Was bleibt von…?: Biffy Clyro – Infinity Land

Biffy Clyro, das bekannte Trio aus Schottland, ist spätestens seit der Pop-Interpretation von Many of Horror durch Matt Cardle längst kein Geheimtipp mehr. In dieser Ausgabe von Was bleibt von…? widmen wir uns dem wilden Drittwerk, Infinity Land, und was dieses Album heute noch bedeutet im Kontext der ergiebigen Diskographie.

Vorerst ist es hilfreich zu wissen, dass die Fanbase sich in zwei Gruppen unterteilen lässt: Unterstützer der ersten Stunde bis Infinity Land grenzen sich klar in ihrer Präferenz ab, die neueren, eher poppigen Alben weniger zu mögen. Dies liegt wohl auch an der Unzugänglichkeit der ersten drei LPs, die sich durch einen eher trockenen bis rauen Sound auszeichnen. Mit Puzzle kam der Wandel im Zuge einer neuen Albumtrilogie, bei der Garth Richardson den Produzentenjob übernahm, und sämtliche Ecken und Kanten glattbügelte. In der Tat finden sich in vielen Fangruppen besonders Kritiker des Sounds auf Only Revolutions die sich es nicht entgehen lassen, die qualitative Diskrepanz zwischen ekstatischer B-Seiten und dem Hauptwerk zu erörtern.

Zurück zum Jahr 2004. Shut Up von den Black Eyed Peas ist der größte Hit in den Charts, Green Day machen ihr großes Comeback mit American Idiot und dessen soziopolitischen Kommentars zur Bush Ära. In Schottland machen Biffy Clyro hingegen ihr eigenes Ding abseits des Mainstreams, empfangen dunklere Inhalte und verwirrende Taktarten mit noch offeneren Armen als zuvor auf Vertigo of Bliss. Während des Aufnahmeprozesses verstirbt die Mutter des Sängers Simon Neil, was später den Grundstein für die thematischen Inhalte auf Puzzle legen würde. Das mehr als 70 Minuten lange Opus – dank eines Hidden Tracks – leitet mit einem elektronischen Beginn ein, um den Zuhörer erstmalig zu verwirren. Glitter and Trauma fängt gekonnt ein, welche Songwriting Qualitäten die Band besitzt und über die Jahre weiter im kommerziellen Format ausgebaut hat. Verquere Taktarten, Dissonanzen und eine Prise Unberechenbarkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch ein Album, das namentlich an den Serienmörder Jeffrey Dahmer angelehnt ist.

„It was in a Jeffrey Dahmer book, he talks about his ideal place, which is called Infinity Land – his idea of heaven – which is really grim, being surrounded by corpses and shit. You don’t know what it’s about, it could sound hopeful, but when you know what it’s referring to, it becomes quite sinister. In a way, it’s kinda cool that people don’t know what we’re referring to, that people make up their own meanings for things… it could be quite optimistic, but it’s not.“

In der Tat finden sich Klänge und Passagen auf dem Album, die zugleich aggressiv wie auch stechend wirken, wie zum Beispiel bei The Kids from Kibble and the Fist of Light. Schrille Schreie stehen im Kontrast zu verspielten Gitarrenparts, die sich nicht vor Lächerlichkeit schämen. Im Gegenteil, der hier theoretisch nicht marktfähige Sound des Trios ist das, was Infinity Land zu einer einzigartigen Reise durch Horror, groteske Gedanken und Endlosigkeit macht. Wenige Lieder verlassen sich auf bekannte Strukturen, sondern präsentieren sich aufbauende Parts, die selten zu vorherigen Teilen zurückkehren. Die Krone für die beste Ausführung dieses Konzepts geht jedoch an There’s No Such Thing as a Jaggy Snake, welches nur so vor 5/4 Takten und phrygischen Melodien wimmelt. Neil keift, kräht und singt gleichermaßen dringlich, während die Johnston Brüder ab dem Zwischenteil ihren markanten Chöre beisteuern.

