Endlich! Mit zwei Jahren Verspätung feiern La Dispute in Deutschland das zehnjährige Jubiläum von Wildlife – ein Meilenstein des Post-Hardcore.
Wildlife – wo fängt man da an? Bei dem mühelos zwischen Hysterie, beschwörendem Sprechgesang und kehligem Geschrei wechselnden Jordan Dreyer? Bei den von ihm erzählten Geschichten, die von Tod, Trauer, vom Bleiben, vom Weggehen, von den alltäglichen Tragödien und denen, die über Alltag hinausgehen handeln? Bei der Musik, welche die wortgewaltigen und Versmaß ignorierenden Texte untermalt; mal vertrackt mit Postrock-Elementen, mal garstig? Bei King Park, dem Über-Song, der alles was La Dispute ausmacht kulminiert? Oder damit, dass jedes Post-Hardcore-Album nach 2011 sich mit Wildlife messen lassen muss? Wie wichtig die Platte auch 12 Jahre nach Veröffentlichung noch ist, zeigt ein Blick auf den Veranstaltungsort: Auf Grund der hohen Nachfrage musste das Konzert von der Essigfabrik in die deutlich größere Live Music Hall verlegt werden, in der sich mindestens drei Generationen zusammengefunden haben. Bevor das Quintett aus Grand Rapids, Michigan zu a Departure die Bühne betritt, gibt es mit Oceanator und Pool Kids zwei Vorbands zu hören, bei deren Auswahl La Dispute ein Gespür für Diversität beweisen: Elise Okusami alias Oceanator spielt auf der E-Gitarre herrlich schrammelige Songs, irgendwo zwischen Indie und Pop-Punk, während Pool Kids Pop-Sensibilität mit Mathrock kreuzen und auf Rockstargesten anstatt auf Intimität setzen.
Um 20:45 ist es dann soweit: Das Licht geht aus, die metallischen Klänge vom Willdlife-Opener a Departure erklingen, La Dispute betreten die Bühne Dreyer richtet die ersten beschwörenden Zeilen ans Publikum: „To scrached out/ For everything.“ Es dauert keine zehn Minuten, bis sich der Frontmann ins Publikum stürzt, als wäre er nicht in einer Mehrzweckhalle mit Bühnengraben und Securitys, sondern in einem kleinen, räudigen Punk-Schuppen à la Club Scheisse, in dem sie ihr erstes Deutschland-Konzert gespielt haben, wie der 35-Jährige mit einem Lachen erzählt. Auch wenn das Kölner Publikum Zeit braucht, um auf Betriebstemperatur zu kommen, spätestens beim vierten Song Edit Your Hometown schreien alle mit: „Don’t make the same mistake as me/Don’t make the same mistake.“ Es ist heiß, es ist laut, Fäuste werden in die Lüfte gereckt, Arme um fremde Schultern gelegt und ein Kreis um diejenigen gebildet, die sich ihre Schuhe zubinden müssen. Also alles so, wie man es von einer La-Dispute-Show erwartet und von einer Band, die sich energetisch wie präzise durch die vierzehn Songs spielt.
Vor allem Dreyer, dieses kleine schmale Energiebündel, liefert eine Meisterleistung ab: Er springt, rennt, keift, balanciert auf der Bass Drum von Brad Lugt, und bringt dazwischen seine intensiven Zeilen unter – kein Wunder, dass ihm hin und wieder die Stimme versagt. Das Highlight des Abends bildet King Park, das Schlüsselstück des Albums, und ein Paradebeispiel dafür, wie ein Song Leid in Musik übersetzen kann. Das ist große Kunst und entfacht besonders live eine ungeheure Emotionalität: „Can I still get into heaven if i kill myself?“ – aus mehr als tausend Kehlen. Nach knapp einer Stunde und dem Closer You and I in Unison beenden La Dispute den Wildlife-Teil, um nach kurzer Pause Andria vom Debüt Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair sowie Rooms Of The House-Opener Hudsonville MI 1956 nachzuschieben. Besonders Andria wird frenetisch gefeiert, was auch dem ansonsten stoisch hereinblickenden Bassisten Adam Vass ein Grinsen entlockt – weshalb sich über zwei, drei Songs mehr vermutlich niemand im Publikum beschwert hätte. Aber auch so bleibt neben aufgeschürften Ellenbogen und schmerzenden Knie die Erkenntnis: Ein unfassbar wichtiges Album, eine unfassbar wichtige Band.
© Fotos von Jonathan Schütz