Citizen – Calling The Dogs (Label: Run For Cover/VÖ: 06.10.)
Mit ihrem fünften Album lassen Citizen den Emo-Grunge ihrer ersten Alben endgültig hinter sich. Das hatte sich mit dem tanzbaren Vorgänger Life In Your Glass World (2021) bereits angekündigt, auf Calling The Dogs frönt das Quintett aus Toledo, Ohio nun über die gesamte Dauer seiner Sensibilität für Indie und Pop, jedoch mit der Instrumentierung einer Rockband. Der Opener Headtrip schließt einen mit warmen Gitarren und verträumten, aber zugänglichen Gesang in die Arme und verbreitet jede Menge gute Laune. Das gilt auch für den folgenden und an The Strokes erinnernden Ohrwurm Can’t Take It Slow, während Hyper Trophy das Tempo anzieht und das Fuzz-Pedal stärker herunterdrückt. Die 2009 gegründete Band reißt einen erstmals im fünften Song Lay Low mit leidenschaftlicherem Gesang von Frontmann Mat Kerekes aus der Entspanntheit heraus. Dogs kommt mit leichtem Geschrei dagegen düsterer und dringlicher daher. Der Power Pop von Needs, When I Let You Down sowie dem abschließenden Takes One To Know One erinnert wiederum an Angel Du$t, auf deren aktuellen Album Brand New Soul Kerekes mitsingt. Während Citizen ihre Musik mit jedem Album weiterentwickelt haben, ist ihr textlicher Ansatz, trotz gegenwärtiger Melancholie positiv in die Zukunft zu blicken, stets gleichgeblieben. Nur in Options geben sich Citizen auch musikalisch vollkommen melancholisch, was die Lyrics nur verstärken: „I said I don’t wanna be the second option anymore/ And I don’t wanna leave out of your back door, that’s for sure”. Selbstermächtigung gibt es dagegen in Bad Company: „Because I don’t want your love, your pride, your touch/ I’d rather spend a hundred nights alone”. Calling The Dogs handelt vor allem von zwischenmenschlichen Beziehungen. If You’re Lonely betont den Wunsch, für andere Personen da zu sein („I know that you will call me if you’re lonely”), während Kerekes in When I Let You Down die Enttäuschung, dies nicht immer zu schaffen, zum Ausdruck bringt: „It makes me sick when I let you down“. Zumindest bei Citizen selbst scheint gerade alles ziemlich gut zu sein. Hatten die US-Amerikaner Life In Your Glass World als Trio aufgenommen, gehören der ehemalige Title-Fight-Schlagzeuger Ben Russin und Gitarrist Mason Mercer seit diesem Jahr nun fest zur Band.
Sufjan Stevens – Javelin (Label: Asthmatic Kitty/VÖ: 06.10.)
Die Begleitumstände für Sufjan Stevens‘ erstes richtiges Singer/Songwriter-Album seit Carrie & Lowell (2015) könnten nicht schlechter sein: beim 48-Jährigen ist im August das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert werden. Die Autoimmunerkrankung ist zum Glück behandelbar, aktuell befindet sich Stevens in Reha, um sich zu erholen. Begleitet wird Javelin zudem von einer weiteren traurigen Nachricht für Stevens: die Platte ist seinem im April verstorbenen Partner Evans Richardson gewidmet, deren Beziehung Stevens bislang unter Verschluss hielt. In den Texten seines zehnten Albums – die in Kollaboration entstandenen Alben nicht mitgerechnet – geht es daher vornehmlich um Liebe und Verlust. „Goodbye, Evergreen/ You know I love you“ singt Stevens etwa im Opener Goodbye Evergreen. In Will Anybody Ever Love Me? fragt er sich dagegen „Will anybody ever love me?/ For good reasons/ Without grievance, not for sport“, wohingegen er in Everything That Rises um Erlösung bittet. Die Thematik der Platte fasst hingegen das achteinhalbminütige Shit Talk am Besten zusammen: „I will always love you/ Hold me closely/ Hold me tightly, lest I fall“. Musikalisch klingt Javelin, als hätte Stevens den Singer/Songwriter-Folk von Carrie & Lowell mit den elektronischen Auswüchsen von The Age Of Adz (2010) gepaart. Die Schönheit der ausschließlich mit Piano und Gesang auskommenden ersten Strophe von Goodbye Evergreen zersägt er etwa in der zweiten mit lauten elektronischen Elementen, ehe anschließend beides gleichberechtigt nebeneinanderstehen darf. Einen ähnlich starken Kontrast gibt es in den folgenden neun Songs nicht mehr. Oftmals beginnen die Songs mit Stevens‘ sanftem und einem Ruhepol gleichenden Gesang, der von einer Akustikgitarre begleitet wird, ehe im weiteren Verlauf elektronische Elemente hinzukommen. Kaum ein Song kommt zudem ohne die Stimmen befreundeter Musiker*innen aus, die den Songs einen hinreißenden Unterbau verpassen. Für Shit Talk hat zudem Bryce Dessner von The National einige Gitarren eingespielt, ansonsten hat Stevens die Platte allein in seinem Heimstudio aufgenommen und auch die Produktion sowie Mixing und Recording übernommen. Dass er Javelin mit einer sanften Neuinterpretation des im Original von Neil Young stammenden und pompösen There’s A World beschließt, passt zur erimitischen, aber nach einem ganzen Orchester klingenden Arbeitsweise von Stevens.
