Aus privaten Gründen stellen wir unseren Releaserodeo-Podcast vorerst ein. Stattdessen gibt es von unserem Redakteur Jonathan Schütz fortan eine monatliche Kolumne zu den spannendsten neuen Alben im Alternative-Sektor.
Erst vor anderthalb Jahren hatten die Viagra Boys mit ihrem zweiten Album Welfare Jazz bewiesen, dass ihr Disco-Punk-Debüt Street Worms keine Eintagsfliege gewesen ist. Mit dem dritten Album Cave World werden die Schweden endgültig zu einer der besten neuen Gitarrenbands der vergangenen Jahre. Hatte Sänger Sebastian Murphy auf den ersten beiden Platten sein Dasein in der Gesellschaft reflektiert, geht es dieses Mal ums große Ganze: Impfgegner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen – sie alle bekommen ihr Fett weg. Murphy gelingt dabei das Kunststück, solche Gruppierungen humorvoll zu entlarven. „They’re putting microchips in the vaccines/ Little creepy crawlies/ With tiny little legs that creep around your body/ Collecting information, oh, collecting information”, zetert er etwa in der Tirade Creepy Crawlers. Immer wieder zieht er dabei den Vergleich zur Steinzeit, nicht ohne Grund findet sich auf dem Albumcover der Monolith aus Stanley Kubricks Meisterwerk 2001, in dem durch einen der berühmtesten Schnitte der Filmgeschichte die Evolution vom Affen zum Menschen vollzogen wird. Die Pandemie scheint bei vielen Individuen eine Rückentwicklung losgetreten zu haben. Jedoch nicht bei den Viagra Boys, die auf Cave World ihre stilistische Bandbreite perfektionieren. The Cognitive Trade-Off Hypothesis trägt das Erbe der Gorillaz fort, Ain’t No Thief ist ein mächtiger Tanzflächenstampfer und das nach einem Synonym für Höhlenbewohner benannte Troglodyte integriert gleichermaßen Flöten und Depeche-Mode-Synthesizer in seinen Sound. Einzelne Hits lassen sich zwar extrahieren, doch vor allem als Gesamtwerk ist Cave World herausragend.
Meisterhafte Konzeptalben haben …And You Will Know Us By The Trail Of Dead en masse veröffentlicht. Ihrem elften und mit einer Lauflänge von 74 Minuten bislang mit Abstand längsten Album XI: Bleed Here Now liegt hingegen kein übergreifendes Konzept zugrunde, was schon das schlichte Albumcover andeutet. Die 22 Songs – darunter zahlreiche Interludes – bilden dabei das bisherige Schaffen der Progressive-Alternative-Rocker ab. Das 82-Sekunden-Brett Kill Everyone zollt etwa der Frühphase der Band Tribut, Golden Sail beginnt erst hymnisch und wird dann progressiv, Salt In Your Eyes zerschießen Trail Of Dead am Ende komplett und English Magic ist eine der schönsten Balladen der Bandgeschichte. Die Orgel in No Confidence schielt dagegen eindeutig Richtung Deep Purple. Aufgenommen haben Trail Of Dead das Album in einer texanischen Scheune im Quadrophonie-Verfahren, einer Vierkanal-Aufnahmetechnik, die vor der Etablierung des Dolby-Surround-Sounds geläufig war. Passenderweise haben die beiden Bandköpfe Conrad Keely und Jason Reece mehrere 70er-Synthesizer in den Albumsound integriert. Für einen schlüssigen Spannungsbogen war angesichts der Soundtüftelei jedoch keine Zeit und so kann XI: Bleed Here Now mitunter zur Geduldsprobe werden. Ein mittelmäßiges oder gar schlechtes Album haben die US-Amerikaner jedoch noch immer nicht veröffentlicht.
Auch Black Midi bleiben höchst produktiv. Ihr drittes Album Hellfire ist zugleich die dritte Platte seit 2019. Wie auf den vorherigen beiden Alben zeugt das farbenfrohe und irre Albumcover von der abgedrehten Mischung aus Prog, Jazz, Math und Noise, die die Briten darauf präsentieren. Selbst den sanften Songs wie dem großartigen Still wohnt dabei eine innere Unruhe bei, sodass musikalische Schönheit und Horrorfilm-Soundtrack nur einen Fußbreit voneinander entfernt sind. Lediglich die Ballade The Defence darf als kratzfreier Diamant schimmern. Zugleich ist der Avantgarde-Artrock von Black Midi so ausbalanciert wie nie. Das hat auch mit dem wechselnden Gesang von Gitarrist Geordie Greep und Bassist Cameron Picton zu tun. Pictons berückender Kantus stellt den Gegenpol zu Greeps mitunter manischen Vorträgen dar. Hellfire ist mindestens so abgedreht wie die vorherigen Alben von Black Midi, vor allem aber sind die hier erzählten Geschichten aus der Hölle besser komponiert als je zuvor und jede einzelne Schraube greift perfekt ineinander.
