Morgen erscheint mit Nichts das erste neue Fjørt-Album seit fünf Jahren. Wir haben die Band zum Interview getroffen und mit ihnen nicht nur über Schnapsideen, ungewohnte Arbeitsweisen und ihre neue lyrische Direktheit gesprochen, sondern auch über gesellschaftliche Brennthemen wie den Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt, den Kapitalismus, die Fleischindustrie sowie was es bedeutet, als Musiker Teil einer weißen Überflussgesellschaft zu sein.
Drei Jahre nach ihrem bislang letzten Konzert melden sich Fjørt mit einem Paukenschlag zurück: Ende August spielt das Trio aus Aachen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sowohl in Köln als auch in Hamburg all seine bislang veröffentlichten Platten – die Debüt-EP Demontage (2012), das Debütalbum D’Accord (2014) sowie Kontakt (2016) und Couleur (2017). Während vor allem die Shows zu Demontage in kleinen, schwitzigen Clubs stattfinden, spielen Fjørt die Konzerte zu Couleur im Gloria (Köln) und Gruenspan (Hamburg) und damit in doppelt so großen Venues wie vor ein paar Jahren auf der Tour zur Platte. Obwohl die Band im Anschluss an die letzten Töne ihres dritten Albums mit einem Banner ihr viertes Album Nichts für den November ankündigt und mit Lod, Bonheur und Fernost erstes neues Material live spielt, ging dem Ganzen eine – im wahrsten Sinne des Wortes – Schnapsidee voraus und kein lange gehegter Plan zur Ankündigung des neuen Albums. „Wir sind eine Band, die sich häufig trifft, um Musik zu machen, aber auch, um den ein oder anderen Schnaps zu trinken“, erzählt Gitarrist und Sänger Chris Hell, der sich nach einem Probetag seiner Band im Musikbunker Aachen zusammen mit Bassist und Sänger David Frings vor der Zoom-Kamera eingefunden hat. „Eines Abends ist uns an einem Holztisch zu Recht später Stunde diese Idee gekommen. ‘Wisst ihr was mir mal machen müssten? Wir müssten mal alles spielen, was wir haben‘. Eine Stunde später wurde daraus, dass wir das an einem Tag machen sollten.“
„Ein paar Umdrehungen später hatten wir dann die Idee das in Köln und Hamburg an zwei Tagen hintereinander zu machen“, übernimmt David Frings. Völlig begeistert klingelt er den Manager seiner Band an und erzählt ihm von den Plänen. „Malik vom Grand Hotel van Cleef [ihr Label] meinte nur wir sollen uns ausschlafen und dass wir völlig bescheuert wären“, lacht er. Doch die Idee sitzt bereits in den Köpfen der Musiker. „Das ist bei Fjørt schon immer so gewesen. Wenn es die Idee für irgendwas gibt, bei dem wir uns gut fühlen, dann versuchen wir das zu realisieren“, sagt er. Letzten Endes wird die Schnapsidee zum vollen Erfolg und zur fulminanten Rückkehr der Post-Hardcore-Band. Hört man Frings beim Rekapitulieren der beiden Tage zu, erweckt das den Eindruck, dass Fjørt selbst noch immer von diesen 48 Stunden zehren: „Das krasseste sind einfach die Leute gewesen. Dass die Leute diese Aktion so dermaßen unterstützt haben und so zahlreich gekommen sind, das war komplett irre. Das hätten wir nie gedacht. Wir hatten drei Jahre nicht mehr live gespielt und als ob nichts gewesen wäre, sind die Läden dann pickepackevoll und die Leute freuen sich einfach nur mit dir gemeinsam zu singen und auszurasten, das war schon krass.“
Auf dem an diesen Abenden erstmals angekündigten vierten Album Nichts sitzen Fjørt zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr. Nachdem die Band den Tourzyklus zu Couleur im Sommer 2019 abschließt, beginnt sie mit der Arbeit an einem Nachfolger. Anfang 2020 sind Fjørt auf einem guten Weg, die Platte fertigzustellen, doch dann fährt der Band die Pandemie in die Parade. Fjørt lassen das Material vorerst ruhen. „Wir wollten zu dem Zeitpunkt nichts forcieren und Konzerte waren ja eh undenkbar“, erinnert sich Chris Hell. „Wir haben die ersten Monate noch echt viel an den Songs geschraubt und haben hier und da noch was hinzugefügt oder noch eine Zeile umgedreht. Wir waren so auch schon zufrieden und glücklich mit der Platte, aber das hat dem Album dann nochmal einen Kick gegeben.“ Diese Arbeitsweise ist für die Band zugleich Neuland, hatten Fjørt doch bislang immer im Proberaum an den Songs gearbeitet, diese im Studio aufgenommen und dann an ihr Label geschickt. „Es war total schön, diese üblichen Strukturen aufzubrechen“, sagt auch David Frings. „Uns haben schon viele gesagt, dass man der Platte anhört, dass wir gefühlt mehr Zeit für alles hatten.“