Svalbard – The Weight Of The Mask (Label: Nuclear Blast/VÖ: 06.10.)
Nach drei mitunter politisch-aktivistischen Alben, klammern Svalbard auf ihrem vierten Album soziale und politische Themen vollständig aus. Nicht nur weiterhin, sondern dieses Mal ausschließlich behandeln die Texte von Sängerin und Gitarristin Serena Cherry psychische Gesundheit, Ängste, Depressionen und Liebe. Auch auf Metaphern verzichtet Cherry diesmal und hat stattdessen einen schlichten und direkteren Ansatz gewählt. Der Schreibprozess von The Weight Of The Mask sei zudem kein entspannter Prozess gewesen. Nach zwei Alben für Holy Roar und einem für Church Road ist die Platte ihr erstes Album auf Nuclear Blast. Dies hat bei Svalbard den Druck ausgelöst, für das große Metal-Label nicht gut genug zu sein, was die Band in Kombination mit denen vom Vorgänger When I Die, Will I Get Better? ausgelösten Erwartungen dazu veranlasst hat, die Hälfte des für das Album geschriebenen Materials zu verwerfen. The Weight Of The Mask hört man dies allerdings nicht an. Die neun Songs sind weiterhin ein intensives Blackgaze-Hörerlebnis mit Versatzstücken aus Metal und Hardcore. Der von den Problemen, die eine erzwungene Positivität für Menschen mit Depressionen mit sich bringen kann – The Weight Of The Mask – handelnde Opener Faking It zieht das bereits schnelle Tempo etwa immer wieder an. Gleichzeitig lassen Svalbard trotz ausschließlich gutturalem Gesang im Refrain immer wieder die Sonne rein. Das gilt auch für das folgende Eternal Spirits – ein Tribut an verstorbene Musiker*innen innerhalb der Metal-Community und speziell den 2021 verstorbenen, ehemaligen Slipknot-Schlagzeuger Joey Jordison – in dem Cherry in Rolo-Tomassi-Manier erstmals auch schwebenden Klargesang beisteuert. November beginnt sogar mit Spoken-Word-Gesang und bricht erst nach der Hälfte in Blackgaze-Gefilde aus und fasst vor allem zu Beginn die Thematik des Albums zusammen: „My heart so dead and broken/ Its pieces already frozen/ Slumped against the barriers in my brain/ Never feeling love/ But never feeling pain“. How To Swim Down ist dagegen der erste Svalbard-Song mit ausschließlich Klargesang und zudem der erste Song des Quartetts aus Bristol, für den Gitarrist und Co-Frontmann Liam Phelan Geige eingespielt hat. Pillar In The Sand beginnt atmosphärisch, ruhig und ebenfalls mit Klargesang, ehe der Song im letzten Drittel in Post-Metal inklusive Geschrei ausbricht. Will heißen: Immer dann, wenn der Blackgaze von Svalbard droht, zu eintönig zu werden, sorgen Svalbard beim Songwriting für Abwechslung. Davon kann es in Zukunft gerne mehr sein.
