Während 2020 für die Livemusik-Branche ein Jahr zum Vergessen gewesen ist, konnte man sich wenigstens auf den musikalischen Output verlassen. Der ist trotz Pandemie hoch gewesen, wie die folgende, von unserer Redaktion gewählte Liste, beweist.
25. Blond – Martini Sprite
Label: Beton Klunker Tonträger/VÖ: 31.01.
Als das Debütalbum des Trios erschienen ist, haben wir geschrieben: „Das Jahr 2020 könnte für die Chemnitzer Band ein ganz Großes werden“. Nun verlief das Jahr ja durchaus ein wenig anders, als die Meisten vermutet hatten. Das ändert aber glücklicherweise nichts daran, dass Martini Sprite ein sehr gutes Album ist. Die zwölf Songs sind vollgepackt mit Punkrock-Riffs, Pop-Sensibilität und Indie-Tanzbarkeit und bieten alles, was das Herz begehrt, zum Beispiel eine großartige Hymne an durch Sanifair-Bons angehäuftes Vermögen (Sanifair Millionär). Humor ist das prägendste Element der Formation Blond und über den kann man auch nach einem solchen Jahr noch lachen – und das will ja wohl was heißen! – Olivia Braun
24. Frankie And The Witch Fingers – Monsters Eating People Eating Monsters…
Label: Ras/Greenway/VÖ: 02.10.
Frankie And The Witch Fingers sind die Band für diejenigen, die Lust auf um die Ecke gedachte Psychrock-Songs haben und denen King Gizzard & The Lizard Wizard musikalisch zu sprunghaft sind. Wie die australischen Weirdos hat das 2013 gegründete Quartett aus Los Angeles als rumpelnde Garage-Rock-Band angefangen, dessen Sound zwischen Ty Segall und Holy Wave zu verorten ist. Seitdem sind die Songs länger und verspielter geworden, die Band hat ihre Vorliebe für die hypnotische Kraft des Krautrock entdeckt, von der auf MEPEM vor allem Activate und die bockstarken, die Platte abschließenden Cavehead sowie der Titeltrack zeugen. Danach sitzt der Kopf überall, nur nicht auf dem Hals. MEPEM ist ein grandioses Album, der einzige Makel: Das von King Gizzard & The Lizard Wizard ist ein kleines Stück besser. – Marlo Oberließen
23. Violent Soho – Everything Is A-OK
Label: I Oh You/VÖ: 03.04.
Das sind die 90er, Baby: Es ist nicht davon auszugehen, dass die aus Brisbane stammenden Violent Soho But Alive… kennen, dennoch haben sie die Aussagekraft des Songtitels verinnerlicht. Everything Is A-OK, das fünfte und beste Album des Quartetts, suhlt sich im Grunge und Alternative der 90er. Die Single Lying On The Floor erinnert, alleine wegen der stimmlichen Ähnlichkeit von Frontmann Luke Boerdam zu Black Francis, an die Pixies und zu dem Solo in Pick It Up Again könnte auch der große J Mascis die Gitarre in die Hand genommen haben. Wenn wir von den 90ern sprechen, sind auch die Smashing Pumpkins, und, klar, Nirvana, nicht weit, ohne die es, laut Schlagzeuger Michael Richards, Violent Soho gar nicht geben würde. Dennoch ist Everything Is A-OK nicht nur ein Zeugnis einer vergangenen Dekade, sondern auch eines, das die Unsicherheit von Mittdreißigern im Jahr 2020 in packende Alternative-Rock-Songs kanalisiert. – Marlo Oberließen
22. Blues Pills – Holy Moly!
Label: Nuclear Blast/VÖ: 21.08.