Wenngleich kein Lied auf Infinity Land textlich Easy Listening ist, schafft es das Trio auch, positive Gefühle heraufzubeschwören. Some Kind of Wizard und das darauf folgende Wave Upon Wave Upon Wave kommen spaßig daher, inklusive Klatschen und treibenden Schlagzeugrhythmen. Besonders letzteres Lied bemüht sich um einen zugänglichen Refrain, der nichts anderes einfängt als den Schock, jemanden getötet zu haben. Biffy Clyro glänzen hier in ihrer Fähigkeit, die Musik als Kommentar zu verstehen, indem der sonst optimistische Dur Akkord zeitweise in dissonante Welten abrutscht, wie das Gedächtnis eines Psychopathen.

Am Ende der Reise angelangt ist Pause it and Turn it Up unglaublich düster, was nicht zuletzt an den liegenden Akkorden und dynamischen Ausbrüchen der Gruppe liegen dürfte. Falls wer tatsächlich hierzu einschläft, wird nach 21 Minuten zu Tradition Feed ein böses Erwachen haben. Neil singt scheinbar fröhlich darüber, dass es ihm Leid tut, das Gewissen einer anderen Person manipuliert zu haben, währenddessen unzählige Gitarren bis zur Rückkopplung gefoltert werden. Aus.

Was aber ist 2020 geblieben von Infinity Land?

Das Album einer vollendigen Analyse aller Lieder zu unterziehen wäre ungerechtfertigt, da sich der Gesamteindruck wohl am besten durch vermehrtes Hören und Fokus auf Kontraste erklären lässt. Dennoch bleibt Infinity Land auch 14 Jahre nach seiner Veröffentlichung das bisher wohl merkwürdigste und spannendste Werk Biffy Clyros, das glücklicherweise das Licht der Welt sehen durfte.

Als ich, nach mehreren Durchläufen des einzigen mir bekannten Only Revolutions die Diskografie durchforstete und auf diese LP traf, wurde meine Meinung zu Biffy Clyro komplett umgekrempelt. Die Fusion von Alternative Rock, Indie, und Post-Hardcore Elementen sprach mich so sehr an, dass ich auch heute noch wöchentlich diesem Werk ein Ohr schenke.

In seiner Komplexität und schieren Unberechenbarkeit könnte man das Album als das The Shape of Punk to Come der Schotten ansehen, wenn auch der künstlerische Einfluss auf die Musikwelt hier wesentlich geringer ausfiel. Die gleichzeitig verbesserte, aber auch direkte Produktion verleiht dem Album weiterhin die Qualität eines immersiven, ungeschliffenen Diamanten, der wunderbar unperfekt ist. Im Kontrast dazu wirkt das zuletzt veröffentlichte Ellipsis unerträglich klinisch im Klang, und ist völlig frei von der Intimität und Tiefe, die das Drittwerk mit sich bringt. Im Umkehrschluss macht dies Infinity Land für mich auch zum besten und stringentesten Werk der ersten drei LPs.

Für die Band selbst hat das Album nun noch wenig Bedeutung, und es ist ein Wunder, wenn mehr als zwei Lieder sich auf Setlists wiederfinden. In der Fanbase hingegen wird die Diskussion um old vs. new Biffy wohl nie erlischen, und die düsteren Lieder Infinity Lands ein Meilenstein bleiben.

Und auch falls das sehnlichst erwartete Album A Celebration of Endings wohl niemals an das schrille Niveau dieser Platte anknüpfen können wird, ist es wirklich faszinierend, eine Band mit einem solchen Kaliber an Variabilität als Titelverteidiger guter Rockmusik bezeichnen zu können.

R-3658719-1339252866-4904.jpegLabel: Beggars Banquet
VÖ: 04.10.2004

Genre: Indie, Experimental Rock, Post-Hardcore

Musikalisches Erbgut:
Arcane Roots – Blood & Chemistry
Reuben – Very Fast Very Dangerous

Diese Songs stechen heraus:
Glitter and Trauma, There’s No Such Thing As A Jaggy Snake, Only One Word Comes To Mind, The Kids From Kibble and The Fist of Light, … aber am besten einfach alles anhören.