Da ist was dran: auf Nichts stellen sich Fjørt musikalisch so breit auf wie noch nie. Im Gegensatz zum stürmischen Couleur-Opener Südwärts beginnt das Album mit seinem Titeltrack atmosphärisch und baut sich über mehrere Minuten behutsam auf, ehe nach zwei Minuten die erste Gitarre erklingt und Fjørt nach etwas mehr als drei Minuten die erste Soundwand auffahren. Mit einem Klavierausklang kommt der Song schließlich nach etwas mehr als sechs Minuten als bislang längster Song der Band ins Ziel. Neu ist auf Nichts zudem der nuancierte Einsatz von Klargesang, was der Band ausgezeichnet steht und insbesondere im post-rockigen Fünfegrade hervorragend die Sehnsucht des Songs verkörpert. Natürlich gibt es aber auch wieder zuhauf die typischen Fjørt-Momente mit kehligem Geschrei und meterhohen Soundwänden, wie sie im Post-Hardcore kaum eine zweite Band errichtet. Songs wie Schrot oder Lakk ecken mit ihren verzerrten Gitarren zudem am Punk an.
Schrot und Lakk sind außerdem Beispiele für eine neue lyrische Direktheit der Band aus Nordrhein-Westfalen. „Was mir immer noch zeigt wir ändern uns/ Was mir immer noch zeigt/ Wir verändern uns/ Nicht/ Wir sind die Creme de la scheiß drauf/ Ich/ Dann lange nichts“, heißt es etwa in Schrot, womit Fjørt ihre Wut über den Umgang der Menschheit mit ihrer Umwelt ausdrücken. „Bei unseren vorherigen Alben waren wir bei den Texten in manchen Songs vielleicht manchmal überperfektionistisch“, überlegt David Frings. „Auf diesem Album geht es um Themen, die es einfach nicht verdient haben, umschrieben zu werden. Als 2017 Couleur rauskam, war gesellschaftlich so ziemlich alles im Eimer und das ist in fünf Jahren nochmal krasser geworden. Es reicht nicht, ein Thema wie den Klimawandel zu beschönigen oder in einen poetischen Hintergrund zu setzen.“ Den teils sehr direkten Textstellen stehen aber auch für Fjørt typische, kryptische Passagen gegenüber, deren Interpretationen den Zuhörer*innen überlassen ist. „Wir haben nicht versucht, das Album in eine Symbiose zu bringen“, bestätigt Frings. „Wir haben die Texte der jeweiligen Stimmung des Songs angepasst. Wenn es dadurch unterschiedlich geworden ist, ist das ja auch geil für die Zuhörer*innen, sich in dem Wust zurechtzufinden.“
Doch zurück zur globalen Erderwärmung. Die ist in der jüngeren Vergangenheit mehrfach Thema auf den Alben deutscher, politisch engagierter Bands wie Blackout Problems, The Hirsch Effekt oder Van Holzen geworden, und nun auch bei Fjørt. „Das hat einfach damit zu tun, dass man sich mittlerweile mehr weitergebildet hat“, äußert sich Chris Hell. „Je mehr man sich einliest und je mehr man weiß, desto schwärzer wird das ja alles. Je weniger du weißt, desto besser geht’s dir eigentlich.“ Insbesondere die Zeilen „Wir sind die Creme de la scheiß drauf/ Ich/ Dann lange nichts“ spiegeln hervorragend die Ignoranz vieler Menschen gegenüber der sich anbahnenden Klimakatastrophe wieder. „Das Ego vieler Menschen ist relativ groß und wird gefühlt immer größer“, sagt Frings. „Wir und ganz viele unserer Zuhörer*innen sind ja in einer Bubble, die relativ gut funktioniert und sozialisiert ist, die weiß, worauf es ankommt, aber man muss sich auch immer vergewissern, dass das nur ein kleiner Teil der Gesellschaft ist. Wir reden von einer globalen Erwärmung, die fast nicht aufzuhalten ist, aber es gibt Menschen, die in dieser Zeit andere Länder angreifen. Wenn jemand von draußen auf unseren Planeten schauen würde, würde der nur sagen, ‘was geht denn fucking mit euch ab‘. Wir lassen unser Ökosystem mit vollem Gewissen und vollständig informiert komplett zusammenbrechen.“ „Die Hoffnungslosigkeit sitzt schon tief“, schließt Hell.
