Dream… beweisen Code Orange zudem, dass sie mittlerweile mit Leichtigkeit Metalrock-Hymnen für die ganz großen Bühnen schreiben können. Das von Punk-Ikone Steve Albini aufgenommene und von Morgan und Programmierer/Gitarrist Eric „Shade“ Balderose produzierte The Above ist eine soundtechnische Wucht und ein jegliche Genre-Mauern zu Fall bringendes Ausnahmealbum. – Jonathan Schütz
5. Blond – Perlen
Label: Beton Klunker Tonträger/VÖ: 21.04.
In unserer Redaktion finden sich seit vielen Jahren (mindestens drei) Blondinators mit Leib und Seele, da ist es wahrlich keine Überraschung, dass nach dem Debütalbum Martini Sprite (2020) auch das zweite Album der Chemnitzer Band den Sprung in diese Liste geschafft hat. In gewohnter Manier verhandelt die aus den Schwestern Nina (Gitarre und Gesang) und Lotta Kummer (Schlagzeug) sowie Johann Bonitz (Bass) bestehende Band gesellschaftliche und persönliche Themen mit einer großen Portion lyrischem Humor: In Männer prangern sie die immer noch sehr spärlich von Flinta* besetzten Lineups großer Festivals an. Durch die Nacht macht auf die Wichtigkeit weiblicher* Vorbilder*innen (und auch auf immer noch bestehende Desiderate in diesem Bereich) für junge Nachwuchsmusiker*innen aufmerksam. Du und Ich sowie Toxic machen wiederum toxische Männlichkeit zum Thema. Auch das Thema mentale Gesundheit findet sich in gleich zwei Songs auf Perlen wieder (Sims 3 und Immer Lustig). Insgesamt knüpft Perlen wunderbar an ihr Debüt an und lässt eine Weiterentwicklung des charakteristischen Stils der Band erkennen. Mit dieser Platte hat sich der Kreis ihrer Fans (aka der Blondinators) mit Sicherheit weiter vergrößert. Und wie uns die Band auf ihrem Album ja selbst sagt: „Du hörst Blond/ Du musst dich nicht schämen“. – Olivia Braun
4. Polaris – Fatalism
Label: Sharp Tone/VÖ: 01.09.
Hinter dem dritten Album von Australiens Metalcore-Mainstay steckt eine besonders emotionale Geschichte, denn die Veröffentlichung der Platte wurde vom viel zu frühen Tod von Gitarrist Ryan Siew wenige Monate zuvor überschattet. Allen Schwierigkeiten zum Trotz entschloss sich das Gespann, die Veröffentlichung des Albums trotzdem wie geplant über die Bühne zu bringen, auch wenn die Songs nach eigener Aussage durch die Umstände eine ganz andere Bedeutung bekommen haben. Was sich allerdings nicht verändert hat, ist die musikalisch versierte, raue Brutalität, mit der Polaris sich weiterhin von der grauen Metalcore-Masse abheben. Auf Fatalism kommen deutlich mehr elektronische Einflüsse ins Spiel, die unter anderem auf Overflow fast schon Northlane-artige Züge annehmen, wenn auch etwas subtiler. Das ist eine gelungene Addition zum Repertoire der Band, denn sowohl Jamie Hails Vocals als auch die instrumentale Gestaltung sind auf Fatalism mindestens auf gewohntem Polaris-Niveau. Auch das zeitweise an Deathcore grenzende Dissipate zeigt, dass die Australier es großartig beherrschen, sogar noch wütender zu klingen, als sie es ohnehin schon meistens tun. Das passiert auf diesem lauten und ausdrucksstarken Album regelmäßig und somit ist Fatalism genau das, was man sich erhofft hatte und noch mehr. Ruhe in Frieden, Ryan Siew. – Julius Kling
3. Spiritbox – The Fear Of Fear
Label: Rise/VÖ: 03.11.
Der Höhenflug der Kanadier*innen wird auch in diesem Jahr mit der EP, die alleine mit ihrer Laufzeit fast schon eher einem Minialbum gleicht, weiterhin tatkräftig in Schwung gehalten, aber auch durch die Grammy-Nominierung für 2024 in der Kategorie Best Metal Performance. Besonders dank eindrucksvoller Songs wie Cellar Door und Jaded, in denen der volle Umfang von Courtney LaPlantes Gesangsleistung im klaren und gutturalen Bereich deutlich hörbar glänzen darf. Auf The Fear Of Fear spielt die Band mit Einflüssen aus diversen Genres wie Progressive Metal, Industrial aber auch Dreampop, um ihre facettenreiche Bandbreite mal in nahezu erschlagender, brachialer Härte in Drop-F-Stimmung, mal in leiser, sanfterer Atmosphäre darzustellen. Die daraus einhergehenden Kontraste sind so einprägsam, dass man in Zukunft Lust auf mehr solcher experimentellen Platten aus der Feder von Spiritbox bekommt, und gegebenenfalls nochmal eben jenen aus den vergangenen Jahren zu lauschen, um die Weiterentwicklung ihres Stils nachverfolgen und wertschätzen zu können. – Mariella Scherzer
2. Boygenius – The Record
Label: Interscope/VÖ: 31.03.