Vier Jahre sind seit dem letzten Album von Mantar vergangen und doch scheint es, als hätte die Welt zwischen The Modern Art Of Setting Ablaze (2018) und dem neuen Album Pain Is Forever And This Is The End stillgestanden. Gitarrist Hanno Klänhardt spuckt immer noch Black-Metal-Galle und es ist noch immer erstaunlich, was für eine Wucht lediglich zwei Menschen erzeugen können. Zwischen beiden Alben hatte das Bremer Duo 2020 die Cover-EP Grungetown Hooligans II veröffentlicht, auf dem es Grunge- und Noiserock-Songs der 90er gecovert hatte. Die musikalische Feldforschung lässt sich nun zumindest in Ansätzen heraushören: New Age Pagan hat etwa eine klare Fuzz-Schlagseite und das abschließende Odysseus entwickelt sogar eine leichte Post-Rock-Note. Grim Reaping wird von einem Kvelertak-Riff eröffnet, besitzt in den Strophen eine Schweinerock-Note, malt sich zum Refrain aber wieder Corpsepaint auf. „Come and knock and death will open a door“ heißt es in Egoisto und auch der nihilistische Albumtitel geht auf den Opener zurück, größter Hit der Platte ist jedoch Hang ‘Em Low (So The Rats Can Get ‘Em). Einziger Kritikpunkt ist höchstens, dass Mantar ihre Hits etwas besser hätten ausbalancieren und nicht an Anfang und Ende packen können.
Das funktioniert bei Beach Bunny und ihrem zweiten Album Emotional Creature deutlich besser. Das 2015 von Lili Trifilio gegründete Bedroom-Soloprojekt ist seit 2017 eine vollwertige Band, mit Trifilio als Songwriterin und Texterin. Der Durchbruch folgte mit den Songs Prom Queen (2018) und Cloud 9 (2020), die auf TikTok viral gegangen sind. Beach Bunny können also durchaus als Stimme der Generation Z bezeichnet werden, Emotional Creature verhandelt dementsprechend Gefühle als auch Panikattacken und Trifilio die durch die Pandemie bedingte Rückkehr ins Haus der Eltern. Der poppige Indierock klingt dabei wie ein Triumvirat aus Olivia Rodrigo, The Beths und Lizzy Farrall und wird mitunter sehr direkt was die Themen angeht. „I tried to cry, but I laughed ‚cause my brain’s acting stupid/ Panic attack, there’s a hand on my neck, I can’t move it” heißt es etwa in Eventually, das mit der dreifachen Wiederholung der Zeile „It all comes out eventually” zum Schluss die Hoffnung findet. Trifilio gelingt es zudem immer wieder, einprägsame Zeilen wie „Running away through the rain makes your socks wet” wie im Opener Entropy zu formulieren. Das wird nur noch vom Uptempo-Hit Oxygen übertroffen.
Mit Spectre veröffentlichen Stick To Your Guns ihr erstes neues Album seit 5 Jahren. Darauf lässt die Hardcore-Band zwar ihre sozialistische Schlagader durchscheinen und setzt sich mit unserer kapitalistischen und ausbeuterischen Welt auseinander, wirkt aber nicht mehr so bissig wie die Hunde auf dem Albumcover. War der Vorgänger True View noch ein ausgereiftes Konzeptalbum, wirkt vor allem die Anordnung der Songs auf Spectre mitunter etwas merkwürdig. Sänger Jesse Barnetts Geschrei klingt stellenweise zudem heiser. So entstehen die besten Momente, wenn Barnett zeigen darf, was für ein versierter Sänger er mittlerweile ist. Wie im Karl Marx zitierenden und rasenden Punk-Song A World To Win oder der Midtempo-Hymne Open Up My Head, in der Barnett voller Leidenschaft singt. Natürlich ballern Songs wie der Lionheart-Stampfer Hush noch immer gut, Who Dares und insbesondere Liberate geraten jedoch recht stumpf und eintönig. Mit der Hardcore-Hymne Weapon („My heart is a weapon“) und dem sich stetig steigernden More Of Us Than Them gibt es jedoch auch wieder Slogans für die Ewigkeit.