Lakk holt dagegen zum Rundumschlag gegen den Kapitalismus aus. Dafür greifen Fjørt auf ein historisches Ereignis zurück, das viele im Song vermutlich gar nicht erkennen werden: den ersten im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Werbespot. Der 55 Sekunden lange und in einem bayerischen Wirtshaus spielende Film hatte am 3. November 1956 Premiere im Ersten Deutschen Fernsehen gefeiert. Darin zu sehen ist ein von Beppo Brem und Liesl Karlstadt gespieltes Ehepaar. Durch ein Missgeschick beim Schneiden eines Stück Fleisches beschmutzt der Mann die Tischdecke, woraufhin ihn seine Frau rügt und der vorbeikommende Wirt eine neue Decke bringen lässt und mit den Worten „Das kann doch vorkommen. Dafür gibt’s doch, Gott sei Dank, Persil“ schließt. „Dritter November sechsundfünfzig/ Karlstadt speist mit Brem/ Fünfundfünfzig Zeiger später/ Die Geburt eines Systems/ Des unbedingten Brauchens/ Dem Inbegriff von Glück“, nehmen Fjørt darauf im Song Bezug. Die Band zeigt sich im Interview begeistert über das Dechiffrieren der Textpassage und liefert anschließend weitere Hintergründe zur Entstehung des Songs.
„Wir haben viel darüber gesprochen, was eigentlich diese ganze Werbung mit einem macht“, beginnt Chris Hell. „Man kann sich nie irgendwo aufhalten, ohne dass einem ständig etwas verkauft wird. Wenn man aufmerksam durch die Welt geht, fällt einem irgendwann auf, dass alles darauf ausgerichtet ist, dass du etwas konsumieren oder kaufen musst. Wir haben uns dann irgendwann gefragt, woher das kommt und wann eigentlich Fernsehwerbung entstanden ist. Du kannst dich der Sache ja überhaupt nicht entziehen. Das ist die Wurzel von einer ganzen Menge Übel, weil so die Leute bei der Stange gehalten werden.“ David Frings stößt anschließend ins gleiche Rohr: „Wenn du dir ein Video auf YouTube anschaust, die Lautstärke auf die volle Breitseite einstellst und dann die Werbung kommt, da fliegst du fast hinten vom Stuhl um. Da gibt es für die Werbung ja nochmal einen Boost um zehn Dezibel, dass du dich voll erschreckst. Das betäubt alle deine Sinne.“
Fjørt nehmen aber nicht nur textlich Bezug auf den Werbespot, sondern bauen zunächst verwirrende Schnipsel aus diesem in den Song ein. „Der Spot hat musikalisch sehr viel hergegeben mit dieser geilen Melodie am Anfang“, schließt Frings an, bevor er die Melodie summt. „Wir wollten mit dem Song auch komplett überfordern, so wie die Werbung dich überfordert“.
Ein weiterer zentraler Song auf Nichts ist Kolt. Darin holt David Frings nach einem einminütigen Intro inklusiver ohrenbetäubender Soundwand zum Sprechgesang und zu Textzeilen aus, die einem als Teil einer weißen Überflussgesellschaft kalt den Rücken runterlaufen können. „Ich bin ein Kind von fünfundachtzig/ Wahrlich wacker gebaut/ Weil ich immer alles hatte/ Mehr als was man so braucht/ Nie gefesselt/ Nie geschunden/ Immer wohlauf genährt/ Hab nie dafür gerackert/ Das wurd mir so beschert“, heißt es zu Beginn, bevor er auf seine Elterngeneration zu sprechen kommt, die nach dem Zweiten Weltkrieg als erste Nachkriegsgeneration ihr Land mit harter Arbeit wieder aufgebaut hat und sich selbst ein lebenswertes Leben erst erarbeiten musste. „Während ich verdammte Zeilen auf meinem Rechner neu sortier/ Werden in Nordkorea Menschen weil sie denken deportiert/ Hunderttausend in den Minen damit der Staat auch funktioniert/ Kzs nie aus der Mode“, heißt es dagegen in der zweiten Strophe. „Kein Fußbreit dem Faschismus klingt echt gut wenn man auch da ist/ So viele sind da draußen die so vieles besser machen/ Hut ab vor euch Iuventa-crew für Mut den ich nie hatte/ Kann zwar Texten und kann schreien doch mein Beitrag ist blamabel/ Von der Bühne kann ich niemandem den Magen voller machen“, textet Frings schließlich in der dritten Strophe. Darüber hinaus packt er sich im brachialen Refrain an die eigene Nase: „Ich tue gar nichts, weil es gemütlich ist, hier bei uns/ Tue gar nichts/ Und bin gnadenlos informiert/ David, fick dich“.
