100 Kilo Herz – Zurück nach Hause (Label: Bakraufarfita/VÖ: 01.09.)
Das nach dem Muff-Potter-Song 100 Kilo benannte Sextett aus Leipzig ist nach Feine Sahne Fischfilet die erste Anlaufstelle für alle, die gerne mit Bläsern ausstaffierten Deutschpunk hören. Wie Monchi & Co. sind auch 100 Kilo Herz umringt von rechtem Gedankengut auf dem Dorf aufgewachsen. Während das Debütalbum Weit weg von zu Hause dies thematisierte, hat der Nachfolger Stadt Land Flucht die politischen Sinne in der Großstadt geschärft. Auf ihrem dritten Album Zurück nach Hause schreien 100 Kilo Herz ihre antifaschistischen Parolen in der ersten Hälfte nun lauter denn je heraus und blicken in der zweiten Hälfte ins Innere. Während der Opener Lichter aus auf Abriss getrimmt ist und feierliche Bläser für die großen Festivalbühnen auffährt, thematisiert das folgende Station 30 den in Deutschland seit Jahren herrschenden Pflegenotstand: „Jeden Morgen nach dem Schlaf/ Tut dir etwas anderes weh/ Alle Knochen in dir müde/ Alle Zellen in dir schlapp/ Wieder mal sechs Tage Dienst/ Und heute ist die letzte Nacht“. Im tanzbaren Eine Hölle in Pastell setzt sich Sänger und Bassist Rodi zusammen mit Amy Vialon von Kopfecho wiederum mit häuslicher Gewalt auseinander. In der Anti-Nazi-Hymne Keine Zeit für Angst singen 100 Kilo Herz dagegen im Chor „Ich möchte endlich Wut/ Ich will ein lautes Schreien/ Wenn sie Ihre Lügen brüllen/ Müssen wir noch lauter sein“. Nach dem rasenden und ohne Bläser auskommenden Und das nennt ihr dann leben schließt das die Ermordung von vier behinderten Menschen in einem Potsdamer Pflegeheim aufgreifende Das richtige Wort die erste Hälfte ab. Die zweite Hälfte fällt anschließend deutlich ab. Mit 2694 Tage folgt aber noch eine berührende Abschiedshymne an einen verstorbenen Vierbeiner, während Allein leuchten die Gemeinschaft feiert: „Wenn wir zusammen sind, sind wir die schönsten Menschen der Welt“.
Empire State Bastard – Rivers Of Heresy (Label: Roadrunner/VÖ: 01.09.)
Bei Empire State Bastard handelt es sich um das neue Projekt von Biffy-Clyro-Frontmann Simon Neil und Ex-Oceansize-Frontmann Mike Vennart, der Biffy Clyro seit 2010 als Live-Gitarrist unterstützt. Im Tourbus haben sich Neil und Vennart regelmäßig „die härteste, avantgardistischste oder abstoßend konfrontativste Musik“ vorgespielt, die ihnen in die Finger gekommen ist. Den daraus entwachsenen Wunsch, selbst solche Musik zusammen zu spielen, erfüllt sich das Duo nun mit Rivers Of Heresy („Flüsse der Ketzerei“). Der Albumtitel ist Programm, denn auf ihrem Debütalbum bedienen sich die beiden bei Hardcore sowie jeglichen extremen Metal-Auswüchsen. Für seine messerscharfen Riffs hat sich Vennart etwa bei Siege, Slayer, Sleep und The Locust inspirieren lassen – „Ich habe mir zum Ziel gesetzt, die fucking giftigste, niederträchtigste Musik zu machen, die ich nur machen konnte, einfach ungekürzten Hass in musikalischer Form“ – während das animalisch bis manische Geschrei von Simon Neil eher an Grindcore erinnert. Harvest und Blusher zerfetzen zu Beginn bereits alles, ehe sich das die Ignoranz mancher Leute vorknöpfende Moi? deutlich progressiver daherkommt. Hier singt Simon Neil zu Beginn und sein Gesang kippt erst in Geschrei über, wenn Vennart beginnt, seine Gitarre aufzutürmen. Das völlig ohne Gitarren- oder