Leto – Profilschärfung

Was tun, wenn das zweite Album im Corona-Loch verpufft? Leto schreiben einfach ein drittes, das in der Entstehung wie im Ergebnis so intensiv ist, dass sich dem schwer entzogen werden kann. Wie es war Leben und Tot zu schreiben, das von der eigenen Fehlbarkeit, von Todesurteilen, vom Weiterleben und von der Abkehr von falscher Toleranz handelt – und warum damit die Turbostaat-Vergleiche endlich aufhören werden, erklären Sänger Jannes und Bassist Paul im Gespräch.

„Das Album hat uns alles abverlangt. Das hört sich jetzt polemisch an, aber das war so. Wir haben super lange daran geschrieben. Das dann rauszuhauen ist krass“, erklärt Sänger und Texter Jannes auf der Rückbank des bandeigenen Sprinters, kurz vor ihrem Konzert im Stumpf in Hannover. Insgesamt eine Stunde dauert das Gespräch – bei den Beiden hat sich ordentlich was angestaut. Zum einen, weil hinter ihnen herausfordernde Monate liegen, zum anderen, weil sich Songs, die von Leben und Tot handeln nicht in drei Minuten erklären lassen. Dazu später mehr.
2015 gegründet fallen Leto einem etablierten Musikjournalismus-Mechanismus zum Opfer: Sie werden verglichen, in eine Schublade gesteckt, einer Szene zugeordnet. So wie Turbostaat und Pascow stets in einem Atemzug mit Jens-Rachut-Bands genannt werden, schwimmen in der öffentlichen Wahrnehmung alle nach 2010 gegründeten deutschsprachigen Punkrockbands auf der Nachfolger-Welle von Turbostaat oder Pascow. Dass es zwischen den genannten Bands erhebliche Unterschiede gibt? Geschenkt. „Wir haben uns auf den ersten beiden Alben schon stark an Bands orientiert, was uns immer auch ein bisschen vorgeworfen wurde“, gibt Jannes mit Blick auf das Debüt Vor die Hunde (2018) und dem 2020 knapp zwei Monate vor dem zweiten Lockdown veröffentlichten Nachfolger Wider zu. „Paul und ich wir sind in dem Genre zu Hause und gehen auch genau zu den Bands auf Konzerten, deshalb will ich auch nicht abstreiten, dass wir davon sozialisiert sind“. „Aber mitunter ist das einfach lächerlich“, stellt sein Bandkollege klar. „So einen Vergleich ehrt einen natürlich. Und es stimmt auch irgendwie. Aber spätestens bei der Platte jetzt sollte man gemerkt haben, dass das nicht passt.“ Er hat Recht: Die elf neuen Songs sind deutlich mehr von Emo und Post-Hardcore als von Heiserstimmenpunkrock geprägt – auch die bewusst groß angelegte Produktion unterscheidet sich deutlich vom Sound der beiden Vorgänger. Die „Profilschärfung“, wie Paul es nennt, ist ihnen gelungen.

Um zu verstehen, was Jannes meint, wenn er sagt „das Album hat uns wirklich alles abverlangt“, lohnt es einen Blick auf die Entstehungsgeschichte von Leben und Tot zu werfen, an dem die Band neun Monate nach Veröffentlichung von Wider zu arbeiten beginnt. Startschuss bildet ein gemeinsames Wochenende auf einem verlassenen Bauernhof, an dem die ersten Ideen entstehen, und nachdem die vier einfach nicht damit aufhören neue Songs zu schreiben. Bis sie sich selbst einen Schreibstopp auferlegen. „Wir haben dieses Mal viel mehr zugelassen. Auch beim Writing. Wir haben viel öfter gesagt: ‚Ne wir machen das jetzt. Wir ziehen das jetzt durch.‘ Das haben wir vorher nicht gemacht. Wir sind jetzt einfach jeder Idee nachgegangen, die halbwegs cool war“, so Paul. Am Ende stehen Leto mit 30 Instrumentals da, für die Jannes versucht Texte zu schreiben. „Bei uns kommt immer erst die Musik, und dann die Vocals. Ich brauche immer erst ein Gefühl für den Song. Und das Gefühl ist immer erst da, wenn der Song fertig ist.“ Mit 15 fertigen Songs fahren sie zusammen ins Toolhouse Studio in Rotenburg an der Fulda, wo bereits Bands wie Heisskalt oderFjørt aufgenommen haben.