Die gut geölte Tour-Maschine Blues Pills läuft nach dem zweiten Album Lady In Gold auf Hochtouren, kommt jedoch ins Stocken, als Ausnahmegitarrist Dorian Sorriaux die Band verlässt. Dessen Posten übernimmt folglich Bassist Zack Anderson, neu hinzu kommt Bassist Kristoffer Schander. Dem neu formierten schwedischen Quartett hört man auf dem dritten Album wieder die Spielfreude des Debütalbums an und insbesondere Frontfrau Elin Larsson macht eine umwerfende stimmliche Figur auf einem kathartischen Album voller Hardrock-Elektrizität, Blues-Rhythmen und Classic-Rock-Gesten, das gleichermaßen Depression (Longest Lasting Friend), Feminismus (Proud Woman) und zerbrochene Beziehungen (California) behandelt. – Jonathan Schütz
21. Bright Eyes – Down In The Weeds, Where The World Once Was
Label: Dead Oceans/VÖ: 21.08.
Nur wenigen Bands gelingt es nach einer neunjährigen musikalischen Pause, ihre Fans so zu verzücken, wie es das US-Trio im März mit dem Dudelsack-getränkten Persona Non Grata schafft. Das dazugehörige Album vereint alles, was man spätestens 2005 auf dem Meisterwerk I’m Wide Awake, It’s Morning an Conor Oberst & Co. lieben gelernt hatte: Streicher-Arrangements, verzückende Bläser und die Verwendung teils ausgefallener Instrumente wie Mandolinen oder eben ein Dudelsack. Das zehnte Album der Bright Eyes erzählt dazu aber auch eine mitreißende Geschichte und passt mit seinem apokalyptischen Überbau perfekt ins Jahr 2020. Schöner hat im Indierock dieses Jahr niemand universellen Weltverschmerz vertont. – Jonathan Schütz
20. King Gizzard & The Lizard Wizard – K.G.
Label: Flightless/VÖ: 20.11.
Im King-Gizzard-Kosmos war 2020 ein bescheidenes Bandjahr: keine fünf Alben wie 2017, noch nicht mal zwei wie 2019, geschweige denn die Entdeckung musikalischen Neulands wie das Thrash-Metal-Inferno Infest The Rats’ Nest, den australischen Psychrockern reicht eine schlicht K.G. betitelte Platte, um zu begeistern. Ihre 16. innerhalb von zehn Jahren ist in ihrer Diskographie in der Nähe von Flying Microtonal Banana (2017) einzuordnen und konzentriert sich auf das Herz ihres Sounds: meditative Rhythmen, orientalisch anmutende Arrangements und in Klang gegossene Rastlosigkeit. Das fesselt, begeistert und wirft dabei Hits ab wie Automation oder Straws In The Wind. K.G. lebt nicht von Überraschungsmomenten, sondern von der Konzentration auf die Stärken dieser Ausnahmeband, die sich 2020 nicht neu erfunden muss, weil sie es bereits zu genüge getan hat und womöglich noch tun wird: King Gizzard & The Lizard Wizard haben 2021 als das produktivste Jahr ihrer Karriere angekündigt. – Marlo Oberließen
19. Heaven Shall Burn – Of Truth And Sacrifice
Label: Century Media/VÖ: 20.03.
Mit Of Truth and Sacrifice haben Heaven Shall Burn für Metal-Verhältnisse einen richtigen Charterfolg abgeliefert. Das neunte Album der fünfköpfigen Band aus Saale in Thüringen hielt sich nach dem Einstieg auf dem ersten Platz ganze zehn Wochen in den deutschen Charts. Von poppiger Zuneigung fehlt dennoch jede Spur: Wie eine Dampfwalze marschiert die Band durch das erste Doppelalbum ihrer Bandgeschichte, bleibt aber dennoch vielseitig und findet im Verlauf der 19 Songs auch Raum für Experimente wie im neunminütigen und Industrial-getränkten Expatriate. Die seit der Bandgründung 1996 stets sozial- und politkritischen Texte heben Heaven Shall Burn in Songs wie My Heart And The Ocean oder dem erwähnten Expatriate zudem auf ein neues Level. Auch in verhältnismäßig ruhigeren Songs ist die Wut, die diese Band antreibt, herauszufiltern. Mit einer Lauflänge von knapp 100 Minuten ist Of Truth and Sacrifice zwar ein richtiger Brocken, geschmälert wird die Qualität dadurch jedoch zu keinem Zeitpunkt. – Florian Hilger
18. Run The Jewels – RTJ4
Label: BMG Rights Management/VÖ: 03.06.