„Give me everything you’ve got“ sind die ersten Worte des Openers Without You Without Them auf Boygenius‘ erstem Album The Record. Doch nicht nur das: Sie beschreiben ziemlich genau das Gefühl, das viele von uns nach Erscheinen ihrer Debüt-EP boygenius hatten. Dort wurde bereits ersichtlich, was sich mit The Record mehr als bestätigt: Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus sind eine magische Kombination. Knapp viereinhalb Jahre vergingen zwischen den beiden Releases. Innerhalb dieser Zeit veröffentlichten alle drei Mitgliederinnen der Supergroup Solo-Alben, die die Sehnsucht nach einem neuen, gemeinsamen Musikprojekt nur noch verstärkten. Im Frühjahr 2023 ist dann mit The Record ein zwölf Songs starkes, großartiges und abwechslungsreiches Album und somit eines unserer diesjährigen Favoriten erschienen. The Record enthält sowohl Songs, die klar der Feder einer der drei Musikerinnen zugeordnet werden können ($20, Emily I’m Sorry, True Blue), aber auch solche, die ihre individuellen Stile wundervoll verschmelzen lassen (Cool About It, Satanist). Mal wechseln sich Baker, Bridgers und Dacus strophenweise mit dem Gesang ab, mal erklingt eine der drei im Vordergrund und wird von den anderen beiden begleitet. Boygenius gelingt es, uns die volle Range ihrer geballten, musikalischen Fähigkeiten zu zeigen. Und trotzdem (oder gerade deswegen) bleiben wir dabei: Give us everything you’ve got – wir sind noch immer hungrig auf mehr. – Olivia Braun
1. Sleep Token – Take Me Back To Eden
Label: Spinefarm/VÖ: 19.05.
Gitarrenmusik hat 2023 drei große Hypes erlebt: die Formvollendung der Blink-182-Reunion in der Erfolgsbesetzung mit dem wirklich gelungenen Album One More Time…, die lang ersehnte, aber doch plötzliche Veröffentlichung des Debütalbums von Boygenius – das ebenso den Platz an der Sonne verdient gehabt hätte – sowie Take Me Back To Eden, das im Mai erschienene dritte Album von Sleep Token. Damit hat die aus London stammende Gruppe den Mythos um ihre Band – Sleep Token weigern sich, Interviews zu geben, halten die Identität ihrer Mitglieder geheim und treten stets maskiert auf – als auch die Kontraste in ihrer eh schon variationsreichen Musik auf die Spitze getrieben. Die größte Kunst ist dabei, dass dies stets organisch klingt, weil Sleep Token ihre Experimentierfreude immer in den Dienst der Songs stellen und nie wahllos Heavy Metal, Metalcore und Djent mit Pop, Electronica, R&B und Funk vermählen. Zusammengehalten wird dieser wilde Mix dabei vom ebenfalls mannigfaltigen Gesang des nur als Vessel bekannten Frontmanns, der gutturalen ebenso wie Klargesang beherrscht und in The Summoning auch mal mit Kopfstimme singt. Darin vereinen die Briten dicke Riffs, einen Deftones-Refrain, ein Prog-Gitarrensolo, ein Pianosolo und ein Djent-Instrumental zu einem der besten Songs des Jahres. Das siebenminütige Ascensionism entwickelt sich dagegen von einem Klavierintro über einen Pop-Part in ein zunächst rockiges und dann metallisches Gitarrenriff und wieder zurück. Granite täuscht zwei Strophen lang Synthesizer und einen Beat vor, ehe in der Bridge Djent-Gitarren alles niederwalzen. Daneben steht wie selbstverständlich, aber nicht weniger begeisternd der Jazz-Pop von Aqua Regia und der gänzlich auf Gitarren verzichtende Pop-Song DYWTYLM. Genregrenzen waren gestern, mit Take Me Back To Eden beweisen Sleep Token eindrucksvoll, wie vielfältig Metal sein kann. – Jonathan Schütz