Review: Die Nerven – Wir waren hier

Das Album nach dem Meisterwerk – scheint, als ob sich die Nerven daran gewöhnen müssen.

Mit dem vor zwei Jahren erschienenen Die Nerven hat sich das Berlin-Schwaben-Trio endgültig vom Noiserock der Anfangstage verabschiedet, sich freigespielt wie Tocotronic auf ihrem weißen Alben. Ein Exempel in Sachen zeitgenössischer, spannender Rockmusik und von Gitarrist und Sänger Max Rieger in ein unmittelbares Soundbild gegossen, markiert es für die Band Höhepunkt und Neuausrichtung zugleich. Klug, dass sich die Nerven bei der Entstehung von Wir waren hier nicht den Kopf zerbrochen haben angesichts der gestiegenen Erwartungshaltung: „Wir waren wieder gemeinsam in einem Raum, und plötzlich ging alles wie von alleine.“ Herausgekommen ist ein Album, das ähnlich intensiv ist wie sein Vorgänger, aber auch melodieverliebter, mehr The Cure als The Jesus Lizard, oder in Wir waren hier, dem Titeltrack, einfach beides. Fast unverschämt wie sie mit Achtzehn erst eine Ballade nahe der Perfektion raushauen (Nostalgie/Sensibilität/Streicher), und zwei Songs später mit Ich will nicht mehr funktionieren eine Absage an den Optimierungswahn im Kapitalismus – ein Song, der ironischerweise zu dem besten gehört, was die Nerven je geschrieben haben: „Da ist immer noch Luft nach oben/ Da ist immer noch Potential/ Ich bin mir ziemlich sicher, man kann hier noch Prozesse optimieren/ Ich will nicht mehr funktionieren.“ Beherrschen tun sie beides, die Fragilität wie die Disruption, und nicht zuletzt die Verschränkung der beiden Pole miteinander. Ein kluger Schachtzug in Bis ans Meer einen in seiner unironischen Schönheit entwaffnenden Text mit dem aggressivsten Moment der Platte zu kombinieren – und die Erhabenheit der Natur mit dem Müllhaufen auf dem Cover.

„Wir waren hier/ Wir waren hier/ Keine Pflanze, kein Tier/ War so wertvoll wie wir“ heißt es im Titeltrack, der nicht nur Schriftzug auf jugendherberglichen Bettpfosten ist, sondern auch tödlich, wenn sich die Existenz nur noch in der Vergangenheitsform beschreiben lässt. Es ist diese Untergangsstimmung, der sich Die Nerven hingeben wie in Wie man es nennt oder dagegenstemmen wie in Das Glas zerbricht und ich gleich mit. Ihr mal mit Versatzstücken aus Stoner-Rock und Doom-Rock (Als ich davon lauf) oder mit Groove wie in Schritt Für Schritt zurück begegnen. Die Nerven mag das Album mit der größeren Hitdichte sein, Wir waren hier beweist, dass sie dieses hohe Niveau halten können. Mal sehen, was von der Menschheit bleibt. Dieses Album auf jeden Fall.

Label: Glitterhouse/Indigo
VÖ: 13.09.2024

Genre: Indierock, Post-Punk

Vergleichbar:
The Cure – Seventeen Seconds
Karies – Holly

Wertung:
13/15