Als 1992 die LA Riots wüten, liefert das Debütalbum von Rage Against The Machine den Soundtrack zu den bürgerkriegsähnlichen Unruhen. 28 Jahre später ist es der brutale Polizeimord an George Floyd, der weltweite Demonstrationen auslöst, die vom vierten Album des US-HipHop-Duos untermalt werden. Die Beats sind im Vergleich zum bereits starken dritten Album nochmal aggressiver und auch dank Features von Josh Homme sowie der unwahrscheinlichen Kombination aus Zack de la Rocha (hier schließt sich der Kreis) und Pharrell Williams wird RTJ4 zum bislang erfolgreichsten Album von El-P und Killer Mike und fängt den traurigen, aber aufrührerischen Zeitgeist in diesem Jahr wie kein zweites Album ein. – Jonathan Schütz
17. Creeper – Sex, Death & The Infinite Void
Label: Roadrunner/VÖ: 31.07.
Bereits mit ihrem Debütalbum Eternity, In Your Arms werden Creeper mit den Emo-Pionieren My Chemical Romance verglichen, das Gleichnis geht jedoch erst mit dem zweiten und ebenfalls melodramatisch betitelten Album auf. Wie auf dem Referenzwerk The Black Parade der Vorbilder ist Sex, Death & The Infinite Void ein Konzeptalbum, dreht sich jedoch nicht um eine, sondern um die zwei Figuren Roe und Annabelle, die eine vom Nachtleben in L.A. inspirierte apokalyptische Romanze ohne Happy End erleben. Neben stadiongroßen Refrains hat sich das Sextett aus dem englischen Southampton von klassischen Americana-Platten inspirieren lassen, was zu einem musicalhaften und höchst ansteckenden Album geführt hat. – Jonathan Schütz
16. Pabst – Deuce Ex Machina
Label: Ketchup Tracks/VÖ: 19.06.
Fuzzigen Indierock aus Deutschland auf ein neues Level heben – das haben Pabst mit ihrem zweiten Album definitiv geschafft. Die Berliner überzeugen mit insgesamt elf Songs, die allesamt ordentlich nach vorne gehen. Wie auf ihrem Debüt Chlorine von 2018 schrammeln sich Pabst auch auf Deuce Ex Machina mit grungigen Gitarren und einem stets treibenden Schlagzeug in die Herzen der Hörer*innen. Der Sound des Trios erinnert an gute, alte Zeiten und klingt trotzdem wunderbar frisch – weil es ihn in der heutigen Zeit in solch einer Form nur noch selten gibt. Auch lyrisch überzeugt das Album mit seinem selbstironisch bis sozialkritischen Ansatz. Produziert hat das Album Moses Schneider, der stets live aufnimmt und so Pabst zu einem wunderbar rohen Sound verholfen hat. – Olivia Braun
15. Machine Gun Kelly – Tickets To My Downfall
Label: Interscope/VÖ: 25.09.