Der Experimentierfreude und Kreativität gegenüber steht zeitliche Knappheit. Die vier Bandmitglieder betreiben die Band neben Full-Time-Jobs und Familien – Jannes arbeitet als Sonderpädagoge, Paul als Arzt, Gitarrist Phill als Altenpfleger, während Schlagzeuger Pascal Soziale Arbeit studiert. Für die Band ist erst nach Feierabend Zeit, für das Schreiben der Texte bleibt nur die Nacht. „Für mich, ich höre das noch, also ich kann mich da noch so rein beamen, das waren immer so Sessions, von 21 Uhr bis 2 Uhr, und das über neun Monate. Da ist ganz viel Zeit reingeflossen“, so Jannes. Trägt Paul in den ersten Jahren noch eigene Texte bei, überlässt er bei Leben und Tot seinem Bandkollegen das Feld („Lyrisch bin ich raus. Da halte ich nicht mehr mit“). Von Eifersucht keine Spur – auch wenn die Doppelbelastung die Band vor Herausforderungen stellt. „Ich gehe jetzt mal mit dir ins Gespräch, auch wenn das hier ein Interview-Rahmen ist“, wendet sich Jannes an seinen Bandkollegen. „Das schätze ich bei dieser Band. Paul war eigentlich Lost in Rolle. Paul war vorher Sänger und Texter – mit mir zusammen. Das hat ganz schön geknirscht. Ich bin vorgeprescht und hatte nachts Zeit, während Paul im Medizinstudium war, sein Arzt fertig gemacht hat und faktisch keine Zeit hatte. Er hat das Album das erste Mal gesungen, als wir ins Studio gegangen sind und das hat nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht hatten.“ So kommt es, dass der Bassist weniger Gesangs-Part hat als auf den anderen beiden Alben.  „Das war schon richtig blöd, würde ich sagen. Aber nie so, dass ich sagen würde: ‚Ich hab keinen Bock auf die Scheisse.‘ […] Ich bin mit dem Album happy wie es ist. Jannes hat im Studio abgeliefert“, ordnet Paul ein.

