Konzertbericht: Erra + Silent Planet + Invent Animate + Sentinels, Wien Szene, 05.03.2023

Ziemlich genau ein Jahr nach Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Albums bereisen Erra nun auch unsere Seite des Atlantischen Ozeans. Mit im Gepäck sind Silent Planet, Invent Animate und Sentinels, die das Progressive-Metalcore-Lineup hervorragend ergänzen.

Um auf die Sekunde genau 19 Uhr erklingt das erste Mal an diesem Abend düsteres Gitarrenshredding und Sentinels rund um Frontmann Joseph Benducci eilen in der kleinen Szene Wien auf die Bühne. Während der Großteil des Publikums noch vorsichtig mit dem Kopf nickt und sich kleine Schlücke vom Mehrweg-Plastikbecher genehmigt, tut sich inmitten der Menge ein kleiner Violent-Dancing-Bereich auf. In selbigem beginnen auch kurze Zeit später eine Handvoll Metalcore-Enthusiast*innen, ihrem Endorphinrausch freien Lauf zu lassen. Das freut nicht nur den stark um Publikumsinteraktion bemühten Benducci, sondern sichtlich auch Schlagzeuger Dave Rucki, der fast das ganze Set mit dem breitmöglichsten Grinsen auf sein Drumkit einprügelt. Auch den anderen beiden Instrumentalisten der Band merkt man aufgrund ihrer hohen Mobilität auf der Bühne an, dass sie den Auftritt genießen und diese Energie überträgt sich ein Stück weit auch auf die wenigen tanzenden Personen. Highlight des sechs Songs langen Sets ist der vorletzte Titel Embers, den Rucki in seiner einzigen Wortmeldung selbst ankündigt. Das doch teils an Deathcore erinnernde Material der aus New Jersey angereisten Band findet insgesamt Anklang, kann aber ob seiner leichten Monotonie auch nicht mehr als den ersten Zeitslot des Abends rechtfertigen.  Gut vorstellbar, dass es dies jedoch in Zukunft tun könnte, genug Stimmung und Motivation auf der Bühne ist in jeden Fall vorhanden.

Ein echter Schalter umgelegt wird nur eine Viertelstunde später mit dem Eingangsschrei von Shade Astray, denn Invent Animate, seit nunmehr fast 6 Jahren ohne das Komma im Bandnamen unterwegs,motivieren die Menge sofort, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Dem Song vom neuen, noch unveröffentlichten Album Heavener folgen zwei vom letzten Greyview, Monarch und Cloud Cascade, wobei sich vor allem Letzterer in der Live-Version als beeindruckend brachial herausstellt. Frontmann Markus Vik, selbst erst seit 2020 Teil der Progressive-Metalcore-Band und auf der Bühne fast schon wie in Trance performend, kündigt anschließend Elysium als den emotionalsten Song des Sets an. Damit behält er Recht, und das ist, ohne etwas vorweg nehmen zu wollen, nicht das letzte Mal an diesem Abend den großartigen Backing-Vocals seiner Bandmitglieder zu verdanken. Um das volle 10-Minuten-Epos The Sun Sleeps, As If It Never Was auf die Bühne zu bringen, fehlt den Texanern die Zeit, was unheimlich schade ist, denn As If It Never Was neckt die Zuhörer*innen mit seinen emotional-melodisch-düsteren Passagen schon fast, dass man nur das halbe Kunstwerk auf die Ohren bekommt. Vor dem finalen Immolation Of Night, ebenfalls von Heavener, fordert Bassist Caleb Sherraden alle Anwesenden schließlich auf, den Song am nächsten Tag am Arbeitsplatz noch im Ohr zu haben. Ohne sich aus dem Fenster lehnen zu wollen, wird das nach einer imponierend emotionalen Liveshow sicherlich die eine oder andere Person getan haben.