Beartooth – The Surface (Label: Red Bull/VÖ: 13.10.)
Das pinke Cover deutet es an: Caleb Shomo hat erstmals ein optimistisches Album voller Zuversicht geschrieben. Nachdem die hinter Beartooth stehende Ein-Mann-Kapelle auf den vorherigen vier Alben einen stets sehr düsteren Einblick in sein von Depressionen geplagtes Innenleben gegeben hatte, hat Shomo während der Pandemie eine gesündere Beziehung zu sich selbst aufgebaut. The Surface ist folglich „die Geschichte meines Aufbruchs in eine neue Welt, die ich für mich geschaffen habe. Eine, die sich auf Gesundheit, Selbstliebe, Positivität, Verständnis, harte Arbeit und vor allem auf zweite Chancen konzentriert“, so Shomo. „I’m not dead yet” heißt es passenderweise zu Beginn im eröffnenden Titeltrack, ehe erstmals harte Gitarren zum Tanz im Moshpit bitten, bevor der Refrain wieder Sonne in den Sound lässt: „All my worries were a waste of time/ Made the world so blurry I was going blind/ I can finally see like the others”. Ins gleiche hoffnungsvolle Horn bläst der folgende Ohrwurm Riptide: „I’m done explaining my pain, this is way too much/ I wanna feel euphoria, give me the rush”. Das ebenfalls gelungene, in der Bridge allerdings etwas ideenlose Doubt Me handelt vom Kampf gegen die niedrigen Erwartungen anderer, während The Better Me mit Country-Sänger Hardy nach der titelgebenden besseren Version eines selbst sucht. Das ist musikalisch nicht mehr weit von Kid Rock entfernt und trägt zudem lyrisch sehr dick auf. Might Love Myself dreht sich um Selbstliebe, vor allem Shomo’s Gesang klingt hier aber viel zu gefiltert. Sunshine! bringt anschließend die dreckige Aggressivität zurück, wirft aber gleich mehrfach einen tollen Akustikgitarrenpart dazwischen. Weitere Abwechslung gibt es mit dem als Akustikballade beginnenden und von Selbstheilung handelnden („I’m picking up the pieces, please just look the other way”) Look The Other Way, das sich nach der Hälfte aber leider musikalisch aufschwingt, mit Piano und zerbrechlicher Stimme von Shomo aber wieder stark endet. Das überproduzierte My New Reality kann sich dagegen nicht entscheiden, ob es nun Pop oder Metalcore sein möchte. Mit What Are You Waiting For beweisen Beartooth wiederum, dass sie noch immer höchst mitreißende Songs schreiben können. Trotz mancher Makel beim Songwriting wissen Beartooth auch mit ihrem fünften Album zu gefallen, was vor allem an den starken und authentisch vorgetragenen Texten von Shomo liegt, deren Zuversicht im finalen I Was Alive seinen Höhepunkt erreicht: „When I die, I’ll know I didn’t just live/ I was alive“.
Creeper – Sanguivore (Label: Spinefarm/VÖ: 13.10.)
Mit ihrem dritten Album erfüllen sich Creeper den langgehegten Traum einer Vampirplatte, die passenderweise an einem Freitag, der 13. erschienen ist. Während das zweite Album Sex, Death & The Infinite Void von der apokalyptischen Romanze der Charaktere Roe und Annabelle handelte, stehen auf Sanguivore (Blutsauger) die Vampirin Mercy und der in ihre Kontrolle geratene ältere Mann Spook im Fokus, jeweils namentlich erwähnt in The Ballad Of Spook & Mercy. Während sich die Ballade hervorragend auf Murder Ballads von Nick Cave gemacht hätte, lassen Creeper die warmen Americana-Gitarren des zweiten Albums hinter sich. Stattdessen inszenieren sich die Briten auf der von Tom Dalgety (Ghost) produzierten Platte als Gothic-Rock-Band. Nicht nur mit dem tollen Albumcover, sondern auch musikalisch. Das eröffnende, neunminütige Further Than Forever gleicht mit Pianountermalung, Chören und einem von zahlreichen schmissigen Ohrwurmrefrains etwa einer Goth-Oper. Die untermauert zudem, was die alleinstehende Single Ghost Brigade 2022 angedeutet hatte: Gitarrist Ian Miles wirkt wieder präsenter am Songwriting mit, nachdem er sich beim Vorgänger aufgrund seiner psychischen Gesundheit vom Songwriting zurückziehen musste. Seine druckvollen und teils metallischen Riffs bestimmen das Soundbild ebenso wie Keyboarderin Hannah Greenwood, deren Gesang im Gegensatz zur EP American Noir (2021) bei keinem der zehn Songs ins Zentrum gerückt wird. Ihre pluckernden Synthesizer machen Cry To Heaven und Black Heaven aber zu Darkwave-Stampfern, während die punkigen Chapel Gates und insbesondere Sacred Blasphemy an die Misfits erinnern. Die von Sänger Will Gould gewohnt leidenschaftlich gesungene und das Album beschließende Klavierballade More Than Death weckt hingegen Erinnerungen an Meat Loaf. So wie sich das titelgebende Wesen von Blut ernähren muss, um zu überleben, möchte man von diesem Album zehren.
