Die Suche nach der Motorik: Tocotronic im Interview zu ihrem neuen Album „Nie wieder Krieg“

Die Parolen wurden geschrien, das Ich dekonstruiert, die Meisterwerke geschrieben – und jetzt? Die Entdeckung der Leichtigkeit und die Rückbesinnung auf das eigene Leben als Ausgangspunkt für Poesie.

Ist das noch Altersmilde oder man selbst bereits jemand, der man nie sein wollte? Bis wann ist es Gelassenheit und ab wann Müdigkeit? Wofür Leichtigkeit, wenn der Stein schneller sinkt als die Feder? Und: spielt das überhaupt eine Rolle? Fragen, die man sich mit knapp Dreißig mal stellen sollte, möchte man nicht in die Bedeutungslosigkeit abrutschen – sei es als Privatperson oder als Band. Tocotronic haben die Frage für sich 2018 zum 25. Geburtstag und zwölften Album Die Unendlichkeit mit einem Rückblick auf das Bisherige und einer Abkehr vom theoretischen Überbau beantwortet. Daran knüpft Nie Wieder Krieg, das aufgrund der Pandemie etwa ein Jahr verspätet erscheintnahtlos an – auch wenn die zwölf darauf enthaltenen Songs sich weniger mit der eigenen Geschichte befassen, und mehr auf die Selbstwahrnehmung und die Macht der Beobachtung vertrauen. Bedeutungsvoll wird es von selbst, steckt der Teufel im Detail und die Welt, in der wir uns bewegen, knietief in der Scheiße. In der Welt von Tocotronic-Gitarrist, -Sänger und -Texter Dirk von Lowtzow wird der Coupon von Sanifair zur pazifistischen Parole, die Kräuter der Provence mit der Pizza im Tiefkühlfach zur Metapher für das falsche Leben im falschen, und das Schicksal zweier Menschen, die das Leben zueinander wie aneinander vorbeiführt, zur lyrischen Meisterleistung, zur Unterwasserfantasie. Nie Wieder KriegIch hasse es hier und Ich tauche auf heißen die dazugehörigen Songs. Ich hasse es hier ist ein Beispiel dafür, wie merkwürdig und humoristisch ein Tocotronic-Song entstehen kann: Bei einem Spaziergang und mit der Erinnerung an die Jugendzeit, zu der das Aufpeppen von Tiefkühlpizza gehört wie das Ausbrechen wollen und der erste Liebeskummer, bei dem man noch denkt, dieses elendige Gefühl bleibt für immer. Kommen die Ideen nicht beim Spazieren, im Bus oder in der Bahn, entstehen sie ganz unromantisch am Schreibtisch – am frühen Morgen, „wo man auch in einer Zwischenwelt und so ein bisschen in sich versunken, und in seinen Gedanken getaucht ist“. Auch sind die drei Songs ein Spiegel des Facettenreichtums der Band, der sich aus der Verschiedenheit der vier Charaktere, des Dazustoßens von Rick McPhail als zweiten Gitarristen im Jahr 2005 und aus der Entscheidung, sich nicht entscheiden zu wollen, ergibt. „Ich erinnere mich zum Beispiel, dass es schon zu meiner Teenagerzeit so war, dass ich mich nie richtig entscheiden konnte, will ich jetzt eigentlich Artpop hören oder New-York-Hardcore, und das hat mich teilweise in große Identitätskonflikte gestoßen“, so von Lowtzow.

Die Identitätskonflikte gehören der Vergangenheit an, die musikalische Grenzenlosigkeit ist geblieben. So reichen die Stücke auf Nie Wieder Krieg von Rockcombo-Songs mit Noise-Einschlag wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus (Odön von Horváth und Sonic Youth lassen grüßen) über zarte, verletzliche Momente, die er als Leonard-Cohen-artig beschreibt, bis zu Leichtfüßigkeit in Nachtflug, bei denen Kings Of Convenience Pate gestanden haben. „Diese Leichtigkeit ist etwas, das zu erreichen sehr sehr schwer ist“, so von Lowtzow. „Wenn man das Gefühl hat, dass Songs einfach so hingetupft sind, fliegen, ein Eigenleben haben sowie eine eigene Motorik, und sich von selbst bewegen, wie so ein Perpetuum Mobile.“ Über diese ganz eigene Motorik verfügen Tocotronic seit jeher – anfangs gewollt ungelenk, dann starr und manifest, jetzt leichtfüßig und schwebend, selbst wenn das bei ihnen bedeutet, leichtfüßig durch die Desillusion zu stapfen. Dass diese Desillusion persönlich, und nicht theoretisch gefärbt ist, hat laut von Lotzow mit der Faszination für autofiktionale Literatur, und Schriftsteller*innen wie Chris Kraus, Eduard Louis oder Rachel Cusk zu tun, und bei Ich öffne mich vom Roten Album zurück ins Schaffen von Tocotronic gefunden: „Irgendwann gab es diesen Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, es wäre schön, wieder mehr über das eigene Leben zu erzählen und vielleicht als Hörer*in davon zu erfahren.“ Vor allem die schonungslose Offenheit sei etwas, das ihn daran beeindrucke, und die man auf Nie Wieder Krieg in Songs wie Crash, Ein Monster kam am Morgen oder Leicht Lädiert findet. Klingt erstmal gut, birgt aber auch die künstlerische Gefahr, den Blick für das Maß zu verlieren, und die Miserabilität auf eine perverse Art zu genießen, wie es von Lotzow nennt. Diese Gefahr umgehen Tocotronic auf Nie Wieder Krieg dadurchdass etwa Hoffnung und Liebe Gegengewichte zur Trostlosigkeit bilden, und eine Zweideutigkeit ergeben, die das Leben bestimmt. Hoffnung und Verzweiflung. Leichtigkeit und Schwere. Das Ich dekonstruieren, um es kennenzulernen. Möglicherweise hängt das alles zusammen, bedingt das eine das Andere, und findet erst dadurch zur Vollkommenheit: „Es muss schon immer diese zwei Pole geben: Einerseits Verzweiflung, (…) und andererseits muss den Leuten, die das hören, das Gefühl gegeben werden, hier gibt es in der Musik sowas wie eine Hand, die sich einem beim Hören auf die Schulter legt.“