The Hirsch Effekt haben mit ihrem neuen Album Urian im Gepäck und mit starkem Support das Frankfurter Nachtleben in einen stickigen Prog-Keller verwandelt.
Im Sommer gleicht der Besuch des an der Zeil gelegenen Veranstaltungsortes dem einer Sauna, während man sich in den Wintermonaten gerne in dem im Keller gelegenen Nachtleben aufwärmt. Heute schnappt man vor dem Konzert und zwischen den beiden auftretenden Bands gerne so lange wie möglich frische Luft, für beide Bands verzichtet man aber gerne während der jeweiligen Auftritte darauf. Den Abend eröffnen die wie The Hirsch Effekt aus Hannover stammenden A Kew’s Tag mit einer ganz eigenen Interpretation von Progressive Rock: mit einer akustischen anstelle einer elektrischen Gitarre. Die spielt Gitarrist Johannes Weik dermaßen hart, dass der Musik des Trios trotz der ungewöhnlichen Instrumentierung im Vergleich zu anderen Bands des Genres nichts an Wucht fehlt. Auch dank des Schlagzeugspiels von Fenix Gayes vom Progressive-Kollektiv Soulsplitter, der den sich im Urlaub befindenden Florian Weik vertritt, klingt die Musik von A Kew’s Tag immer wieder virtuos. Veredelt wird ihr Prog-Rock von starkem Klargesang von Sänger Julian Helms, den Weik immer wieder mit gutturalem Gesang unterstützt. Das begeistert über die vollen 35 Minuten.
Prog-Fans begeistern The Hirsch Effekt auf Albumlänge mit dem Ende September erschienenen Urian bereits zum sechsten Mal. Bis das Trio erste Songs der Platte heute Abend spielt, vergehen allerdings ganze 30 Minuten. Ihr 100-minütiges Set eröffnet die Band aus Hannover mit Agnosie vom dritten Album Holon: Agnosie. Hier sitzt alles: das technisch anspruchsvolle Geballer, der immer wieder eingestreute Ohrwurm-Refrain, die starke und auf den Punkt programmierte Lichtshow sowie die immer wieder vom Bühnenboden nach oben steigenden Nebelschwaden. Was den Live-Sound angeht, reicht The Hirsch Effekt sowieso kaum eine andere deutsche Prog-Band das Wasser. Während Bassist Ilja John Lappin beim ersten Song mehrmals den vor sich platzierten Monitor erklimmt, übernimmt er nach dem eröffnenden, famosen Gitarrenriff von Nils Wittrock beim folgenden Hit Palingenesis den gutturalen Gesang als auch den Klargesang. Den Großteil der Songs singt und schreit allerdings Wittrock. Gleich zwei starke Stimmen in der Band zu haben, ist eine von vielen Stärken von The Hirsch Effekt. Mit Zoetrop vom Debütalbum Holon: Hiberno folgt an dritter Stelle der heute älteste Song, der beweist, dass die Band schon vor 13 Jahren eine Prog-Macht gewesen ist. Inukshuk schlägt inmitten epochaler Soundwände melancholische Töne an, ehe nach Nares mit dem Titeltrack der erste Song von Urian folgt.
Das siebeneinhalbminütige Stück ist einer der härtesten Songs der gesamten Diskografie von The Hirsch Effekt. Lappins dämonisch hallende Growls werden zwar von Wittrocks Gesang konterkariert, insgesamt überwiegt aber trotz eines kurzen Jazz-Parts das Geknüppel. Die Setlist konzentriert sich auch bei den folgenden drei Songs auf das neue Album: Granica beginnt ruhig und mit Klargesang und schwingt sich erst in Post-Rock, dann in Post-Metal auf. Für Agora tauscht Lappin seinen Bass gegen ein Cello ein, Wittrock seine elektrische gegen eine Akustikgitarre und Schlagzeuger Moritz Schmidt sein Drumset gegen einen Bass. Selbst eine Ballade performen The Hirsch Effekt mit einem gewaltigen Selbstverständnis. Den Urian-Block beschließt die fast zehnminütige Artcore-Machtdemonstration Otus. In Lifney formt Wittrock anschließend die wahrscheinlich komplexeste Gitarrenfigur des Abends. Nach Kollaps – dem heute leider einzigen Song des gleichnamigen und 2020 erschienenen fünften Albums – beenden das fast zwölfminütige Mara sowie die neunminütige Zugabe Cotard ein herausragendes Konzert und eine Lehrstunde für sämtliche Bands progressiver Musikgenres.
© Fotos von Valentin Krach