Crosses (†††) – Goodnight, God Bless, I Love U, Delete (Label: Warner/VÖ: 13.10.)
Nach dem 2014 veröffentlichten, nach der Band benannten Debütalbum war es lange still um Crosses (†††). Mit der EP Permanent.Radiant meldete sich das aus Deftones-Frontmann Chino Moreno und Produzent/Multi-Instrumentalist Shaun Lopez bestehende Duo vergangenen Dezember zurück und lässt mit Goodnight, God Bless, I Love U, Delete nun sein zweites und erstes Album seit neun Jahren folgen. Das besteht wie der Vorgänger aus 15 Songs, ihren Electro lässt die Band nun einerseits variationsreicher klingen, dennoch schafft es Lopez, dass die Songs organischer ineinander übergehen. Pleasure eröffnet die Platte mit pulsierenden elektronischen Klängen, deren Atmosphäre von Moreno’s gehauchtem Gesang verdichtet wird. Naturgemäß erinnert seine Stimme an Deftones, gleichzeitig klingt Moreno auf Goodnight, God Bless, I Love U, Delete deutlich nuancierter und in sich gekehrter als auf den Platten seiner Hauptband. Dem drückenden Invisible Hand sowie dem Industrial-artigen Found verpasst Moreno mit seinem Gesang einen melancholischen Stempel, in Letzteren klingt er sogar schwebend. Pulseplagg gerät trotz unzugänglicher Sounds dank seiner Stimme eingängig. Goodnight, God Bless, I Love U, Delete ist gegenüber Crosses (†††) zudem das bessere Album, weil das Duo nun nicht mehr vor poppigen Sounds zurückschreckt, wie in Light As A Feather oder dem flächigen Runner. Das pulsierende Ghost Ride klingt wie der Soundtrack der nächsten Cyberpunk-Verfilmung und Last Rites verdeutlicht, dass Crosses (†††) noch immer am besten darin sind, düsteren Dreampop zu programmieren. Auf Goodnight, God Bless, I Love U, Delete sorgen zudem zwei Gäste für zwei der besten Momente der Platte: in Girls Float † Boys Cry singt The-Cure-Frontmann Robert Smith mit, während Big Youth dank dicker Beats und El-P nach dessen Rap-Duo Run The Jewels klingt. Hoffentlich lassen Moreno und Lopez diesem starken zweiten Album dieses Mal schneller ein weiteres Album folgen.
Dream Nails – Doom Loop (Label: Marshall/VÖ: 13.10.)
