Was bleibt von…?: Casper – Hinterland

In unserer neuen Rubrik „Was bleibt von…?“ stellen wir diese Frage in Bezug auf Alben, die bereits erschienen sind und aus der Jetzt-Perspektive seziert werden: Welche Relevanz besitzt die Platte 2020? Welche Songs sind gewachsen? Welche in Vergessenheit geraten? Diese Fragen beantworten wir in der dritten Folge in Bezug auf Casper und sein drittes Album Hinterland.

Die Geschichte von Hinterland beginnt im Spätsommer 2012 in der spanischen Kleinstadt Calonge. Diese liegt in der Provinz Girona und gehört zur Autonomen Gemeinschaft Kataloniens. Der Kern der 11.000-Einwohner-Gemeinde ist nur zwei Kilometer von der Costa Brava und der spanischen Mittelmeerküste entfernt – und absolutes Hinterland. Nach einem erfolgreichen Festivalsommer mit Auftritten auf den Zwillingsfestivals Hurricane und Southside, dem Melt! Festival oder auf dem Highfield Festival begibt sich Casper alias Benjamin Griffey mit seinem Produzenten Markus Ganter sowie Jan Korbach und Konrad Betcher aus seiner Live-Band ins spanische Hinterland, um an ersten Entwürfen des XOXO-Nachfolgers zu werkeln. Die Erwartungen sind hoch, schließlich hatte Griffey mit seinem zweiten Album den ersten Platz der deutschen Albumcharts erklommen. Darin wird sich XOXO sage und schreibe 53 Wochen halten, was zudem in Platinstatus und mehr als 300.000 verkauften physischen Exemplaren mündet. Im November 2012 beschreibt Griffey in einem Interview die Marschrichtung seines neuen Albums als „ein bisschen weltmusikig“ und den Sound als eine Kreuzung aus Kanye West, Nick Cave, Tom Waits, Sizarr und Animal Collective. Er soll Recht behalten.

Als Hinterland erscheint, ist der mediale Rummel um Griffey riesig. Das Visions-Magazin packt den Rapper auf das Cover seiner Handelsausgabe, womit er der erste HipHop-Künstler seit der US-Formation Public Enemy im Oktober 1994 auf dem Cover des alternativen Musikmagazins ist. Doch was hat Casper, ein Rapper, eigentlich in diesem Umfang in einem Magazin für Rockmusik zu suchen? Diese Frage beantwortet Hinterland, das bis auf den Sprechgesang von Griffey eigentlich nur wenig mit HipHop zu tun hat und rein instrumental ein glasklares Indierock-Album ist. Doch nicht nur seine Musik atmet diese Luft, auch Griffey selbst ist alles andere als ein stinknormaler Rapper. In den 00er Jahren steht er zuerst einer Metalcore- und dann einer Hardcore-Band vor, bevor der Deutsch-Amerikaner im HipHop sein musikalisches Heim findet. Dass Griffey einst lieber schrie als schnell zu sprechsingen wird in seinen Veröffentlichungen als Casper jedoch nur durch seine kratzbürstige Stimme deutlich. Im Kontext seiner heutzutage opulenten Liveshows sieht man den 1982 in Lemgo geborenen Künstler dagegen auch mal im Longsleeve einer Hardcore-Band auf der Bühne performen und im Live-Remix des Hinterland-Tracks Jambalaya streut Griffey stets einen waschechten Growl ein.

Hinterland schafft es, den Erfolg von XOXO zu wiederholen und erreicht ebenfalls – wie auch die folgenden Alben Lang lebe der Tod und 1982 (mit Marteria) – den ersten Platz der deutschen Albumcharts. Physisch verkauft sich Hinterland sogar um wenige tausende Exemplare besser als der HipHop-Meilenstein von 2011.

Was aber ist 2020 geblieben von Hinterland?

