Review: Die Nerven – Die Nerven

Das fünfte, selbstbetitelte Album von Die Nerven ist Standortbestimmung, Höhepunkt und Neuausrichtung zugleich. Ab jetzt kann alles kommen. Einziger Nachteil: Die Tocotronic-Vergleiche werden sie so schnell nicht los.

Vom disruptiven Noiserock zum Artrock, so könnte die Entwicklung vom offiziellen Debüt Fluidum (2012) hin zu Fake (2018) vereinfacht beschrieben werden. Die Nerven ist weder das eine noch das andere, vielmehr ist es ein Sinnbild für die Kreativität dieser Band, die sich dem Schubladendenken entzieht. Minimalismus war vorgestern. Mitverantwortlich dafür sind sicher auch die zahlreichen Nebenaktivitäten der Bandmitglieder: Max Rieger hat sich mit seiner Tätigkeit als Produzent etwa für Drangsal und Ilgen-Nur einen Namen gemacht, Julian Knoth Alben mit dem Peter Muffin Trio veröffentlicht und Schlagzeuger Kevin Kuhn trommelt eh in zig anderen Bands. Den Startschuss setzt Europa, ein fulminanter Song, beginnend mit Akustikgitarren und Max Riegers beschwörender Stimme, der nach einer Minute dreißig die Zurückhaltung ablegt und den Platz räumt für Julian Knoths prägenden Bass und Theatralik. All das gipfelt in der beklemmenden Leadzeile: „Ich dachte irgendwie/In Europa stirbt man nie“ – erschreckend aktuell, bedenkt man, dass die Texte für die Platte bereits 2018/2019 entstanden sind. Darauf folgt mit Ich sterbe jeden Tag in Deutschland „der zweite Opener“, wie die Band den Song nennt, der sich nicht weniger wünscht als „Deutschland muss in Flammen stehen/ Ich will alles brennen sehen“. Atemlos geht es weiter mit Keine Bewegung, und dem Beweis, dass die musikalische Bereitschaft nach Kontrollverlust weiterhin gegeben ist.

Ein umwerfendes Starttrio, mit allem ausgestattet, was das Album auszeichnet und zugleich Sinnbild dafür, wie Rockmusik klingen kann, die ohne den Vorsatz Noise auskommt und trotzdem ungemütlich und innovativ ist. So ein Starttrio kann man sich nur leisten, wenn die restlichen Songs mit dem Niveau mithalten können. Und sie können – ob das von Streichern getragene Ein Influencer weint sich in den Schlaf, das pendelnde Der Erde gleich oder mit Hypnose für die Indierock-Fraktion wie in Ein Tag. Dass diese ihre volle Kraft entfalten, liegt auch an dem hervorragenden Klang der Platte, die die Retro-Ästhetik von Fake zu Gunsten der Unmittelbarkeit gegen einen glasklaren Sound eintauscht. Für die Produktion war die Band dieses Mal selbst verantwortlich, bei der Take-Auswahl und den Gesang-Aufnahmen mit freundlicher Unterstützung von Moses Schneider. Auch hier: nah am Zeitgeist. „Kalte Kriege/Erhöhte Miete/Überhöhtes Selbst“, fassen Die Nerven in Alles reguliert sich selbst mit wenigen Worten zusammen, warum es lohnt, den Mut zu verlieren. Lösungsvorschlage haben auch sie nicht. Am Puls der Zeit also. Nicht nur deswegen: Anwärter auf das Album des Jahres.

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Label: Glitterhouse/Indigo
VÖ: 07.10.2022

Genre: Post-Punk, Noiserock, Indierock

Vergleichbar:
Kreisky – Blitz
Tocotronic – Kapitulation

Wertung:
13/15