Review: Tocotronic – Nie wieder Krieg

Warum Theorien als Ausgangspunkt für Songs benutzen, wenn bei den eigenen Augen das Gefühl mitdenkt? Spricht nicht viel dafür, sagen auch Tocotronic und ihr 13. Album Nie Wieder Krieg.

Okay, den Meisterwerken hatte das Quartett bereits 2010 auf Schall und Wahn abgeschworen, aber selbst ein Album über die Liebe wie das Rote von 2015 erweckte den Anschein, als entspränge es eher dem Kopf als dem pumpenden Ding in Dirk von Lotzows Brust. Autobiographisch wurde es 2018 auf Die Unendlichkeit, was klang, als würde man in einem Fotoalbum blättern. Nie Wieder Krieg stellt ebenso das Persönliche in den Vordergrund. Jedoch handelt es sich hierbei weniger um autobiografische Poesie, als um Beobachtungen mit Verallgemeinerungspotential, was auch daran liegt, dass die Slogans zurück sind: Nie Wieder Krieg, Komm mit in meine freie Welt und Jugend ohne Gott gegen Faschismus. Liegen in wenigen Worten essenzielle Grundsätze, liegt das Politische im Privaten, und die mit Kräutern der Provence „verfeinerte“ Tiefkühlpizza als Symbol für die verzweifelten Versuche etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist, im Ofen. Auf das in seiner Naivität jugendliche Ich hasse es hier folgt mit Ich tauche auf ein lyrisches Meisterwerk, das sich der Wirklichkeit entzieht, und durch das Duett mit der österreichischen Künstlerin Soap&Skin auch musikalisch berührt. Neigt man bei Tocotronic auf Grund der Groß- und Eigenartigkeit der Texte („Ich habe dich noch nie gesehen/Oben bei den Lebewesen/Hier bist du nie gewesen/Nur gelesen habe ich von dir“) dazu, die Musik aus den Augen zu verlieren, symbolisiert Nie Wieder Krieg einmal mehr, wie sich beide Pole bedingen. Erst durch die musikalische Untermalung erreichen Zeilen wie „Wenn ich dich nicht bei mir wüsste/Hätte ich umsonst gelebt“ aus Hoffnung ihre Dringlichkeit, und erst durch den Text erfährt die Musik ihre volle Bedeutungskraft.

Wie auch Die Unendlichkeit zeichnet sich die Platte durch musikalische Uferlosigkeit aus. Jugend ohne Gott gegen Faschismus rumpelt so, als wäre 1995, und Youth Against Fascism von Sonic Youth erst vor drei Jahren geschrieben worden, Crash steht in der Tradition amerikanischer West-Coast- und Country-Musik, während der Opener und Titeltrack orchestral wie erhaben den Vorhang aufzieht. Nachtflug und Ein Monster kam am Morgen verhöhnen mit ihrer Leichtigkeit, The Whitest Boy Alive lässt grüßen, diejenigen, die bei Tocotronic an Diskurspop und Cordhose denken, und schweben, wie die Band selbst, über den Dingen. Und die sehen selbst von oben nicht rosig aus. In den Texten geht es viel ums Verloren fühlen, um Sehnsucht, um Vergänglichkeit, und ums Eingestehen der eigenen Verletzlichkeit: „Hier will ich mich nicht/Rechtfertigen müssen/Ich dachte nur die Welt/Läge mir zu Füßen/Doch dann habe ich realisiert/Ich bin leicht lädiert“. Und es geht um Hoffnung. Ums Befreien. Ums Ausbrechen. Und, wie könnte es anders sein, um die Liebe, die dann doch groß und universell gedacht wird, nahezu theoretisch erscheint, sodass man Tocotronic dankbar ist, dass sie bei aller Leichtigkeit den Größenwahn nicht vergessen: „Weil sie nicht warten kann/Gewinnt sie diesen Kampf/Wird die Liebe siegen/Spürt ihr nicht? Sie wird euch kriegen“.

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Label: Vertigo/Universal
VÖ: 28.01.2022

Genre: Indierock/Pop/Americana

Vergleichbar:
Ja, Panik – Libertatia
Kante – Zombi

Wertung:
12/15