Mit seinem fünften Album wendet sich Machine Gun Kelly vom Rap ab und liefert in Zusammenarbeit mit Blink-182-Schlagzeuger Travis Barker eine astreine Pop-Punk Platte im Stile der 90er ab. Sprechgesang gibt es vom 30-Jährigen zwar noch in Songs wie All I Know oder My Ex’s Best Friend, die Oberhand gewinnen aber Pop-Punk-Hits aus dem Lehrbuch wie Bloody Valentine und Forget Me Too (mit tollem Feature von Halsey). Der Pop-Punk-Ansatz von Machine Gun Kelly und Barker wirkt dabei frischer als der von gestandenen Genre-Bands und so schafft es Tickets To My Downfall zum ersten Mal in Machine Gun Kellys Karriere auf den ersten Platz der US-Album-Charts. Der Pop-Punk von Machine Gun Kelly macht Spaß und liefert etliche Ohrwürmer, die allesamt funktionieren. Sollten 2021 wieder Konzerte möglich sein, diese Songs würden mit Sicherheit auch live eine Menge Freude machen. – Florian Hilger
14. Giant Rooks – Rookery
Label: Irrsinn Tonträger/VÖ: 28.08.
Nachdem sich das Quintett aus Hamm mit zwei EPs hierzulande als auch international ein beachtenswertes Publikum erspielt hatte, folgte in diesem Jahr das lang erwartete Debütalbum. Im Vorfeld waren Giant Rooks bereits mit zahlreichen Preisen wie dem 1LIVE-Krone-Förderpreis sowie dem Preis für Popkultur in der Kategorie „Hoffnungsvollster Newcomer“ ausgezeichnet worden, die vorweggenommen haben, was Rookery auszeichnet: Hymnische Hooks, aufwändige Arrangements und ein breitgefächertes Instrumentarium. Sechs Jahre nach ihrer Gründung haben Giant Rooks ihren Sound gefunden, der zwischen mitreißender Radiotauglichkeit (Watershed) und kraftvollen Rock-Momenten (What I Know Is All Quicksand) pendelt, aber auch Experimente wie im Album-Finale zulässt. Rookery ist ein starkes und frisches Indiepop-Debüt, das weit mehr als die zahlreichen deutschen Synthie-Pop-Künstler*innen bietet und somit auch Potenzial für internationale Erfolge birgt. – Florian Hilger
13. Fontaines D.C. – A Hero’s Death
Label: Partisan/VÖ: 31.07.
Lauscht man dem zweiten Album der Post-Punks aus Dublin, so hört man deutlich, wie sehr die Band in kurzer Zeit gewachsen ist. Die elf Songs klingen deutlich ruhiger und gereifter als die ihres Debütalbums Dogrel (2019), was aber keineswegs heißt, dass das Quintett seine Ecken und Kanten verloren hat. A Hero’s Death besticht vor allem durch seine Vielfalt: Während sich I Don’t Belong – der erste und einer der stärksten Songs des Albums – beispielsweise wie eine Reminiszenz auf die Anfänge des Post-Punk hört, ist der Closer No eine fließende Ballade. Nach Erscheinen von Dogrel hätten sich Fontaines D.C. durch Tourstress und Hype fast verloren. Aber glücklicherweise nur fast. – Olivia Braun
12. Turbostaat – Uthlande
Label: PIAS/VÖ: 17.01.
Uthlande ist ein alter Begriff für die Halligen, Inseln und Marschen vor dem nordfriesischen Festland und passt wie Arsch auf Eimer für eine Platte, mit der sich die fünf Husumer ihrer Herkunft widmen – textlich wie musikalisch, und die einen Gegenentwurf zum komplexeren Konzept-Vorgänger-Album Abalonia darstellt, das den Blick auf die Geschehnisse in der Welt richtete. Es rumpelt und poltert wieder mehr bei Turbostaat, so stürmisch wie in Hemmingstedt hat man sie seit dem Debüt Flamingo (2001) nicht mehr erlebt. Uthlande vereint alles, was die Band ausmacht: einen tobenden, schreienden, flüsternden Jan Windmeier, windschiefe Gitarren, und eigenwillige Texte, die vom Leben abseits der Norm erzählen (Stine), von tödlichen Krankheiten, die den Körper bereits zerfressen haben (Meisengeige) oder von AKWs in die Atmosphäre gespuckt wurden (La Hague). Darüber hinaus vergessen Turbostaat ihr politisches Sendungsbewusstsein nicht: Rattenlinie Nord richtet sich voller Wut gegen nationalsozialistisches Gedankengut und gegen Verdrängen und Vergessen. Viel besser geht deutschsprachiger Punkrock nicht. – Marlo Oberließen
11. Kvelertak – Splid
Label: Rise/VÖ: 14.02.