„Der Text sollte dem Ganzen auf den Grund fühlen, dass man keinen Deut besser ist als alles, was man sonst so in den Texten kritisiert“, äußert sich der Autor des Songs. Während er bei Zeilen wie „Wir sind die Creme de la scheiß drauf“ die Wir-Form verwendet, sich bewusst in den Pluralismus setzt und als Teil von vielen bezeichnet, die etwas falsch machen, war es ihm bei diesem Song wichtig, sich nur mit dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen. „Wenn wir einen Song wie Couleur spielen, ist für uns immer wieder klar, dass wir uns unsere Meinungsfreiheit erhalten müssen, komme was wolle“, schließt er an. „In dem Fall war mir wichtig, einfach mal persönlich zu konstituieren, dass man dadurch, dass man sehr aufgeklärt ist und in einer guten Szene sozialisiert wurde, vieles vernünftig und richtig macht, aber auch gottverdammt viel falsch und das einem immer klar sein muss. Das muss man sich permanent ins Gedächtnis rufen und nicht immer nur auf die anderen zeigen.“
Ihm hätten infolge des Songs viele Freunde gesagt, dass er dadurch, dass er auf der Bühne steht, Songs spielt und den Leuten etwas mit auf den Weg gibt, ein Multiplikator sei und auf Leute einwirken könne, etwa durch das Wettern gegen Faschismus. „Ich kann aber trotzdem niemanden von der Bühne aus den Magen voller machen“, erwidert Frings. „Wenn man sich fragt, was effektiv das viel Sinnvollere für den Planeten oder das gesellschaftliche Zusammenleben wäre, dann ist es für mich realistisch betrachtet nicht das Musikmachen auf einer Festivalbühne um 15 Uhr. Mir haben ganz viele Leute natürlich das Gegenteil gesagt, dass es wichtig sei, dass ich das mache, weil es ihnen viel gebe, aber das ist oft einem nicht so klar und das will ich für mich auch nicht vereinnahmen.“
Nochmal zurück zum Song Lakk. Der rechnet nicht nur mit dem Kapitalismus, sondern auch mit der Fleischindustrie ab. „Wer im Jahr des einundzwanzig noch Tiere konsumiert/ Gehört geteert und dann gefedert vor die Schlachtbank transportiert/ Es gab uns niemand je das Recht uns über andere zu erheben/ Nur die absolute Pflicht zum Schutz von allem, was uns unterlegen“, heißt es in der Mitte des Songs. „Es gibt keinen Grund heutzutage Fleisch zu konsumieren“, sagt David Frings stellvertretend für seine Band, die „schon relativ lange auf tierische Produkte verzichte“. „Wir sind ja auch nicht fleischfrei auf die Welt gekommen, bei uns hat irgendwann über unsere Sozialisation ein Prozess des Umdenkens begonnen. Früher war man ja nicht so informiert, wie man das heute ist. Mit dieser breiten Informationsmasse, wie wir sie heute haben, gibt es einfach keinen Grund, Fleisch zu essen. Der Grund, warum man dann noch konsumiert, ist, dass Leute nicht verzichten können.“
Fjørt erheben aber nicht nur den Zeigefinger, sondern machen im begrenzten Rahmen eines Songtextes auf eines der grundlegenden Probleme der Fleischindustrie aufmerksam: die Massentierhaltung, bei deren Anblick sich vermutlich vielen Fleisch konsumierenden Menschen der Magen umdrehen würde. „Wenn man sich dafür entscheidet, Fleisch zu essen, dann sollte man auch nicht weggucken“, übernimmt Chris Hell. „Wer das macht, der gehört direkt davor transportiert und soll das bitte sehen. Das ist die Wurzel allen Übels, dass man all diese Dinge, die da passieren, systematisch nicht gezeigt bekommt. Niemand bekommt freiwillig vorgeführt, wie diese Dinge produziert werden. Du musst dich schon aktiv damit beschäftigen. In dem Text steckt auch drin, dass, wenn du das machst, du auch wirklich wissen solltest, was da passiert. Wenn du dann immer noch sagst, dass du eine Massentierhaltung gut findest, dann ist es letzten Endes eine Gewissensentscheidung.“
Eine richtige Lösung für das Problem hat die Band auch nicht parat, David Frings gibt sich zum Abschluss aber noch einmal kämpferisch. „Wenn wir den Song auf einem Festival spielen und damit irgendwen, der sich gerade eine Bockwurst am Stand geholt hat, kriegen und dass auf einmal diese Bockwurst nicht mehr schmeckt, dann hat die Musik ein Stück weit eine Sache verändert und dann war es richtig, dass diese Zeilen da so stehen“.