Releaserodeo August 2022 (Muse, I Prevail, The Interrupters, Pianos Become The Teeth, Waax & Spielbergs)

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The Interrupters – In The Wild (Label: Hellcat/VÖ: 05.08.)
Die Band aus Los Angeles hat sich für ihr viertes Album in die Wildnis begeben. Nicht buchstäblich, sondern im übertragenen Sinn: nachdem Rancid-Frontmann Tim Armstrong alle bisherigen Alben von The Interrupters als Produzent und inoffizielles fünftes Mitglied betreut hatte, hätte das Quartett die Pandemie ausharren müssen, bevor es wieder mit Armstrong ins Studio hätte gehen können, was für die Band nicht infrage kommt. Stattdessen bauen sich The Interrupters in einer Garage ein eigenes Studio und Gitarrist Kevin Bivona übernimmt den Produzentenjob. Auch lyrisch begibt sich Sängerin Aimee Interrupter ins offene Wasser: nachdem sie zuvor verschiedene Therapien durchlaufen hat, thematisiert sie nun ganz offen ihre von Missbrauch geprägte Kindheit, Angstzustände und Panikattacken. Im Verlauf der 14 zwischen treibendem Punkrock, tanzbarem Ska und zurückgelehntem Reggae changierenden Songs schließt sie nicht nur Frieden mit ihren Dämonen, The Interrupters feiern auch auf höchst ansteckende Weise das Leben und die Liebe.

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Waax – At Least I’m Free (Label: Dew Process/VÖ: 12.08.)
Mit Big Grief hatten Waax 2019 ein tolles Debütalbum zwischen Alternative, Punk und Indie veröffentlicht. Drei Jahre später räumen die Australier*innen auf ihrem zweiten Album At Least I’m Free den ruhigen Tönen mehr Platz ein als zuvor. Etwa in der Pianoballade Dangerous sowie im fantastischen No Doz, dessen Refrain umarmenden Charakter besitzt. Das indierockige Read Receipts könnte wiederum von den Pillow Queens stammen. Wenn die Stimme von Frontfrau Marie DeVita am Ende vom punkigen Most Hated Girl in heiseres Geschrei übergeht, erinnert das klar an Brody Dalle, deren Band The Distillers zudem Pate für krachende Songs wie Help Me Hell steht. Lyrics wie „I’ve nevеr been so sad in my life/ But I’ve never danced so much“ (Mermaid Beach) oder „I am a girl, I am a queen, I get fucked up, at least I’m free” (Jeff On The Streets) zeigen Waax dabei zwischen persönlicher Trauer-Verarbeitung und feministischer Emanzipation. Ein Album mit ähnlicher Funktion wie all die Bandagen und Pflaster auf dem Albumcover.

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I Prevail – True Power (Label: Spinefarm/VÖ: 19.08.)
Wie macht man nach seinem bisher erfolgreichsten Album weiter? I Prevail entscheiden sich für mehr von allem. Mit ihrem zweiten Album Trauma und Songs wie Bow Down oder Hurricane waren die US-Amerikaner zu einer der populärsten neuen Metalcore-Bands der vergangenen Jahre aufgestiegen, der Nachfolger True Power zeigt das Quintett so eklektisch wie nie. Moshpit-Futter gibt es etwa mit dem rasenden Body Bag, dem dick gerifften Long Live The King oder dem auf jegliche Eingängigkeit verzichtenden Choke. Am besten sind I Prevail jedoch dann, wenn die Grenzen zwischen Pathosrock und Metal-Geballer verschmelzen, wie im immer härter werdenden Judgement Day, dem mitunter fiesen Visceral oder The Negative. Es zeugt zudem von songschreiberischer Finesse, dass auch die ruhigen und poppigen Momente wie in Closure oder der abschließenden Ballade Doomed funktionieren. Käsig wird es nur, wenn Brian Burkheiser und Eric Vanlerberghe zum Sprechgesang ansetzen. Dann sind I Prevail näher an Hollywood Undead als an Linkin Park.