Während Nattesferd, das letzte Album mit dem 2018 ausgestiegenen Frontmann Erlend Hjelvik, deutlich progressiver und melodischer ausfiel und mehr in Richtung Classic Rock schielte als Kvelertak und Meir, kehren Kvelertak mit ihrem vierten Album und dem neuen Frontmann Ivar Nikolaisen (auch: The Good, The Bad And The Zugly) wieder mehr zu ihren Wurzeln zurück. Zum ersten Mal erklingen die Songs des norwegischen Sextetts gleich zweimal in englischer Sprache, einmal darf sogar Mastodons Troy Sanders dabei mithelfen. Wie keine zweite Band schaffen es Kvelertak auch auf Splid und mit neuem Sänger, Hardcore, Punk, Hardrock, Black Metal sowie Heavy Metal zu einem schmackhaften Gebräu zu vermengen. – Jonathan Schütz
10. Touché Amoré – Lament
Label: Epitaph/VÖ: 09.10.
Wie es nach dem alles verändernden Meisterwerk weitergeht, musste sich Frontmann Jeremy Bolm nach Stage Four fragen. Nachdem er sich darauf textlich vollständig nackt gemacht und den Krebstod seiner Mutter therapiert hatte, sucht er lange nach dem einen Thema für das fünfte Album und landet schließlich bei vielen kleinen Geschichten, die das US-Quintett mithilfe von Justice Tripp (Trapped Under Ice), Julien Baker und Andy Hull (Manchester Orchestra) erzählt. Auch mit Nu-Metal-Star-Produzent Ross Robinson auf dem Produzentenstuhl schlagen Touché Amoré weiterhin die Brücke zwischen Indierock-Gitarren und dem Sturm & Drang des Post-Hardcore und bleiben neben La Dispute dessen beste Storyteller. – Jonathan Schütz
9. All Them Witches – Nothing As The Ideal
Label: New West/VÖ: 04.09.
Das beeindruckende am Musikjahr 2020: Wie es auch gestandene Bands, die den Schwung der Anfangsphase bereits hinter sich haben, schaffen, ihre vorherigen Alben zu toppen und ihren Sound zu erweitern oder zu perfektionieren. Dazu gehören auch die 2012 in Nashville gegründeten All Them Witches, die mit Nothing As The Ideal eine weitere geniale Platte zwischen Blues, atmosphärischem Psychrock, Stoner-Riffs aus Palm-Desert und Folk-Momenten zusammengebastelt haben, welche sich von den bisherigen fünf nicht großartig unterscheidet, außer, dass die Qualität der Songs eine Fußlänge besser ist. Acht sind es auf Nothing As The Ideal, zwei davon über neun Minuten, von denen es töricht wäre einen hervorzuheben, da man den übrigen sieben Unrecht tun würde. Wie alle brillanten Alben verdient es Nothing As The Ideal als Ganzes gehört zu werden. Wer meint darauf verzichten zu können, verpasst eine der besten Rockbands der Gegenwart. – Marlo Oberließen
8. Deftones – Ohms
Label: Reprise/VÖ: 25.09.
