Releaserodeo Mai 2023: Sleep Token, Currents, Drain, The Intersphere, The Dirty Nil & Island Of Love

Currents – The Death We Seek (Label: SharpTone/VÖ: 05.05.)
Obwohl sich Currents bereits 2011 gegründet haben, ist The Death We Seek erst ihr drittes Album und sogar erst das zweite in der aktuellen Besetzung. Während die Gitarristen Chris Wiseman und Ryan Castaldi 2014 und Sänger Brian Wille 2015 zur Band gestoßen waren, ist Schlagzeuger Matt Young seit 2019 und Bassist Christian Pulgarin seit 2020 Mitglied bei dem Quintett. In dieser Besetzung hatte die Band aus Fairfield, Connecticut vor drei Jahren das starke zweite Album The Way It Ends veröffentlicht, dem der Nachfolger in nichts nachsteht. Auch auf The Death We Seek spielen Currents Metalcore mit Djent-, Progressive- und Deathcore-Anleihen. Die zehn Songs folgen jedoch geradlinigen Strukturen, aus denen nur das brutale, ohne Refrain und ohne Klargesang auskommende Vengeance ausbricht. Produziert haben The Death We Seek wie auch schon The Way It Ends Gitarrist Chris Wiseman und Produzent Ryan Leitru, die den mal melodischen und dann wieder markerschütternden Gitarrenriffs genug Raum geben, sich zu entfalten. Diesen Raum füllen zudem immer wieder im Hintergrund dudelnde Synthesizer aus, die jedoch deutlich weniger penetrant als etwa bei Lorna Shore in das Soundbild eingewoben werden. Der eröffnende Titeltrack findet in der zweiten Strophe zudem Platz für Blastbeats, während Wille im nur einmal wiederholten Refrain unter Beweis stellt, dass er nicht nur zahlreiche Facetten des gutturalen Gesangs beherrscht, sondern auch ein talentierter Sänger ist. Der an Landmvrks erinnernde Refrain vom folgenden Living In Tragedy fügt sich wiederum nicht ganz so organisch ein, dafür ziehen Currents in der zweiten Strophe das Tempo an und fahren einen starken Breakdown auf. Unfamiliar überzeugt zunächst mit knisternder Atmosphäre und Klargesang, ehe Geschrei und härtere Instrumentals übernehmen, bevor Currents den Song mit einem starken Gitarrensolo veredeln. Der Refrain von Over And Over nimmt ausnahmsweise mal nicht das Tempo raus, während Currents in der Bridge fieses Geballer auftischen. Ein triumphales Gitarrensolo in Guide Us Home schließt The Death We Seek hingegen ab. Danach bleibt die Erkenntnis, dass Currents derzeit zu den besten Metalcore-Bands gehören, weil sie trotz aller Brutalität ein herausragendes Gespür für eingängige Melodien besitzen.

Drain – Living Proof (Label: Epitaph/VÖ: 05.05.)
Drain verpassen Hardcore mit Thrash-Metal-Riffs und sonnigem Auftreten eine Frischzellenkur. Das Trio aus Santa Cruz, Kalifornien ist in der Mittelschicht aufgewachsen, anstatt harter Straßengeschichten ist ihr Crossover sonnenbeschienen und verbreitet vor allem gute Laune, obwohl der seit sechs Jahren Straight Edge lebende Frontmann Sam Ciaramitaro in neun der zehn Songs Hardcore-Galle spuckt. Nur im sehr originalgetreuen Descendents-Cover Good Good Things gibt es statt Gebell Klargesang, was Drain hervorragend zu Gesicht steht. Eine Zensur stellt zudem Intermission an sechster Stelle dar. Dafür holen Drain den Rapper Shakewell dazu, der nach einem Klavierintro über einen waschechten HipHop-Beat rappt, ehe nach 45 Sekunden die Thrash-Gitarre einsetzt. Immer wieder lässt Gitarrist Cody Chavez zudem sein Instrument aufheulen, während Schlagzeuger Tim Flegal im abschließenden Titeltrack sogar auf eine Kuhglocke einprügelt. Die Thrash-Metal-Riffs sind jedoch kein Gimmick, sondern erinnern in ihrer Härte an klassische Genre-Vertreter aus den 80ern, während Ciaramitaro Hardcore-Ausrufe aus dem Effeff beherrscht. In Devil’s Itch und dem in einem starken Breakdown mündenden Imposter ziehen Drain zudem das Tempo an. Das zweite Album der 2014 gegründeten Band wird nicht nur im Verlauf seiner kurzweiligen 25 Minuten immer besser, sondern auch mit jedem weiteren Durchgang. Mit Living Proof gesellen sich Drain zu Bands wie Turnstile, Militarie Gun und Mspaint, die Hardcore gerade sanieren, ohne die Wurzeln des Genres auszureißen.

