Review: Muff Potter – Bei aller Liebe

Sollen doch die Kulturpessimisten ihre Gläser an die Wände schmeißen, sich die Straßenköter an dem Bordstein die Zähne ausbeißen, und Finkelmann Gewichte stemmen, bis er tot umfällt: Muff Potters achtes Album startet den Versuch, sich der Band-Diskografie zu entziehen.

Bei aller Liebe mit seinem faktischen Vorgänger Gute Reise zu vergleichen ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Zwischen den beiden Alben liegen 13 Jahre, Auflösung, Reunion, ein Besetzungswechsel und nicht zuletzt die zehn Songs von Bei aller Liebe. Keine Sorge, Muff Potter bleiben Muff Potter – nur so grenzenlos klang ihr selbsternannter Angry Pop noch nie. Post-Punk trifft auf Power-Pop trifft auf Spoken-Word trifft auf Kinderchor. Es ist nicht zu überhören, dass sich Muff Potter Gedanken gemacht haben, in welche Richtungen sie ihre Musik neu denken können, ohne ihre Identität als Band zu verlieren. Wie gut der Spagat funktioniert, zeigt das fast achtminütige Ein gestohlener Tag. Mit romantischem Unterton zeichnet Sänger und Gitarrist Thorsten Nagelschmidt ein Bild von verschwendeter Zeit, feiert die Abkehr von Effizienz und die Vorstellung niemals mehr zur Arbeit gehen zu müssen. Poetisch ist das, avantgardistisch wird es ab Minute 03:42, und chaotisch endet es, wenn er sich immer weiter in seine Wut hineinsteigert: „Turn on/Tune in/ Drop out/Start up/Fuck off!“. Hammerschläge, Hinterköpfe, pumpender Bass, treibendes Schlagzeug – holt sich nicht nur Swans‘ Kristof Hahn an der Lapsteel-Gitarre, sondern auch Messer-Frontmann Hendrik Otremba vors Mikro – aus dessen Roman Kachelbads Erbe der Songtitel entliehen ist. Im deutschen Musikkosmos bleiben sie, wenn sie in Privat erst nach Turbostaat, und in Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen nach Kettcar klingen. Anschließend verdeutlicht Nottbeck City Limits, dass Frontmann Thorsten Nagelschmidt gar nicht erst versucht, seine beiden Karrieren als Musiker und Schriftsteller voneinander zu trennen. In verschiedenen Erzählsträngen erzählt er von der Magie der Albumaufnahmen, von Mikrofonen, Verstärkern, von Ausbeutung, von Mensch und Tier als Zahnrad in einer Verwertungsmaschinerie, von zerschlissenen Matratzen und tauben Fingern. Dazwischen bleibt Zeit, um die Internationale, Bertolt Brecht und Blumfeld zu zitieren. Kurz: großartig.

Nagelschmidt gelingt, was ihm auch mit seinem Roman Arbeit (2020) eindrucksvoll gelungen ist: Das Große anhand des Kleinen zu erklären. Der Blick vom Einzelnen zum Kollektiv. Davon lebt ebenso der Opener Killer, klug beobachtete Alltagsszenarien gipfeln in der Frage: Wie wollen wir leben?, und stoßen die Tür auf für die bis dato politischste Platte der Band: Ich will nicht mehr mein Sklave sein (erstklassiger Power-Pop!) träumt vom Ausbruch aus einem System, das Abhängigkeit als Überlebensmodell ausruft, Flitter & Tand enthüllt zu nervösem Post-Punk die unsichtbaren Fesseln der leistungspotenten und freiheitsbesoffenen Karriereleiterkletter*innen, und in Hammerschläge, Hinterköpfe kotzt Nagelschmidt Werbeslogans, Selbstoptimierungskalendersprüche und Zeilen seltendämlicher NDW-Hits vor die Füße neoliberaler Heinis. Herrlich, wie angewidert Nagelschmidt, „Alles kann nichts, muss/ Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“ betont. Herrlich, wie groß Bei aller Liebe mit jedem Hören wird. Herrlich, dass wieder Zeit für die großen Fragen des Lebens ist: „Hast du früher auch Brühwürfel gelutscht, wenn du traurig warst und wie machst du das jetzt?“ Willkommen zurück, Muff Potter.

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Label: Huck’s Plattenkiste/Indigo
VÖ: 26.08.2022

Genre: Punkrock, Indie, Post-Punk

Vergleichbar:
Kettcar – Sylt
Turbostaat – Stadt der Angst

Wertung: 13/15