Vier Jahre nach dem umstrittenen Gore erscheint mit Ohms nicht nur das bereits neunte Album der Kalifornier, sondern auch ein Prototyp für deren nicht zu imitierenden Kompositionsstil. Zusammen mit White Pony-Produzent Terry Date hat das Quintett einen homogeneren Sound geschaffen, sodass der Gruppe das 32-jährige Bestehen fast nicht anzuhören ist. Auf This Link Is Dead keift Sänger Chino Moreno in sein Mikrofon wie seit Around The Fur nicht mehr, während Schlagzeuger Abe Cunningham messerscharfe Hi-Hats durch den Raum schleudert. Auch Gitarrist Stephen Carpenter darf endlich wieder mehr mit dissonanten Riffs reingrätschen (Error). Die Ekstase der Musiker klingt tödlich, und die Reibung zwischen Yin und Yang durchdachter denn je zuvor. – Alex Loeb
7. The Hirsch Effekt – Kollaps
Label: Long Branch/VÖ: 08.05.
Das Coronavirus hat von vielem abgelenkt. Wie gut, dass The Hirsch Effekt gerade rechtzeitig kommen, um das wohl beste Klimaschutzalbum zu schreiben, das sich Greta Thunberg hätte wünschen können: eine Biographie im Audioformat. Das fünfte Album der Hannoveraner analysiert beispielsweise heutige und zukünftige Diskurse zur Klimaschutz-Aktivistin (Domstol), und jagt dabei Sound-Schnipsel der Schwedin durch den Fleischwolf (Deklaration). So drastisch wie ihre Hilferufe für den Planeten ist auch die Musik, mit der The Hirsch Effekt das Powerpaket schnüren. Von Black-Metal-Passagen hin zu verspielter Rhythmik wie Leprous es lieben, ist die Band auf Kollaps lyrisch und instrumental nicht zu bändigen und ein Muss für Musikfans. – Alex Loeb
6. Biffy Clyro – A Celebration Of Endings
Label: Warner/VÖ: 14.08.
Ächzende Schreie in Cop Syrup, Mathrock-Breaks jenseits von Gut und Böse (North of No South), und skurrile Taktarten – A Celebration of Endings ist seit Infinity Land das bis dato progressivste Biffy-Clyro-Album in jederlei Hinsicht. Textlich rechnet Simon Neil mit toxischen Freundschaften (End Of), dem Klimawandel (The Champ), und seinen anarchistischen Fantasien im Epos Cop Syrup ab. Nach der eher mageren, elektronisch negativ vorbelasteten Single Instant History präsentiert der Großteil der Songs die Gruppe in Höchstform. Wo der Vorgänger Ellipsis Fragezeichen im Songwriting hervorrief, machen hier zukünftige Festivalhymnen und Biffy Clyros mitunter beste Gitarrenriffs solche qualitativen Vergleiche irrelevant. Mon the Biff! – Alex Loeb
5. Bring Me The Horizon – Post Human: Survival Horror
Label: Sony Music/VÖ: 30.10.
Keine zwei Jahre nach dem bislang letzten Album Amo distanzieren sich Bring Me The Horizon mit diesem Minialbum von dessen hoher Pop-Zuneigung. Das Quintett ist aktiver denn je – Post Human: Survival Horror ist nur der Auftakt zu einer Reihe neuer EP-Veröffentlichungen. Ohne Amo wären diese neun Songs dennoch nicht möglich gewesen, denn gekonnt kombinieren Bring Me The Horizon ihre neuere Popaffinität mit härterer Musik für Fans älterer Alben. Features von Babymetal oder Yungblud werten das Album auf und sorgen für ein abwechslungsreiches und kurzweiliges Hörvergnügen. Neben Amo ist Post Human: Survival Horror die wohl vielseitigste Platte, die die Briten bisher veröffentlicht haben. Das spiegelt auch die lyrische Komponente wieder: Songs wie Dear Diary und Parasite Eve vertonen die Lockdown- und Pandemie-Situation in einem apokalyptischen Ausmaß. – Florian Hilger
4. Enter Shikari – Nothing Is True & Everything Is Possible
Label: SO Recordings/VÖ: 17.04.