Island Of Love – Island Of Love (Label: Third Man/VÖ: 12.05.)
Das Londoner Trio ist das erste Signing von Third Man London, dem im Herbst 2021 eröffneten, bereits dritten Büro des Labels von Jack White. Der ist zwar nicht selbst für das Signing von Island Of Love verantwortlich – entdeckt hat sie Ben Swank – mit ihrem zwischen Indie und Noise pendelnden Rock passen sie aber perfekt auf sein Label. Island Of Love ist ihr Debütalbum, auf dem die Band nach eigener Aussage versucht hat, Popmusik mit dem Lautstärkeniveau von Noiserock zu schreiben. Das Ergebnis sind krachende Instrumentals, die entweder durch den abwechselnden Gesang der Gitarristen Karim Newble und Linus Munch oder durch eingängige Gitarrenfiguren im Ohr bleiben. Der Opener Big Whale sorgt zunächst für lärmenden Indierock, bevor Island Of Love den Song herunterfahren und ihn in schleppendem Tempo schon fast in Post-Rock-Manier wieder hochfahren. Fed Rock zieht die Geschwindigkeit anschließend wieder an und landet über einen bierseligen Refrain bei Twin-Lead-Gitarren wie man sie eher aus dem Metal oder Hardrock kennt, während sich Island Of Love in der instrumentalen Songmitte in einen Rausch spielen. Grow macht die Tür zur Garage auf, während Sweet Loaf nach dem instrumentalen Mini-Jam Blues 2000 den Gesang in den Vordergrund rückt, der zunächst nur von einer Gitarre begleitet wird, ehe die zweite Gitarre dazukommt und den Song mehr gen Noise rückt. I’ve Got The Secret ist ein verkopfter Indie-Hit und Losing Streak schlägt mit singenden Gitarren von allen Songs am besten die Brücke zwischen Indie- und Noiserock. Nach der Akustik-Interlude Weekend At Clive’s beginnt auch Charles akustisch, ehe Island Of Love nach einer Minute wieder die Verstärker aufdrehen. Der achteinhalbminütige Closer It Was All Ok Forever endet nach einer slackerigen ersten Hälfte erstmals nach viereinhalb Minuten, ehe die Briten zu einem hymnischen und mehrstimmig gesungenen Hidden Track ansetzen, der das Potenzial zur Bandhymne besitzt. Sollten Dinosaur Jr. irgendwann die Plektren an den Nagel hängen, Island Of Love stehen bereit.

Sleep Token – Take Me Back To Eden (Label: Spinefarm/VÖ: 19.05.)