Bassspuren auskommende Tired, Aye? rückt das malträtierende Schlagzeugspiel von Ex-Slayer-Drummer Dave Lombardo, der die Drums des kompletten Albums eingespielt hat, in den Mittelpunkt, über das Neil diabolisches Geschrei legt. Sons And Daughters ist ein über fünfminütiges und immer wieder an- und abschwellendes Doom-Epos, ehe mit dem sechsten Song Stutter wieder Thrash-Geballer Einzug in die Musik von Empire State Bastard findet, inklusive wohl eingestreuter Synthie-Klänge in der Bridge. In Palms Of Hands beschreibt Simon Neil dagegen zu später melodischem Thrash-Gewitter eine Horror-Sex-Party: „Hello, the introductions done/ A safe word now confirmed/ Let’s do it one on one/ The leather starts to rub/ I’m mildly concerned/ Your mood, it starts to turn“. Das passt zu seinem immer wieder auch weird klingenden Gesang, der sich im finalen Longtrack The Looming noch einmal in diabolisches Geschrei verwandelt, während Empire State Bastard ihre musikalische Metal-Reise nach 35 Minuten in der Doom-Hölle beenden. Vorerst, denn diese entfesselte Naturgewalt arbeitet bereits am zweiten Album.
Frankie And The Witch Fingers – Data Doom (Label: Greenway/VÖ: 01.09.)
Mit ihrem siebten Album beenden Frankie And The Witch Fingers die bislang längste Pause zwischen zwei Alben. Drei Jahre sind seit dem Vorgänger Monsters Eating People Eating Monsters… vergangen, dem zweiten Album seit der musikalischen Umorientierung weg vom Garage Rock, hin zum riffgetriebenen Psychedelic Rock. Zehn Jahre nach seiner Gründung spielt das aus Bloomington, Indiana stammende und mittlerweile in Los Angeles ansässige Quartett in der gleichen Liga wie die australischen Kollegen von King Gizzard & The Lizard Wizard und Psychedelic Porn Crumpets. Erstere sind sowieso Alleskönner, Zweitere verbindet mit Frankie And The Witch Fingers eine ungemeine Spielfreude und ein wahnsinnig eingängiges Songwriting. Dies stellt bereits der Albumopener und erste von zwei Longtracks, Empire, unter Beweis. Nachdem zunächst eine Gitarre und Schlagzeuger Nick Aguilar mit anheizender Snare den Song aufbauen, setzen Frankie And The Witch Fingers zur Riff-Doppelspitze an, wenn schließlich die zweite Gitarre einsetzt. Die folgende Verspieltheit erinnert an King Gizzard, was der einsetzende Gesang von Frontmann Dylan Sizemore nur noch verstärkt. Heimlicher Star des Songs sowie der ganzen Platte ist aber Gitarrist Josh Menashe, der auch für Moog-Synthesizer, Saxophon, Shaker und Mellotron zuständig ist und etwa in Empire den eh schon druckvollen Gitarren mit seinem Saxophon zusätzlichen Druck verleiht. Burn Me Down und Electricide haben anschließend einen Fuß auf dem Fuzz- und einen auf dem Gaspedal, finden aber auch noch Platz für eingängige Refrains. Der zweite Longtrack des Albums, Syster System, lehnt sich dagegen wieder mehr zurück, ohne jedoch soft auszufallen und gerät trotz seiner Länge von mehr als sechs Minuten äußerst kurzweilig und abwechslungsreich. Weird Dog zieht das Tempo dagegen wieder an, das Finale gleicht zudem einer Psychrock-Gitarren-Attacke. Doom Boom spielt sich mit Synthesizern in der Mitte in einen Loop-Rausch. Mit Political Cannibalism klingt Data Doom zurückgelehnt und verzerrt aus, während sich der mit Kopfstimme gesungene Refrain wie ein Großteil der Platte im Ohr festsetzt.