Aufatmen: Die Rückkehr zu einem stärker politisch orientierten Album kommt für Enter Shikari in Kombination mit ein paar der wohl experimentellsten Songs, die die Gruppe seit 2015 geschrieben hat. Bis auf Background-Vocals gänzlich frei von Geschrei glänzt das sechste Album der Briten durch knallende Produktion seitens Sänger Rou Reynolds. {the dreamers hotel} hüpft typisch genreverweigernd zwischen aggressiv ausgespucktem und engelsgleichem Gesang, ist als Vorabsingle jedoch nur ein Teileindruck des Geschehens. Zusammengehalten von Easter Eggs links und rechts ist Nothing Is True & Everything Is Possible zugleich Zusammenfassung und Manifest des sich stets radikal verändernden Bandsounds. – Alex Loeb
3. Code Orange – Underneath
Label: Roadrunner/VÖ: 13.03.
Nach ihrem knochenzerberstendem zweiten Album Forever hat die Gruppe aus Pennsylvania mit Underneath den Soundtrack zum Lockdown veröffentlicht. Wesentlich mehr vom Noise und Industrial heimgesucht bietet sich dem Zuhörer ein Horrorspektakel im Audioformat: Zwischen dem kühlen (deeperthanbefore) bis hin zum erlösenden Titeltrack nehmen Höhenflüge gleichermaßen die Form pulverisierender Breakdowns oder strategischer Stille an. Durch ihre Livestream-Konzerte und einen Akustik-Gig im MTV-Unplugged-Stil hat das Sextett in diesem Jahr bereits mehrfach unter Beweis gestellt, dass die Zukunft des modernen Metalcore wohl an diesem Album gemessen werden wird. Doch wer weiß, was uns bei dieser Band noch erwartet. – Alex Loeb
2. Phoebe Bridgers – Punisher
Label: Dead Oceans/VÖ: 19.06.
Was für ein Renommee sich die 26-jährige Kalifornierin Phoebe Bridgers seit der Veröffentlichung ihres Debütalbums Stranger In The Alps (2017) mit der Supergroup Boygenius (mit dabei: Julien Baker und Lucy Dacus) sowie der gemeinsam mit Bright-Eyes-Frontmann Conor Oberst gegründeten Band Better Oblivion Community Center aufgebaut hat, ist mehr als beachtlich. Bevor ihr zweites Album Punisher erschien, waren die Erwartungen dementsprechend extrem hoch, sind vielleicht aber sogar noch übertroffen worden. Der Schlafzimmer-Indiepop ist ein Spiegel ihrer großen Songwriting-Kunst. Phoebe Bridgers nimmt ihre Hörer*innen mit auf einen Streifzug durch elf Songs voller schöner Schwermut, verliert sich dabei aber niemals in Eindimensionalem, sondern scheint immer noch einen Trick in der Hinterhand zu haben. – Olivia Braun
1. Idles – Ultra Mono
Label: Partisan/VÖ: 25.09.
Idles sind die Alternative-Sensation der letzten 15 Jahre. Bis man eine Rockband findet, die mit einem so dreckigen Sound wie das britische Quintett innerhalb kürzester Zeit nicht mehr kleine Clubs, sondern 10.000er Hallen wie das Londoner Alexandra Palace ausverkauft, muss man bis zu den Arctic Monkeys oder gar The Libertines zurückgehen. Das dritte Album Ultra Mono stellt dabei im Vergleich zum 2018er Durchbruchswerk Joy As An Act Of Resistance sogar eine Weiterentwicklung dar: Der Noise-Punk wirkt noch ausgereifter und angriffslustiger, die Anreicherung durch Elemente aus dem HipHop funktioniert und Sänger Joe Talbot hat seine Parolen voller Liebe noch einmal präzisiert. In ihrer Heimat hat das erstmals für Platz eins der Albumcharts gereicht. Auch wir setzen Idles auf den Thron – kein Album hat in diesem Jahr besser unseren gemeinsamen Nenner getroffen. – Jonathan Schütz