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Spielbergs – Vestli (Label: Big Scary Monsters/VÖ: 19.08.)
Das Trio aus Norwegen hatte mit seinem Debütalbum This Is Not The End 2019 eines der besten Indierock-Debüts der vergangenen Jahre veröffentlicht und auch die wenig später folgende EP Running All The Way Home zementierte die Klasse der Skandinavier. Das zweite Album Vestli schraubt nun vor allem Energie und Lautstärke nach oben. Das ist zum einen auf die rohe Produktion sowie die Abmischung zurückzuführen, die die Instrumente mehr in den Vordergrund stellen als den Gesang von Gitarrist Mads Maklien. Zum anderen steigern sich Spielbergs immer wieder in minutenlange Jams hinein, wie in There Is No Way Out. Die 45 Minuten Sturm und Drang werden dabei einzig und allein von der Interlude Kano GM sowie der instrumentalen Ballade Goodbye unterbrochen. Die Spielfreude der Band führt allerdings auch dazu, dass sich eingängige Momente erst nach mehrmaligem Hören entfalten und die Hitdichte im Vergleich zum Debüt etwas zurückgegangen ist. Vestli heißt übrigens der Vorstadtbezirk im Nordosten von Oslo, in dem Maklien und Bassist Stian Brennskag aufgewachsen sind.

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Muse – Will Of The People (Label: Warner/VÖ: 26.08.)
Muse sind eine der größten Rockbands des 21. Jahrhunderts, das haben nicht zuletzt ihre gigantischen Headliner-Shows bei Rock am Ring und Rock im Park Anfang Juni unter Beweis gestellt. Dem wird Will Of The People nach dem enttäuschenden Synthiepop-Album Simulation Theory wieder gerecht, weil die Gitarre von Frontmann Matt Bellamy nun gleichberechtigt neben den verschiedenen Synthesizern stehen darf und jede Faser des Albums den Größenwahn dieser Band verkörpert. Liberation ist die nächste Queen-Hommage von Muse und das metallische Gitarrenriff von Won’t Stand Down gehört auf jede große Festivalbühne. Das synthiepoppige Compliance hätte auch auf das vorherige Album gepasst, funktioniert aber besser als der Großteil von Simulation Theory, weil Muse diesen Sound nun selbstbewusster vortragen und sich der Song nach einigen Durchläufen unweigerlich in den Gehörgängen festsetzt. Der eröffnende Titeltrack klingt mit seinen The Beautiful People-Anleihen hingegen tanzbar und selbst eine Pianoballade wie Ghosts (How Can I Move On) funktioniert, weil Bellamy hier die richtige Menge Pathos findet. Lediglich an dem dick auftragenden Verona verheben sich die Briten. Dass Muse ihren Fokus wiedergefunden haben, verzeiht dann auch, dass das lyrische Konzept der Auflehnung gegen Absolutismus absolut nichts Neues im Muse-Universum darstellt.

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Pianos Become The Teeth – Drift (Label: Epitaph/VÖ: 26.08.)
Mit ihrem Debütalbum Old Pride (2009) sowie dem Nachfolger The Lack Long After (2011) waren Pianos Become The Teeth neben Bands wie La Dispute, Defeater oder Touché Amoré Teil der Post-Hardcore-Strömung The Wave geworden. Dort kann man die US-Amerikaner theoretisch noch immer einordnen, seit dem dritten Album Keep You (2014) hat ihre Musik jedoch nur noch wenig mit Post-Hardcore gemein, sondern vielmehr mit in sich gekehrtem, experimentellen Emo-Indie. Das trifft auch auf das fünfte Album Drift zu, dem das Kunststück gelingt, einerseits wieder fokussierter zu klingen, andererseits jedoch weiterhin musikalisch etwas auserzählt und phasenweise so nichtssagend wie das Albumcover zu wirken. The Tricks klingt etwa zerschossen und verweigert sich jeglicher Eingängigkeit und Mouth beginnt gen Ende unnötig zu pulsieren. Solange Frontmann Kyle Durfey aber weiterhin so beruhigend singt, Drummer David Haik mit seinem treibenden Schlagzeugspiel das Fundament für die Musik von Pianos Become The Teeth legt und der Band entladende Momente wie am Ende von Genevieve oder The Days gelingen, hört man ihr weiterhin gerne zu.