2020 hatten Dream Nails aus London mit ihrem nach der Band benannten Debütalbum ein feministisches Manifest geliefert, dem sie mit dem zweiten Album Doom Loop drei Jahre später ein weiteres folgen lassen. Das Cover verdeutlicht den in Musik gegossenen Widerstand: es wird auf die Zähne gebissen, bis der Lippenstift abfärbt. Der Titel bezieht sich dagegen auf die wiederholenden Zyklen, in denen wir uns befinden. Einer davon ist der allgegenwärtige Einfluss patriarchalischer und Unterdrückung ausübender Systeme, die auf dem Album eine zentrale Rolle einnehmen, denn das 2015 gegründete Quartett befasst sich darauf mit Männlichkeit in den unterschiedlichsten Formen. Der Opener Good Guy etwa mit der toxischen Form von Männlichkeit. Der Titel geht dabei auf einen Amoklauf in Kalifornien 2014 zurück, bei dem sich der Täter als guter Kerl und als Opfer darstellte, weil er keine Partnerin finden konnte. Dream Nails finden für die männliche Übergriffigkeit dabei deutliche Worte: „Every single one of us has been harassed by/ One of the good guys, one of the good-good guys/ Every single one of us has been attacked by/ Smacked by, scared in your flat by/ One of the good guys, one of the good-good guys”. Case Dismissed rechnet anschließend mit unterlassenen Hilfeleistungen der Polizei ab: „Case dismissed/ Do not resist/ Complain all you like/ They will help you then break you down”. She’s Cutting My Hair verortet männliche Übergriffigkeit dagegen im Friseursalon, der als Platzhalter für den Alltag dient: „She’s cutting my hair/ I wanna stay with this touch I found“. Auf Doom Loop zelebrieren Dream Nails aber auch die Stärke und Widerstandsfähigkeit nichtbinärer und queerer Identitäten, etwa in Femme Boi, das männliche Butch- und Trans-Identitäten in den Fokus rückt und damit die nicht-toxischen Seiten von Männlichkeit feiert. Doom Loop klingt weniger hibbelig und deutlich fokussierter als das teils vor Energie übersprudelnde Debüt, was auf den Besetzungswechsel am Mikro zurückzuführen ist. Dort steht nicht mehr Sängerin und Gründungsmitglied Janey Sterling, sondern Aktivist*in und Drag Performer*in Ishmael Kirby, was den (Sprech-)Gesang der Band nun deutlich britischer als zuvor klingen lässt. Am deutlichsten herauszuhören im HipHop-artigen Sometimes I Do Get Lonely, Yeah, das sich mit Incels auseinandersetzt: „See the world is stacked against guys like me/ Men aren′t in control, we’re the bottom of society/ The lie of our existence, guys are the victims/ And nothing′s gonna change so what’s the point in living?” Doom Loop überzeugt nicht nur textlich, der Riot-Grrrl-Punk von Dream Nails begeistert vor allem dank druckvoller und fuzziger, aber auch tanzbarer Gitarrenriffs.
Blink-182 – One More Time… (Label: Columbia/VÖ: 20.10.)
Nach der Rückkehr des 2015 aus der Band ausgetretenen Tom DeLonge im vergangenen Jahr veröffentlichen Blink-182 zum ersten Mal seit dem 2011 erschienenen Neighborhoods ein Album in der Besetzung der Erfolgsalben Enema Of The State (1999), Take Off Your Pants And Jacket (2001) und Blink-182 (2003). Bereits nach dem verheerenden Flugzeugabsturz von Travis Barker 2008, den dieser nur knapp überlebte, hatten sich DeLonge, Barker und Bassist Mark Hoppus wieder zusammengerauft. Der erneuten Reunion ist dieses Mal eine mittlerweile überstandene Krebserkrankung von Hoppus vorausgegangen, in deren Folge DeLonge und Hoppus ihren Disput ausgeräumt haben. Auf dem von Barker produzierten One More Time… reflektieren Blink-182 ihre eigene Historie, in der emotionalen Akustikballade One More Time legt DeLonge zudem seine zur Reunion führenden Gefühle offen: „Do I have to die to hear you miss me?/ Do I have to die to hear you say goodbye?/ I don’t wanna act like there’s tomorrow/ I don’t wanna wait to do this one more time“. Seinen jugendlichen Leichtsinn hat das Trio glücklicherweise behalten, der wie auf Enema Of The State aber gleichberechtigt neben ernsten Tönen steht. Melancholisch wird es etwa im von Hoppus gesungenen You Don’t Know What You Got, das sich sehr deutlich auf seine Krebserkrankung bezieht, und auch das dringliche Terrified fällt dramatischer aus. Am anderen Ende steht das an Close To Me von The Cure angelehnte und sehr poppige Fell In Love sowie der passend betitelte New-Wave-Ausflug Blink Wave. Größtenteils regiert im Gegensatz zum Electro-Pop-Totalausfall-Vorgänger Nine (2019) auf dem zehnten Album aber der Pop-Punk-Sound, mit dem Blink-182 vor etwas mehr als 20 Jahren zu einer der größten Rockbands des Planeten geworden sind. Mit Turn This Off! und Fuck Face (mit Rancid-Frontmann Tim Armstrong) gibt es zudem zwei kurze, rasende Punk-Songs, die es zusammen auf eine Länge von 50 Sekunden schaffen. Dass nicht alle 17 Songs das Niveau des sehr starken ersten Drittels halten: geschenkt.
