Review: Trümmer – Früher war gestern

Mit dem Rücken zur Wand und verschränkten Armen schauen Trümmer in die Zukunft. „Der Ort ist jetzt und die Zeit ist hier“. Punkt. Aus. Noch kein Ende.

Trümmer verschwenden auf dem programmatisch betitelten Früher war gestern wenig Zeit damit sich auf der Vergangenheit auszuruhen, stellt die Gegenwart doch den Startpunkt dar, um die Zukunft zu gestalten. Wenn mal wie in Weißt du noch nostalgisch zurückgeblickt wird, dann nur, weil Trümmer zu den Guten gehören, also zu denen, die nach dem Ende einer Liebesbeziehung die Fotos nicht verbrennen, sondern in einen Schuhkarton packen und rausholen, wenn es sich lohnt sich zu vergewissern, dass es mal anders war. Okay, auch musikalisch hat sich das Quartett aus Hamburg/Berlin das Gestern zu Eigen gemacht. Television, Sonic Youth und The Strokes sind nur einige Referenzpunkte. Indierock mit den Mitteln des Punks. Bedeutet auch: Ihre dritte Platte geht mehr in die Richtung des nach der Band benannten Debüts (2014), als mit Interzone (2016) eine hedonistische New-Wave-Disco-Post-Punk-Party in der gleichnamigen fiktiven Bar zu feiern. Um es auf den Punkt zu bringen: Mehr auf kaltem Beton ausgetretene Kippen, weniger Gin Tonic. Der kürzeste und stürmischste Song Draußen vor der Tür trägt die Punk-Attitüde nicht nur musikalisch vor sich her: „Wir brauchen keine Heimat und erst recht kein Vaterland“. Wissen, wogegen man ist.

Aus Prinzip gegen das Prinzip heißt dann auch der beste Song, der sich die richtigen Slogans von den falschen Leuten zurückholt und sich zu einer Hymne gegen die Ohnmacht aufschwingt: „Verwende deine Jugend/Demontiere die Dämonen/Reiß die Zeit aus ihren Fugen/Deprimier die Depressionen/Und du wirst das Schweigen brechen/So wie andere Versprechen/Damit endlich was geschieht/Aus Prinzip gegen das Prinzip“. Ein Stück Musik, das dir hilft morgens aufzustehen, wenn sich Körper und Geist mit allen Mitteln dagegen wehren. Ein Stück Musik für alle, die bereit sind für einen zweiten Hit á la Wo ist die Euphorie. Ein Stück Musik für alle, die noch daran glauben, dass Rockmusik die Welt für einen kleinen Moment besser machen kann. Aus Prinzip gegen das Prinzip spielt die Stärken der Band konsequent aus: Gitarren, die ihre Sehnsucht nicht verstecken können, treffen auf einen Refrain, der seine Dringlichkeit nicht verleugnen will, dazu ein Text, der so vage gehalten ist, dass jede*r selbst nachdenken kann und so konkret, dass es nicht beliebig wird.

Insgesamt sind die Texte, in die laut Sänger und Gitarrist Paul Pötsch so viel Arbeit wie nie zuvor geflossen ist, ein Trumpf der Platte. Voll von Pathos ja, aber auch voll mit kleinen Wahrheiten, die es gilt auszusprechen. Wer bei Zeilen wie „Ich habe beschlossen, dass ich schwach sein darf“ aus Zwischen Hamburg & Berlin nichts fühlt, soll halt weiter Napalm Death hören. Gefühlvoll, mit der Zunge auf dem Herzen und ohne Nachzutreten singt Pötsch von dem Auseinanderbrechen einer Liebesbeziehung, von dem daraus resultierenden Schmerz und von dem Glück, das bereits hinter der nächsten Häuserecke lauert. Selbst in der dunkelsten Ecke des Lebens scheint irgendwo Licht. „Ich setze die Scherben zusammen und baue einen Spiegel daraus“ heißt es in Kintsugi, das den Namen eines Death-Cab-For-Cutie-Albums trägt, aber nach den ungestümen Anfangstagen der Yeah Yeah Yeahs klingt. Apropos Klang: Live aufgenommen in einem Gutshof in Schleswig-Holstein und produziert von Gitarrist Helge Hasselberg, fällt die Platte dreckiger als die beiden Vorgänger aus, aber auch nah, organisch und intensiv. So kommen neben den lauten auch die ruhigen Momente zur Geltung, nachzuhören in der Ballade Tauben an der Ihme, die davon handelt nichts im Kopf zu haben, weil der Bauch voller Schmetterlinge ist. Also: Gib dich deinen Gefühlen hin. Verwende deine Jugend. Noch ist keine Zeit zur Kapitulation, denn:„Wir schauen uns um und stellen entsetzt fest/Nichts ist so wie wir es haben wollen/Wir können es ändern/Wann wenn nicht“. Danke, Trümmer!

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Label: Pias
VÖ: 17.09.2021

Genre: Indierock, Post-Punk, Pop

Vergleichbar:
Vierkanttretlager – Die Natur greift an
Tocotronic – Kapitulation

Wertung:
12/15