Neben der Entstehungsgeschichte liegt eine weitere Erklärung für die Intensität von Leben und Tot in der Ehrlich- und Schonungslosigkeit, mit der Jannes seine Texte schreibt. „Ich habe mich echt ausgewrungen in diesen Nächten über viele Monate.“ Das Schreiben der Texte bezeichnet er als Eigentherapie, an deren Ende 594 Memos mit Zeilenfragmenten zu Buche stehen. Aus einigen von diesen entsteht 31 Fehler – ein selbstkritischer Song, der sich in der Leadzeile des Refrains „Ich mache 31 Fehler pro Tag“ auf ein Zitat von Jens Rachut aus dem Reflektor-Podcast von Tocotronic-Bassist Jan Müller bezieht. „Ich habe das gehört und fand das war so ein super schöner Gedanke“, der perfekt zu den bereits vorhandenen Strophen passt, in denen er sich mit Streitkultur und seinem eigenen Verhalten in Konfliktsituationen auseinandersetzt. „Manchmal bin ich in Streits mega das Arsch. Ich merke, dass ich da Muster meiner Eltern fortsetze“, erklärt er. „Und darum ging der Song und dann fand ich es charmant zu sagen: ‚Ich mach so viele Fehler, wenn ich einmal Entschuldigung sage, ist das schon was. Lass uns da mal mit anfangen'“.
Selbstkritik schwingt auch in Pronomina mit, dem Lieblingssong ihres Schlagzeugers. In seiner Sperrigkeit erinnert Pronomina an eine Band, die laut Paul und Jannes besser geeignet ist, um den Sound von Leto zu beschreiben: Adolar. Das Quartett aus Stendal verstand es bis zur Auflösung 2014 bestens Frickelgitarren, Post-Hardcore-Geschrei und Indiedisko in ein kohärentes Ganzes zu übersetzten. „Ich bin für eine Adolar-Reunion“, verdeutlich Paul seine Zuneigung zur Band, deren Sänger Tom Mischok fast einen Gastauftritt auf Vor die Hunde gehabt hätte. Eigentlich hatte dieser bereits zugesagt – warum es dann doch nicht geklappt hat, daran kann sich Paul nicht mehr erinnern. Solange es keine Reunion gibt, müssen Leto selbst für „Adolar-Momente“ sorgen. Als so einen beschreibt er den Chorgesang von Ostfriesland, das sich mit dem Klimawandel und der Idiotie der Menschheit auseinandersetzt: „Wir kippen einen 8000er auf Ostfriesland“.

Ein weiterer Song, der aus einem individuellen Lernprozess entstanden ist, seinen Blick aber auf die Gesamtgesellschaft ausweitet, ist das vorletzte Blackbox Lost, in dem es darum geht, nicht alle Menschen verstehen, geschweige denn mit ihnen reden zu müssen. Nicht, weil Leto keine Lust auf andere Meinungen haben, sondern, weil es Themen gibt, die im Jahr 2023 nicht mehr diskutiert werden müssen, zum Beispiel, wenn es um das Verwenden sexistischer oder rassistischer Sprache geht. Jannes führt ein Beispiel aus seinem Berufsalltag als Sonderschullehrer an: „Oder dann bekomme ich Fragen von meinen Schüler*innen: Darf ich das N-Wort nicht noch sagen? Das sind Punkte, wo ich sage, da sind wir gesellschaftlich in unserem Faktenreichtum so weit, dass wir wissen: Nein. Wir sind weiß und wir dürfen uns nicht aussuchen, wie wir jemanden betiteln. Ich halte heutzutage die Situation nicht mehr aus, darüber zu deba- oder diskutieren. Nein. Das gehört gelöscht. Wir sind jetzt soweit. Als Menschheit.“