Clowns – Endless (Label: Fat Wreck/VÖ: 20.10.)
Dass Clowns an ihrem fünften Album aufgrund der zahlreichen strikten Lockdowns in ihrer australischen Heimat Melbourne vornehmlich remote und abgeschottet voneinander gearbeitet haben, hört man der Platte nicht an. Was man Endless anhört, ist dagegen, dass das Quintett durch die Arbeiten am Album ein neues Gefühl der Stärke gefunden hat. Selten haben Clowns vor so viel Spielfreude gestrotzt und Punkrock so vielseitig interpretiert wie hier. Der eröffnende Titeltrack beginnt mit Klavierakkorden, ehe die ersten Metal-Gitarren einsetzen, die sich im folgenden Formaldehyde in Punk-Gitarren verwandeln, die Frontmann Stevie Williams mit einem langgezogenen Schrei unterfüttert, bevor Clowns zur ersten melodischen Abfahrt ansetzen. Was auffällt: es ist nicht mehr nur Williams allein, der für den Gesang zuständig ist, Bassistin Hanny J unterstützt ihn nun tatkräftig. Das die vom Lockdown ausgelöste aufgestaute Energie behandelnde („We’re going nowhere“) Thanks 4 Nothing singt sie sogar allein, bevor in der Bridge ein schreiender Williams dazu kommt. Im sich mit Selbstverteidigung auseinandersetzenden I Got A Knife darf wiederum Cecilia Boström von der schwedischen Punkband The Baboon Show eine Runde mitröhren. Zentrales Thema der Platte ist jedoch Unsterblichkeit. „I fell from a drop ten stories high/ Got up off the ground and I survived/ That’s why i’m pretty sure I’ll never die/ ‘Cos I’m soaking in Formaldehyde“ heißt es etwa in Formaldehyde, während Williams in Scared To Die in Anlehnung an seine angespannten Nerven während der Isolation „I’m so scared to die/ And when we fuck/ I’m gonna live forever“ singt. Z3r0s & 0n3s befasst sich wiederum mit künstlicher Intelligenz und den Folgen, welche die Erhaltung des menschlichen Bewusstseins in Maschinen haben könnte. „I’m awake“ singt Williams dagegen im passend betitelten Bisexual Awakening und verarbeitet seine Bisexualität dabei auf seine eigene humoristische Art: „Shut your mouth/ ‘Cos I know/ That you know/ That I would fuck your mother/ But what it is you don’t know/ Is I would fuck your brother too“. Im fast neunminütigen Closer A Widow’s Son erzählt hingegen der anonyme Host des australischen True Crime Podcasts Casefile von einem der Abenteuer des berühmtesten australischen Bushrangers Ned Kelly, während Clowns zusammen mit Feine-Sahne-Fischfilet-Trompeter Max Bobzin einen Spaghetti-Western-Soundtrack auffahren. Ihren Punk werten die Australier*innen zudem immer wieder mit (Thrash-)Metal-Gitarren auf, wie in der Bridge von Formaldehyde, Sarah, und in Death Wish und Enough’s Enough dürfen die Gitarren gleich mehrfach aufheulen. Zudem kippt ihre Musik regelmäßig in galoppierenden Hardcore. Dass Clowns hier Hit nach Hit abwerfen, ist da die logische Schlussfolgerung und das Sahnehäubchen auf einer äußerst schmackhaften Punk-Torte mit vielen verschiedenen Zutaten und Geschmacksrichtungen.
Rival Sons – Lightbringer (Label: Atlantic/VÖ: 20.10.)