Slowdive – Everything Is Alive (Label: Dead Oceans/VÖ: 01.09.)
Sechs Jahre nach ihrem nach der Band benannten Comeback-Album veröffentlichen Slowdive mit Everything Is Alive ihr zweites Album nach der Reunion 2014. Das fünfte Album der Shoegaze-Legenden ist der verstorbenen Mutter von Gitarristin und Sängerin Rachel Goswell sowie dem ebenfalls 2020 verstorbenen Vater von Schlagzeuger Simon Scott gewidmet. Gitarrist und Sänger Neil Halstead schwebte dabei zunächst ein „minimaleres elektronisches Album“ vor, weswegen er zu Beginn des mehrjährigen Aufnahmeprozesses mit modularen Synthesizern experimentiert hat. Auf der einen Seite erinnert Everything Is Alive daher an den Ambient-Touch des dritten Albums Pgymalion (1995), die Arbeiten im Kollektiv haben jedoch dafür gesorgt, dass die Platte typisch für Slowdive auch von in Hall durchtränkten Gitarren durchzogen ist. Der Opener Shanty beginnt etwa mit pulsierenden Synthies und elektronischen Soundflächen, ehe nach einer Minute die gesamte Band einsteigt, ohne dass sich das Klangbild der ersten 60 Sekunden verabschiedet. Während Goswell und Halstead ihren Gesang hier hinter dichtem Nebelhall verstecken, bleibt das folgende Prayer Remembered komplett instrumental und reduziert das Tempo wieder. Mit Alife folgt der erste poppigere Song, pluckernden Synthesizern inklusive. Auch Kisses zeigt Slowdive von ihrer eingängigsten Seite, dieses Mal jedoch ohne elektronische Elemente. Dazwischen gibt es mit Andalucia Plays noch eines der wunderschönsten Stücke Musik, das Slowdive bislang geschrieben haben. Laut sein können viele Bands, aber so bedacht spielen zu können, ist eine Kunst für sich, ebenso die bedachte Poesie von Neil Halstead: „Wearing your favorite shirt/ French cloth and polka-dot/ Andalucia/ Plays on the stereo/ Remember the first winter/ The dark heart of everything/ And the dog just laid down/ You’ll cry for all of us“. Durch das unspektakuläre Skin In The Game und das loopartig von blubbernden Synthies durchzogene Chained To A Cloud muss man sich etwas durchkämpfen, ehe Slowdive zum finalen The Slab ansetzen und Everything Is Alive mit einem druckvollen Jam beenden. Auch wenn ihr fünftes nicht an ihr zweites (Souvlaki) und auch nicht ihr viertes Album heranreicht, die in den Songs verankerte Hoffnung und Katharsis schlägt allemal über.
Angel Du$t – Brand New Soul (Label: Pop Wig/VÖ: 08.09.)