Keine Gitarrenband hat dieses Jahr mehr Hype generiert als Sleep Token: die aus London stammende Gruppe hat durch die Veröffentlichung der ersten vier Songs von Take Me Back To Eden ihre Anzahl monatlicher Spotify-Hörer von Anfang Januar bis Ende Januar mehr als verfünffacht und es sogar in die Instagram-Story von Demi Lovato (150 Millionen Follower*innen) geschafft. Ein Teil ihres Erfolgsrezepts ist sicherlich der Mythos, den die 2016 gegründete Band umgibt. Sleep Token weigern sich nicht nur, Interviews zu geben, sondern halten auch die Identität ihrer Mitglieder geheim und treten stets maskiert auf. Das Konzept von Sleep Token fußt auf einer Hintergrundgeschichte, laut der dem nur als Vessel bekannten Frontmann der Gott Sleep in seinen Träumen erschienen ist, den das Kollektiv seitdem durch ihre Musik verehrt. Das dritte Album Take Me Back To Eden schließt nun die mit Sundowning (2019) begonnene und mit This Place Will Become Your Tomb (2021) fortgesetzte Trilogie ab. Wikipedia listet mit Heavy Metal, R&B, Funk, Black Metal, Metalcore, Electronica, Pop und Djent insgesamt acht Genres für die Platte auf und auch wenn Metalcore und R&B nur Randerscheinungen sind, treiben Sleep Token ihren eh schon variationsreichen Stil darauf auf die Spitze. Ascensionism steigert sich in seinen sieben Minuten von Klavierintro und Klargesang über einen poppigen Part in ein zunächst rockiges und dann metallisches Gitarrenriff inklusive Geschrei und wieder zurück. Granite wird zwei Strophen lang von pluckernden Synthies und einem entspannten Beat getragen, ehe in der Bridge Djent-Gitarren einsetzen und alles niederwalzen. Aqua Regia („Königswasser“) wird im eingängigen Refrain von jazzigen Drums untermalt und fließt in der Bridge in ein Pianosolo. DYWTYLM („Do you wish that you loved me“) verzichtet als lupenreiner Popsong sogar gänzlich auf Gitarren. Die beschwört der Opener Chokehold nach elektronischem und epischem Aufbau inklusive selbstbewusstem Klargesang erstmals im Refrain, wenn nach Klavier und Drumpad zum ersten Mal schwere Metal-Gitarren einsetzen. The Summoning wird von einem dicken Riff eröffnet, findet im an Deftones erinnernden Refrain zur Kopfstimme, ehe die Gitarren zusammen mit einer Doublebass eine erste Schneise schlagen. Nach einem Prog-Gitarrensolo und einem weiteren Refrain leiten sphärische Synthies die zweite und ruhigere Songhälfte ein, die nach einem weiteren Klavierpart mit einem proggigen Djent-Instrumental ausklingt. Und dann haben wir noch nicht über die Mental-Health-Awareness-Hymne Are You Really Okay? sowie den fantastischen Post-Rock-Closer Euclid gesprochen. Take Me Back To Eden ist trotz 63 Minuten Laufzeit ein kurzweiliges Album, dessen Genre-Vielfalt im Metal aktuell einzigartig ist und den Hype um Sleep Token nicht nur rechtfertigt, sondern weiter anheizen wird.

The Dirty Nil – Free Rein To Passions (Label: Dine Alone/VÖ: 26.05.)