Nach dem im Juni erschienenen, dunklen Darkfighter wenden sich Rival Sons auf der zweiten Hälfte ihres Doppelalbums dem Licht zu. Darkfighter heißt auch der als Brücke zwischen beiden Hälften funktionierende Opener von Lightbringer, in dem Frontmann Jay Buchanan passenderweise „I wanna be a darkfighter/ A lightbringer to the end“ singt. Der Song ist ein neunminütiger, immer wieder in Hardrock umschwingender Bluesrock-Koloss, den das Quartett aus Kalifornien immer wieder an- und abschwellen lässt. Im fuzzy knarzenden Mercy singt Buchanan anschließend „So have a little mercy/ Mercy never let you down/ Try a little mercy”, während das ruhigere Redemption nicht nur musikalisch warme Zuversicht ausstrahlt: „If we can make it to the sunrisе/ We can surrender our yesterday/ And though we make our plans, still we understand/ That redemption comes in unfamiliar ways”. Der rockige Ausbruch im Refrain von Sweet Life ist dagegen vor allem auf den souligen Gesang von Buchanan zurückzuführen. Auch Before The Fire kommt musikalisch gemäßigter, aber erwärmend daher, während die Lyrics erlösenden Charakter besitzen: „Before the fire/ I was a walking heart attack/ Before the fire/ Never thought of the end/ Now everything’s gone/ And it’s never coming back”. Im sich zum gefühlsstarken Refrain hin immer wieder stark aufbauenden Mosaic klingt Buchanan dagegen predigend, wenn er „Joy, Heartache/ Happiness and pain/ What you want is out of reach/ So reach out again“ singt. Ein Album, erwärmend wie ein Kamin im Winter.
The Gaslight Anthem – History Books (Label: Rich Mahogany/VÖ: 27.10.)
History Books ist das erste Album von The Gaslight Anthem seit neun Jahren. Seit dem Vorgänger Get Hurt (2014) mussten Fans der Heartland-Rock-Band vornehmlich auf Soloalben von Frontmann Brian Fallon – drei an der Zahl – ausweichen. Mit ihrem sechsten Album möchte die Band aus New Jersey nach eigener Aussage ihren Sound nicht neu erfinden, sondern sich treu bleiben. Das gelingt der Band, gleichzeitig schaffen es The Gaslight Anthem nicht, das Gefühl ihrer ersten Alben aufflammen zu lassen. Spider Bites eröffnet das Album etwa mit einer druckvollen Soundwand, ehe das Quartett seinen Heartland-Rock klasse mit Piano untermalt und der Gesang von Fallon immer wieder anschwellt. Der zurückgelehnte Refrain schafft es allerdings nicht, diese Energie beizubehalten und steht damit symptomatisch für den Großteil der folgenden neun Songs. Oftmals stehen sich The Gaslight Anthem mit dem rohen Sound des Albums selbst im Weg. Brian Fallon muss etwa in nahezu jedem Song gegen die deutlich lauter abgemischten Instrumente ankämpfen. Das führt dazu, dass der von Bruce Springsteen unterstützte und leidenschaftlich gesungene Titelsong nur einen guten, aber keinen sehr guten Song abgibt. Autumn zeichnet lyrisch ein stimmungsvolles Bild („‘Cause I know someday it’s gonna be all over/ No more spring into summer time/ So can I hold you underneath October?/ Black jeans in autumn, leaves falling down“), bleibt musikalisch aber blass. Das gilt auch für das flotte Positive Charge sowie die Ballade Michigan, 1975, die schön, aber nicht wunderschön ausfällt. Das treibende Little Fires mit Pup-Frontmann Stefan Babcock schafft es dagegen, die Leidenschaft der frühen Alben auflodern zu lassen und auch die Ballade The Weatherman überzeugt auf ganzer Linie und zählt auch lyrisch zu den besten Songs der Platte: „And the harvest moon offers its light/ To the lovers still in love with the night/ I am a weatherman watching the sky/ Trying to read you“. Danach ist die Luft etwas raus und die reduzierten Songs Empires und A Lifetime Of Preludes schaffen es ebenso wenig wie das kraftvollere I Live In The Room Above nachhaltig hängenzubleiben. Es ist schön, dass The Gaslight Anthem wieder voll da sind, musikalisch bleiben sie diesen Nachweis allerdings vorerst noch schuldig.