Wer nach YAK: A Collection Of Truck Songs Angst hatte, Angel Du$t zunehmend an ruhigere Klänge zu verlieren, kann dank des fünften Albums der Band aus Baltimore, Maryland aufatmen. Brand New Soul klingt im Gegensatz zu seinem Vorgängeralbum nun endlich wie die Fortsetzung des dritten Albums Pretty Buff. Das wurde 2019 von Hardcore-Energie durchströmt, die Angel Du$t jedoch immer wieder unkonventionell instrumentiert haben, etwa mit akustischen statt elektrischen Gitarren. Für Brand New Soul hat die Band nun nicht wie gewohnt Will Yip als Produzenten engagiert. Stattdessen hat Frontmann Justice Tripp die Platte selbstproduziert und die Studiotüren für scheinbar alle befreundeten Musiker*innen geöffnet. Neben den als Features angegebenen Gästen haben an Brand New Soul etwa Turnstile-Gitarrist Pat McCrory und -Schlagzeuger Daniel Fang als auch Musiker von Vein.fm und Narrow Head mitgewirkt. Im flotten und mit Akustikgitarren, Bongos, Synthesizern und Kuhglocke instrumentierten Racecar singt dagegen Fizzy von der New Yorker Pub-Rock’n’Roll-Band Loosey mit, während im melodischen Born 2 Run Label-Kollegin Mary Jane Dunphe mit dabei ist. Für das The-Coneheads-Cover Waste Of Space holen Angel Du$t wiederum Odd Man Out aus Seattle ins Boot und Very Aggressive gehört auch dank des Auftritts von Citizen-Sänger Mat Kerekes zu den Highlights der Platte. Beide Songs versprühen eine ungemein ansteckende Energie und wen noch letzte Zweifel plagen, ob das hier noch Hardcore ist, der kann sich beim rasenden Space Jam inklusive Two-Step-Part und Gitarrensolo in 98 Sekunden die Nase blutig schlagen. Beim nach einem Desinfektionsmittel benannten Sippin’ Lysol sogar in 16 Sekunden weniger. Love Slam besitzt ebenfalls Hardcore-Kante, hier greifen Angel Du$t allerdings zur Akustikgitarre statt zur E-Gitarre, den obligatorischen Breakdown am Songende gibt es trotzdem. Don’t Stop, I’m Not Ready und Fuel For The Fire sind Power Pop in Reinform und mit In The Tape Deck gibt es zum Abschluss eine tolle Akustikballade. Was können Angel Du$t eigentlich nicht?
Baroness – Stone (Label: Abraxan Hymns/VÖ: 15.09.)
Mit ihrem sechsten Album verabschieden sich Baroness 20 Jahre nach ihrer Gründung davon, ein Album nach einer Farbe zu benennen. Ist auch eigentlich egal, ob die Platte jetzt Stone oder Turquoise heißt, vor allem wenn das wieder mal von Frontmann John Baizley geschaffene Albumcover trotz der dargestellten Qualen erneut so wunderschön aussieht. Diese Qualen spiegeln sich auch in den Texten wider. „Oh, my sweet oblivion/ We are drowning in paradise/ I guess we’ll need a deeper gutter/ A higher levee to slow this tide” singen Baizley und Gitarristin Gina Gleason verzweifelt etwa im ersten richtigen Song Last Word. Im desperat-langsamen Finale des siebeneinhalbminütigen Magnolia wiederholt das Duo hingegen die Zeilen „Heavy weight, one more stone/ Leaving flaming arrows” so lange, bis man das Gefühl bekommt, selbst von flammenden Pfeilen durchbohrt zu werden. Baroness wären jedoch nicht Baroness, wenn nicht immer wieder Hoffnung in ihren Texten durchschimmern würde. Aus „Build me a home/ Of ember and chain” aus dem ersten und eröffnenden Akustiksong Embers wird in der wunderschönen und abschließenden Akustikballade Bloom „Home, where we go/ To bury blood and stone”. Während bei vergangenen Alben Baroness ihr schlechter Sound teils im Weg stand, hat das Quartett aus Savannah, Georgia die Produktion dieses Mal selbst übernommen. Das Ergebnis ist ein nuancierter und druckvoller Sound, in den Baroness immer wieder sphärische Sounds einarbeiten, etwa um Songs final zur Ruhe kommen zu lassen. Vor allem die längeren Songs Last Word, Beneath The Rose, Shine, Magnolia und Under The Wheel sind Heavy-Prog-Metal-Gemälde, die insbesondere durch den oftmals hymnischen Gesang der Doppelspitze Baizley und Gleason zu Schönheit gelangen. Hervorzuheben ist auch Schlagzeuger Sebastian Thomson, dessen virtuoses Getrommel insbesondere Last Word und Choir zu Highlights macht. Letzterer hätte als instrumentale Interlude allerdings besser funktioniert, da Baizley’s Spoken-Word-Gesang wie auch in Beneath The Rose eher arrogant als leidend klingt. Drei Jahre lang haben Baroness an Stone gearbeitet. Alle vier Bandmitglieder haben nicht nur gemeinsam Produktion und Engineering übernommen, sondern auch zusätzliche Instrumente wie Glockenspiel, Percussion, Streicher, Synthesizer, Klavier und Orgel eingespielt. Zum ersten Mal haben Baroness zudem in der gleichen Besetzung zwei Alben aufgenommen. Da scheinen sich vier Musiker*innen gefunden zu haben, was Stone beeindruckend dokumentiert.