Und dann ist da noch Sechs, den Jannes als „der persönlichste Song, den ich je geschrieben habe“ bezeichnet und von der US-amerikanischen Frau seines besten Freundes handelt, die zum sechsten Mal eine Krebserkrankung überlebt hat. Die Geschichte, die er dann erzählt, und die er selbst als „Wunder“ bezeichnet, klingt mehr nach ARD-Nachmittagsprogramm als nach Realität, ist aber genau das: „Sie kam nach Hamburg und hatte fünf Mal Krebs und dachte sie wäre durch. […] Dann war sie in den Staaten und hatte Kopfschmerzen. […] Lange Rede, kurzer Sinn: Sie hatte einen handballgroßen Tumor im Kopf. Es tauchten Metastasen im Becken auf und so weiter. […] In dem Krankenhaus in Hamburg, an dem sie angebunden war, wurde sie als endpalliativ eingestuft. Die haben gesagt: ‚Sie haben noch einen Monat‘“. Mit dieser Nachricht im Gepäck sei sie zurück in die USA geflogen, um sich von ihrer Familie zu verabschieden. Jannes ist die Fassungslosigkeit darüber, was anschließend passiert ist noch deutlich anzumerken: „Sie war noch angebunden in Berlin und Hamburg – die haben korrespondiert in der Krebsbesprechung. Und die haben gesagt: ‚Wir sehen das ganz anders. Wir sehen das nicht endpalliativ. Wir würde nochmal Therapiemaßnahmen vorwegschieben‘. […] Um vorzuspulen: Sie hat es das sechste Mal überlebt.“ Eine Geschichte wie aus einem La-Dispute-Song. Also aus dem Alltag von Menschen, und damit eigentlich zu groß für drei Minuten Gitarrenmusik. Dass Sechs auch ohne Hintergrundwissen um die wahren Gegebenheiten funktioniert, liegt an Jannes Fähigkeit, das Geschehene in einprägsame Bilder von Metastasen, herausgefallenen Haarbüscheln und mutierten Zellen zu verwandeln. Mit dem Refrain kommt eine Doppelbödigkeit hinzu, mit der das lyrische Ich, das, die Ausführungen oben machen es deutlich, eng an den Menschen hinter dem Mikro geknöpft ist, die dritte Wand durchbricht: „Ich könnte nie so stark sein/ Millionenfach gehört/Doch das weißt du/Ich will so gern wie du sein/Leider nie gesagt/Aber jetzt weißt du’s/Jetzt weißt du‘s“. Jannes erklärt: „Was sie gestresst hat, war, dass alle gesagt haben: ‚Mann, du bist so stark!‘ Wenn das aber 100 000 Leute sagen, hat sie entlang dieser Aussage gar keine Möglichkeit, das nicht mehr zu sein. Weil sie so stark war, hatte sie gar keine Möglichkeit mehr, da mal auszubrechen – darüber ging der Song.“

Leben und Tot war ein Kraftakt. Aber es hat sich gelohnt. Nicht nur, weil Leto ein starkes drittes Album gelungen ist, sondern auch, weil die vergangenen anderthalb Jahre gezeigt haben: Bei Leto geht es nicht um Egos, sondern um vier Freunde, die zusammen Musik machen – weil es das ist, was sie machen wollen. Eine Band zu gründen ist leicht, eine Band zu bleiben, dazu noch in Urbesetzung, daran scheitern nicht wenige. Auch bei Jannes, Paul, Phill und Pascal hätte es von Familiengründungen über Pandemie bis zu Social-Media-Dauerfeuer, um das man auch als kleine Punkband nicht herumkommt, genug Gründe gegeben, die Band an den Nagel zu hängen. Also: Warum gibt es Leto noch? Die beiden sind sich einig, ohne die Freundschaft zueinander wäre das nicht möglich. „Wir kennen uns jetzt schon wirklich lange und das Krasse in dieser Konstellation ist einfach: Es funktioniert wegen dieser Empathie. Jeder hat so seine Eigenarten und mittlerweile haben wir die alle herausgefunden und dann weiß man wie man damit umgeht oder das umschiffen kann“, so Paul. „Ich will das voll unterstreichen“, stimmt Jannes zu. „Wir sind immer noch in der Urbesetzung und wir sind uns einig und haben gesagt: ‚Diese Band wird es nie ohne einen von uns vieren geben‘“. Ein Satz später deutet er an, dass es die Band nicht trotz, sondern gerade wegen der Familien und beruflichen Verpflichtungen noch gibt. „Es stellt für uns rein faktisch einen kompletten Bruch zu unserem sonstigen Leben da. Diese Synapsen, die in meinem Gehirnareal angefahren werden, was Kreativität beim Schreiben, beim Saufen in Hannover angeht, dieses Areal, das wird gar nicht bespielt.“ Und nach kurzem Nachdenken: „Alter, wir sind alle über 35 in der Band, wir haben fünf Bandkinder und setzten uns in so einen Kackbus und fahren in ein autonomes Zentrum, das ist total anachronistisch zur Zeit. Eigentlich ist es ein Zeitloch, in das man sich wirft. Ich liebe das. Ich liebe das mit dieser Konvention zu brechen und zu sagen: ‚Ich gebe dem nicht nach‘“.