Auch mit ihrem vierten Album arbeiten The Dirty Nil weiter an ihrer Herrschaft im Kosmos Rock. Free Rein To Passions liefert zehn großartige Songs voller Spielfreude, stadiontauglicher Refrains und nach vorne stampfender Riffs. Die stammen wie beim Fuck Art-Opener Doom Boy auch im Free Rein To Passions-Opener Celebration aus der Thrash-Metal-Ecke, in der sich auch der selbstbewusste Titeltrack niederlässt. Dies passt zur Ankündigung von Sänger und Gitarrist Luke Bentham, Free Rein To Passions sei „eine etwas fiesere Platte“. Musikalisch trifft dies allemal zu, lyrisch hüllen sich The Dirty Nil hingegen eher in Zuckerwatte, denn die Texte handeln davon, nett zu sein, das Leben zu genießen und sich nicht von der Negativität unterkriegen zu lassen. Das punkige Nicer Guy schlägt mit Zeilen wie „I made up my mind/ I’m gonna be a nicer guy“ etwa in diese Kerbe, während Atomize Me – mit Klavierintro! – zunächst verzweifelt und dann befreit klingt. Undefeated sehnt sich hingegen nach einer vergangenen Zeit („Everything was sunshine/ Nothing really mattered/ We were undefeated/ What the hell happened”) und in Stupid Jobs entsagen The Dirty Nil im mehrstimmigen Finale der Lohnarbeit: „I don’t never want to work for you or anyone again“. Allein wegen Zeilen wie „They wouldn’t understand the beauty in annihilation“ im flotten und verspielten Blowing Up Things In The Woods muss man das Trio aus Hamilton, Ontario schon lieben, dazu harmonieren die Kanadier im Zusammenspiel so gut wie noch nie. Der Garage-Punk von The Dirty Nil ist weiterhin unglaublich verspielt und will so laut wie nur möglich gehört werden. Und dann gibt es noch den zurückgenommenen Closer The Light, The Void And Everything, der sich erst nach und nach aufbaut, den schnelleren Songs in Sachen Eingängigkeit und Klasse aber in nichts nachsteht. Hier steht der leidenschaftliche Gesang von Bentham zudem noch mehr im Fokus als ohnehin schon. Wer da nicht lautstark mit einsteigen möchte, sollte es mit Rockmusik gar nicht erst weiter probieren.

The Intersphere – Wanderer (Label: Odyssey Music/VÖ: 26.05.)
Das Mannheimer Quartett bleibt auch auf seinem sechsten Album die beste progressive Alternative-Rock-Band aus Deutschland. Gegründet haben sich The Intersphere 2005, nachdem sie sich auf der Mannheimer Popakademie kennengelernt hatten. Pop-Sensibilität war schon immer eine der Stärken der Band, die diese auf dem vierten Album Relations In The Unseen (2014) auf die Spitze getrieben hatte. Der Nachfolger The Grand Delusion (2018) zeigte The Intersphere von einer rifflastigeren und metallischeren Seite, Wanderer kehrt hingegen wieder zum Prog-Pop des Vorvorgängers zurück. Who Likes To Deal With Death? interpretiert Post-Rock-Gefrickel etwa maximal poppig, Down deutet Synthiepop kurz an und betont seine harten Gitarrenklänge erst in der Bridge und mit Treasure Chest zeigen The Intersphere, dass sie auch mit zurückgenommener Instrumentierung hymnische Songs schreiben können. Experimentell werden The Intersphere zudem im wütenden und elektronisch aufgeladenen Heads Will Roll, das gen HipHop neigt und erst gegen Ende Gitarren dazu holt. Der eröffnende Titeltrack fährt hingegen dicke Gitarrenwände auf, bleibt aber sonst im Midtempo und lässt genug Raum für den leidenschaftlichen Gesang des begnadeten Christoph Hessler. Der Frontmann wechselt in den Texten von Wanderer zwischen persönlichen Introspektiven und gesellschaftspolitischen Beobachtungen. „My body is just trying to breathe/ While you wanna tell me what life means/ Why’d you keep me chasing your ideals?“ heißt es etwa im poppigen Refrain des elektronisch untermalten Bulletproof, das immer wieder von einem härteren Gitarrenriff bestimmt wird. Das krachende A La Carte läutet die bärenstarke B-Seite ein, auf der sich auch das fantastische Always On The Run findet, das schon jetzt ein Kandidat für den besten Alternative-Rock-Song des Jahres ist. Corrupter holt die Kuhglocke dazu und lässt es am Ende so richtig scheppern. Den größten Ohrwurm heben sich The Intersphere mit Under Water aber bis zum Schluss auf. Wie eingängig das im Fokus stehende Riff sowie der Song an sich trotz zurückgenommener Instrumentierung sind, ist schlicht herausragend.