Corey Taylor – CMF2 (Label: Decibel Cooper/VÖ: 15.09.)
Drei Jahre nach seinem ersten Soloalbum veröffentlicht der Frontmann von Slipknot und Stone Sour seine zweite Soloplatte. Während CMFT Corey Taylor zufolge widerspiegelte, wo er herkommt, soll die Fortsetzung CMF2 aufzeigen, wo er musikalisch hinmöchte. Das ist größtenteils spielfreudiger Hardrock, doch auch für Akustikballaden mit großen Gesten ist genug Platz. Die Marschroute legt er dabei im eröffnenden The Box selbst fest: „Come on, enjoy the show“. Der Albumopener besticht durch eine düstere Atmosphäre und die Begleitung von einer Mandoline und könnte glatt als Intro eines Slipknot-Albums durchgehen, wenn Taylor auf dem Zupfinstrument nicht immer wieder zugängliche Akkorde anstimmen würde. Auch das für Hardrock-Verhältnisse recht brutale All I Want Is Hate würde sich dank Taylors Gekeife bei metallischerer Instrumentierung gut als Song seiner Hauptband machen und das abschließende Dead Flies ist bis auf das rasende Gitarrensolo ein Slipknot-Song im Hardrock-Gewand. Am besten ist CMF2 aber dann, wenn Taylor schnörkellosen Hardrock spielt, ohne allzu viel nachzudenken. Etwa im beschwingten Talk Sick oder dem spielfreudigen Ohrwurm Punchline. Ein Fehlgriff ist dagegen die Country-Ballade Breath Of Fresh Smoke, die trotz Hammondorgel und Slash-Gitarrensolo eher an schlimme Nickelback-Momente erinnert. Auch das balladeske Sorry Me trägt zu dick auf, ist im Gegensatz zum in Pathos triefenden Someday I’ll Change Your Mind aber noch halbwegs erträglich. Deutlich überzeugender ist dagegen das an die frühen Volbeat erinnernde Beyond, weil Taylor hier große Gefühle auch musikalisch entsprechend umsetzt. Beim posttraumatische Belastungsstörungen thematisierenden Post Traumatic Blues sind sogar kurz Kvelertak nicht fern. CMF2 bietet all das, was man an Hardrock hassen kann – oder lieben.
Mitski – The Land Is Inhospitable and So Are We (Label: Dead Oceans/VÖ: 15.09.)