Wer imponierend emotional sucht, ist ebenso beim nächsten Act genau richtig: auch Silent Planet beginnen direkt nach einer erstaunlich kurzen Umbaupause. Orphan fungiert als Opener, bevor bei The New Eternity erstmals Thomas Freckeltons sauberer Backing-Gesang auffällt, der sogar besser als in der Studioversion klingt. Frontmann Garrett Russell wirkt dabei anfangs noch etwas zurückhaltend, steigt gegen Ende des Songs aber sogar in den Fotograben herab, um einen Fan ein paar Textzeilen grölen zu lassen. Viel Zeit nimmt er sich auch nicht, um den nächsten Song anzukündigen, er widmet ihn bloß an die erste Band des Abends. The Sound Of Sleep spricht allerdings für sich selbst, während des dunklen Breakdowns am Ende des Songs tut sich vielleicht sogar der größte Moshpit des Abends auf. Russell erzählt anschließend von der ersten Show der noch jungen Band in Wien, beschreibt die damalige Location als nach Zigaretten müffelnden Keller und amüsiert sich etwas über das Faible der Österreicher*innen für Tabakkonsum. Dem Publikum ist es egal, denn wenn alte Geschichten ausgepackt werden, folgt meistens auch ein alter Song. Native Blood und das anschließende XX (City Grave), nur mit „this is a song about human trafficking” angekündigt, dürften nicht nur die etwas betagteren Konzertbesucher*innen begeistern. Russell überbietet sich noch einmal mit der kürzesten Songankündigung des Abends, denn der Titel von Panic Room ist auch Anwesenden ein Begriff, die sich noch nicht viel mit der Band auseinandergesetzt haben. Zurecht: der fast schon im Spoken-Word-Stil vorgetragene, nach Poesie klingende Text erlaubt es auch live, mit Gänsehaut in der Darbietung sprichwörtlich zu versinken – zumindest bis zum ohrenbetäubenden Breakdown. Nachdem sich Russell seiner Jacke entledigt hat, geben die Kalifornier noch Trilogy und :Signal: zum Abschluss der wirklich ausgewogenen Setlist zum Besten, auf der nur Panopticon wirklich fehlt.

Ähnlich wie ihre Vorgänger auf der Bühne wollen auch Erra beim Betreten der selbigen nahtlos in den ersten Song übergehen, doch nach zehn Sekunden müssen sie diesen gleich wieder abbrechen, da der Taktklicker von Drummer Alex Ballew versagt. Nach kurzer Beratungspause überspielen sie die zweiminütige Unterbrechung souverän mit Humor und werfen sich spielerisch Betrug an der Band vor, bevor Gungrave nun wirklich erklingt. Allein am Anfang der Setlist wird schon klar, dass das den Bandnamen tragende neuste Album das Leitmotiv des Restabends sein würde, denn es schließen sich nach einer kurzen Begrüßung House Of Glass und Nigh To Silence an. Das verwundert kaum, denn das Album von 2022 war auch die bisher mit Abstand kommerziell erfolgreichste Platte der Band. Die Standalone-Single Eye Of God fegt in der Folge über das Publikum hinweg, welches sich, wohl auch aufgrund der kleinen Location, weiterhin an der Pitgröße von Invent Animate und Silent Planet orientiert. Nach einer weiteren kurzen Ansprache gibt es einen kurzen Rückgriff in das inzwischen doch sehr umfangreiche Repertoire der Band zu hören, Breach ist der einzige Vertreter des fünf Jahre alten Albums Neon, der es während dieser Tour auf die Bühne schaffen soll. Ein bisschen Stolz ist Energiebündel J.T. Carvey, seines Zeichens Sänger der US-Amerikaner, anzumerken, als dieser daraufhin seinen hektischen Bühnenspaziergang pausiert, um den Anwesenden mitzuteilen, dass sie gerade an der ersten Headline-Show der Band in Österreich teilhaben dürfen. Anschließend wird Vanish Canvas mit seinem progressiven Sound durch sauberen Gesang von Gitarrist Jason Cash zu einem gelungenen Abschluss für die erste Hälfte der Setlist.

Den zweiten Teil läutet Carvey fast schon mit einer ­Drohung ein, denn es folgt sein Lieblingssong des Sets, für den er eine Tanzaufforderung aufgibt, der das Publikum während Scorpion Hymn auch nachkommt. Nach einer statistisch wohl nicht signifikanten Umfrage, wer schon einmal ein Konzert der Band besucht hat, ertönen Hybrid Earth und der Progressive-Metalcore-Klassiker Skyline, der die Band damals auf den Radar der meisten Metalcore-Hörer*innen befördert hatte. Nicht nur bei diesen Songs fällt die gute Balance zwischen den Bandmitgliedern auf: während Carvey schreiend über die Bühne flaniert, strahlt Tour-Gitarrist Clint Toustin beim fehlerfreien Performen der komplexen Gitarrenriffs eine faszinierende Ruhe aus. Nach Divisionary geht das Quintett aus Alabama schließlich unerwarteterweise von der Bühne, und niemand scheint so richtig zu wissen, ob das eine Forderung nach Zugaberufen oder einfach nur eine kurze Setpause darstellt. Es stellt sich als ersteres heraus, denn nach einem kurzen Synthesizer-Intro kündigt Carvey die letzten beiden Songs an. An dieser Stelle muss noch einmal das hervorragende Licht- und Sounddesign an diesem Abend hervorgehoben werden, denn was vor allem während der Performance von Erra aus den Räumlichkeiten herausgeholt wird, ist wirklich kaum zu übertreffen. Pull From The Ghost und natürlich Snowblood beenden das weder zu lang noch zu kurz geratene Set und damit auch einen gelungenen Abend in Wien-Simmering.