Hört man sich Hinterland an, wird man zunächst von warmen Orgelklängen des Openers Im Ascheregen empfangen, bevor der Song in diese unglaublich prägnante Klaviermelodie übergeht und nach wenigen Paukenschlägen gleichzeitig Streicher, ein Chor und die ganze Band einsetzen. Bevor Griffey nach geschlagenen zwei Minuten anfängt zu rappen, gesellen sich auch noch ein Glockenspiel und verschiedene Bläser zur instrumentalen Herde. Dann die Lyrics „Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen/ Will auf und davon und nie wiederkommen/ Kein lebe wohl, will euch nicht kennen/ Die Stadt muss brenn‘“ und fertig ist der Hit, der bis heute erfolgreichste Song Caspers und einer der größten deutschsprachigen Songs des vergangenen Jahrzehnts. Schon im allerersten Song wird deutlich, wie fein dieses Album ausgearbeitet ist, was sich auch anhand der unglaublich langen Musikeraufzählung im CD-Booklet feststellen lässt. Dennoch ist Hinterland noch mehr eine Singer/Songwriter-Platte, als es XOXO war und schon dadurch mehr Indierock als HipHop, dass nahezu jeder Song in Akustikgitarren anstelle von elektronischen Beats getaucht ist.

Vergleicht man den lyrischen Grundton beider Alben, lässt sich feststellen, dass die depressiven Zwischentöne von XOXO einem viel positiveren Stimmungsbild gewichen sind, das dennoch genug Raum für Melancholie einräumt. Das unglaublich introvertierte 20qm erzählt etwa die Geschichte der ersten gemeinsamen Wohnung und des Auseinanderbrechens der Beziehung dahinter. Viele der elf Songs durchzieht allerdings das Gefühl von Selbstakzeptanz und dem Arrangieren Griffeys mit seinem neuen Leben als erfolgreicher Künstler. „Hör, wie die Menge schreit, vorn-hinten Hände zeigt/ Texte schreit, laut in den Himmel/ Schweiß an die Hände treibt/ Unendlich weit von perfekt, doch angelangt/ Keine Supermänner, dennoch verdammt nah dran!“ heißt es passenderweise im abschließenden Endlich angekommen. War XOXO der Rettungsanker vor der Depression, gestaltet Hinterland die Strukturen eines glücklichen Lebens aktiv mit, ohne von Problemen frei zu sein.

Die angesprochen vielfältigen musikalischen Interessen Griffeys schlagen sich teilweise aber auch in Hinterland nieder: In Lux Lisbon steuert Tom Smith, Frontmann der britischen Post-Punks Editors, einen erhabenen Refrain bei, während La Rue Morgue im Jazz und Avantgarde wildert. ArielEndlich angekommen und Nach der Demo ging’s bergab! eint zudem ein lyrisches Innuendo auf Oasis und die Gallagher-Brüder, wohingegen Im Ascheregen mit der Zeile „Ein Drittel Heizöl, zwei Drittel Benzin“ auf den indizierten Song Wir wollen keine Bullenschweine von Slime anspielt.

Am Ende ist Hinterland ein introvertiertes und hoffnungsvolles Album, das nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat. Wo im Opener Im Ascheregen das lyrische Ich noch am Beginn seiner persönlichen Identitätsforschung steht, ist diese mit dem finalen Endlich angekommen abgeschlossen. Der Titel Hinterland ist also viel mehr als nur der Name eines von elf musikalischen Fragmenten. Er gibt die Marschroute für die lyrische Reise vor, an dessen Ende die Selbstfindung und somit die reinste Form der Katharsis steht. Fortan zählt Casper zu den Big Playern im deutschen Musikbusiness und wendet sich auf Lang lebe der Tod erstmals politischen Themen zu. Was ohne die Selbstemanzipation auf Hinterland undenkbar gewesen wäre.

Hinterland_-_Cover

Label: Four Music
VÖ: 27.09.2013

Genre: Indierock, HipHop

Musikalisches Erbgut:
Fatoni – Andorra
Kummer – Kiox

Diese Songs stechen heraus:
Im AscheregenHinterlandAlles endet (aber nie die Musik)20qm, Ganz schön okay