Auf ihrem siebten Album lässt Mitski den Synthiepop des tanzbaren Vorgängers Laurel Hell hinter sich. The Land Is Inhospitable And So Are We ist eine folkige Singer/Songwriter-Platte mit Country-Anstrich. Das kommt nicht von ungefähr, denn das Album ist ein Zeugnis der von „privaten Sorgen und schmerzhaften Widersprüchen“ geprägten USA, wie es im Pressetext heißt. The Land Is Inhospitable And So Are We sei die musikalische Verkörperung einer erschöpften Person mittleren Alters in der Midlife-Crisis, so Mitski. Im Song Buffalo Replaced personifiziert die japanisch-amerikanische Songwriterin etwa die Hoffnung in Form eines schlafenden Wesens und fragt sich, ob das Leben ohne Hoffnung einfacher wäre. I Don’t Like My Mind ist dagegen aus der Perspektive einer schmerzerfüllten Person geschrieben. The Land Is Inhospitable And So Are We hat aber auch zahlreiche hoffnungsvolle Momente. In My Love Mine All Mine stellt sich Mitski etwa vor, dass ihre Liebe lange nach ihrem Ableben vom Mond auf die Erde herabscheint. „Love is like a star/ It’s gone, we just see it shinin’/ ‚Cause it’s traveled very far, I’ll/ Keep a leftover light/ Burnin‘ so you can keep lookin‘ up“ singt sie dagegen mit gebrochenem Herzen im von pluckernden Synthesizern getragenen Star. I’m Your Man thematisiert die Allmächtigkeit des Patriarchats. Hier setzt sich Mitski mit einem Hund gleich, was wenig subtil durch im Verlauf des Songs einsetzendes Hundebellen untermauert wird. Während Songs über Hunde bei Mitski stets zum Repertoire gehören, hat sie ihre siebte Platte erstmals von einer Band live im Studio aufnehmen lassen. Zudem ist auf dem Album ein von Drew Erickson arrangiertes und dirigiertes Orchester zu hören, wohingegen Mitski einen 17-köpfigen Chor arrangiert hat. Der reißt im Opener Bug Like An Angel gleich mehrfach aus der Verträumtheit des Songs heraus. Songs wie When Memories Snow, The Deal der Closer I Love Me After You beginnen wiederum ruhig und schwingen sich in ihrem Verlauf auf, When Memories Snow etwa mit einem herausragenden Bläser-Arrangement. Das verträumte Heaven klingt mit Streichern und Flöten dagegen so, wie man sich den Himmel vorstellt. Mit The Land Is Inhospitable And So Are We stellt Mitski ihre Vielseitigkeit einmal mehr unter Beweis und hat ein vor allem unglaublich schönes Stück Musik geschaffen.
Code Orange – The Above (Label: Blue Grape/VÖ: 29.09.)
Den mit dem Vorgänger Underneath eingeschlagenen Metalrock-Weg gehen Code Orange auf dem Nachfolger The Above weiter, lassen zugleich aber erstmals Licht in ihren düsteren Sound-Keller.Darauf deutet zunächst nichts hin: das von Punk-Ikone Steve Albini aufgenommene fünfte Album der Band aus Pittsburgh, Pennsylvania beginnt mit abgerissenem Panzerband und unheilvollem Gesang von Frontmann Jami Morgan, ehe im Refrain von Never Far Apart sanfte Pianoklänge und ebenso sanfter Gesang von Gitarristin Reba Meyers erklingen. Code Orange wären aber nicht Code Orange, wenn sie den Song gen Ende nicht mit Metal-Gitarren zersägen würden. Auch das folgende Theatre Of Cruelty changiert zwischen Zugänglichkeit und Hardcore-Geballer, während im Industrial-Metal-Brecher Take Shape Billy Corgan für die ruhigen Töne zuständig ist, bevor sich der Song metallisch rockend und einem ersten Ohrwurmrefrain noch einmal aufschwingt. The Mask Of Sanity Slaps vereint Slipknot und Nine Inch Nails und lässt Streicher gegen digitale Sounds antreten. Die Industrial-Ballade Mirror ist sogar gänzlich von Streichern durchzogen und klingt mit Vogelgezwitscher aus. Aus dieser Verträumtheit reißt einen A Drone Opting Out Of The Hive mit Metal-Riffs und verstörendem Spoken-Word-Gesang wieder heraus. Auch The Game und das von verstörenden elektronischen Sounds durchzogene Grooming My Replacement schlagen in diese Kerbe. Überhaupt ist das von Morgan und Programmierer/Gitarrist Eric „Shade“ Balderose produzierte Album soundtechnisch eine absolute Wucht und mit jedem weiteren Durchlauf lassen sich neue Soundspielereien entdecken, die zur unheilvollen Atmosphäre beitragen. Das als TripHop beginnende Snapshot ist hingegen der große Moment von Gitarristin und Sängerin Reba Meyers, deren Gesang immer leidenschaftlicher und leidender wird, während sie Zeilen wie „It’s not a safe house, it’s a cage“ singt. Auch das folgende, von Morgan und Meyers gesungene Circle Through ist ein krasser Ohrwurm, auch weil sich Code Orange für ein „Oh-Oh-Oh“ nicht zu schade sind. „Free will is nothing but a dream“ heißt es dagegen in But A Dream…, mit dem das Sextett das Triumvirat der großen Metalrock-Hymnen auf The Above abschließt. Mit dem finalen Titeltrack schweben Code Orange schließlich davon, ehe der Song im Effektrausch ausklingt und in den Titeltrack des zweiten Albums I Am King (2014) übergeht. The Above ist ein Ausnahmealbum einer Ausnahmeband, die damit endgültig sämtliche Genre-Mauern einreißt.
The Hirsch Effekt – Urian (Label: Long Branch/VÖ: 29.09.)
Obwohl ihr fünftes Album bereits drei Jahre zurückliegt, waren The Hirsch Effekt in den vergangenen Jahren nicht untätig. Während das Trio aus Hannover 2021 die EP Gregær mit Orchesterversionen ausgewählter Songs des 2020 erschienenen Kollaps veröffentlichte, schickte es 2022 noch die EP Solitaer hinterher, für die jedes der drei Mitglieder einen Song jeweils im Alleingang geschrieben hat. Ihr sechstes Album haben The Hirsch Effekt nun nach dem auch aus Goethes Faust bekannten, ungebetenen Gast benannt, dessen Begegnung meist ziemlich unerwünscht ist. Ein übergreifendes Konzept liegt Urian im Gegensatz zu dem von der Klimakrise beeinflussten Kollaps jedoch nicht zugrunde. Zusammengehalten wird die Platte von den beiden mit Cello untermalten Akustikballaden Agora (Opener) und Eristys (Closer). „Dieser Krieg/ Diese Pest/ Meine Welt findet nicht mehr zu mir zurück/ Entgleist, entrückt/ Gar kein Halt/ Gar kein Sinn/ Wann wird irgendetwas sein, wie es mal war/ Und wie ich bin?“ singt Gitarrist Nils Wittrock in Agora und meint damit eindeutig den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Pandemie. Der Krieg in der Ukraine bestimmt auch die Lyrics von Granica, das nach dem altslawischen Wort für Grenze benannt ist. Leider drückt Wittrock die zu Papier gebrachte Verzweiflung und Ohnmacht aber deutlich weniger deutlich aus, als es in einigen Songs auf Kollaps der Fall war. Musikalisch lässt sich an Urian aber nur wenig bemängeln. Im fast zehnminütigen Otus verdichten The Hirsch Effekt zunächst die Atmosphäre, ehe sie erst nach drei Minuten die Prog-Metal-Muskeln spielen lassen. Die jeweils siebenminütigen 2054 und Urian lösen anschließend die Handbremse und bieten bis auf einen reduzierten Mittelteil in 2054 eine Viertelstunde Math-Prog-Metal-Core-Geballer der Extraklasse. Auch das melancholische Alternative-Prog-Rock-Stück Stegodon und das in einem hymnischen Refrain aufgehende Blud sind weitere musikalische Highlights. Leider schaffen es The Hirsch Effekt auf Urian im Vergleich zu Kollaps aber zu selten ein emotionales Band zwischen sich und alle Hörer*innen zu spannen.