Muff Potter – Kein Dienstleistungsunternehmen

Knapp ein Jahr nach Erscheinen von Bei aller Liebe ist es Zeit für ein Fazit: Muff Potter ist eine respektable Reunion gelungen. Ihr achtes Album untermauert einmal mehr die Relevanz dieser für die deutschsprachige Indie-Szene so wichtigen und von vielen stark vermissten Band. Im Interview wirft Schlagzeuger Thorsten „Brami“ Brameier einen Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte des Albums.

„Ich finde, dass es eine wirklich schöne Platte geworden ist. Es ist die Platte, die genau in 2022 reingepasst hat. Es ist nicht die Platte, die wir, wenn es uns noch gegeben hätte, 2011 gemacht hätten, sondern es ist eine aktuelle Platte, die dem, was wir machen wollten, und unserem derzeitigem Entwicklungsstand entspricht – musikalisch wie auch auf menschlicher Ebene.“ Schöne und treffende Worte für ein Album, mit dem am Abend des 12. Dezember 2009 niemand mehr gerechnet hätte. An diesem Tag spielen Muff Potter im Jovel in Münster ihr Abschiedskonzert und alle, deren Herz für deutschsprachigen und intelligenten Punkrock schlägt, sind vor Ort. Danach ist Schluss. Aus und vorbei. Achteinhalb Jahre dauert es, bis sie wieder zusammen auf der Bühne stehen, zwar nicht als Muff Potter und ohne Gitarrist Dennis Scheider, aber in einer Konstellation, die einer Muff Potter-Reunion am nächsten kommt: Im Februar 2018 spielen Sänger, Gitarrist und Haupttexter Thorsten „Nagel“ Nagelschmidt, Bassist Dominic „Shredder“ Laurenz und Brami im Zuge der Lesung zu Nagels Roman Abfall der Herzen neben Cover-Versionen auch Lieder ihrer alten Band. Von einer Rückkehr kann zu diesem Zeitpunkt keine Rede sein, sie rückt aber näher als Muff Potter sechs Monate später auf dem antifaschistischen Festival Jamel rockt den Förster auftreten und ihr erstes Konzert seit besagtem 12. Dezember geben. 2019 folgt eine kleine Tour, noch mit Gitarrist Dennis Scheider, der kurz danach austritt und durch Felix Gebhard ersetzt wird. 2020 kommt mit Was willst Du der erste neue Song, es dauert zwei weitere Jahre bis mit Bei aller Liebe endlich auch ein neues Album folgt. „Wir haben das lange umgangen, das wirklich konkret werden zu lassen“, erklärt Brami.

Als glücklich stellt sich die Entscheidung heraus, sich für das Schreiben der neuen Songs für mehrwöchige Sessions im Kulturgut Haus Nottbeck zu verschanzen. Diese Entscheidung ist auch dem Umstand geschuldet, dass Brami im Gegensatz zu der restlichen Band nicht in Berlin, sondern im münsterländischen Oelde wohnt. „Wir haben einfach mal rumprobiert, und das war auch ganz cool, weil wir ohne Druck im Nacken einfach ausprobieren konnten. Das ist für uns eine super Herangehensweise.“ Inwiefern gelingt es die Erwartungshaltung von außen auszublenden, mit dem Wissen, dass viele Menschen seit Jahren auf ein neues Muff Potter-Album warten? „Erwartungshaltung von außen ist immer so eine Sache, klar gibt es sowas, und es gibt auch immer Leute, die sich beschweren, dass es nicht so klingt wie früher. Das ist auch okay und ein Standpunkt, den man haben kann. Wenn ich mir die Pixies anhöre, will ich auch immer die alten Songs hören.“ Und weiter: „Wir sind keine Dienstleistungsfirma, sondern eine Band. Wir haben das gemacht, wonach uns gerade war. Anders funktioniert das für uns auch nicht.“ Kein Wunder, dass sich der Schlagzeuger bei der Frage nach einem Klick-Moment während der Entstehung nicht an einen einzelnen Song, sondern an die Grundstimmung erinnert. „Der Moment, der mich selbst überzeugt hat, dass das speziell oder cool ist, war, als ich gemerkt habe, dass wir machen können, was wir wollen. Dass das egal ist, wenn irgendwer sagt, das ist jetzt kein Punkrock oder so.“ Von diesem musikalischen Diversitätsverständnis zeugt auch die Musik, die die Band während der Entstehung des Albums hört und so unterschiedliche Künstler*innen wie Frankie Goes To Hollywood, Team Dresch und Talk Talk vereint. Wie sich diese Einflüsse auf Bei aller Liebe widerspiegeln, kann Brami nicht genau benennen, auch hier ist ihm vor allem die Gesamtatmosphäre im Kopf geblieben: „Es war einfach eine inspirierte Stimmung die ganze Zeit in der Luft, ich kann das gar nicht an einzelnen Künstlern festmachen. Wir haben halt die ganze Zeit die unterschiedlichste Musik gehört. Wir haben auch Pink Floyd gehört, was wir früher nie gemacht hätten. Kann man ja nicht machen als Punkrocker. Das ist aber auch einfach ein reichhaltiger Fundus, den man oder ich viel zu lange ignoriert hat.“ Er fügt hinzu: „Man kann ja auch nicht sein ganzes Leben lang Toxoplasma hören. Nichts gegen Toxoplasma, auf keinen Fall. Aber das meinte ich ja eingangs, dass wir nicht das machen wollen, was von uns erwartet wird, sondern das, was wir möchten. Wenn wir schon nicht damit reich werden, dann wenigstens das.“

Diese Konzentration auf den Moment, dem Nachgeben des inneren Drangs, ohne an Erwartungshaltungen oder Szene-Dogmen zu denken, das alles spiegelt sich in einem Album wider, das sich wie keiner der vorherigen Platten der Band-Diskografie zu entziehen versucht. Ein Vergleich mit dem direkten Vorgänger und in dessen schroffen und widerborstigen Momenten ebenso mit der Diskografie brechenden Gute Aussicht fällt allein auf Grund der zeitlichen Differenz schwer, stellt sich aber ebenso als sinnlos heraus, da Bei aller Liebe nicht durch Verweigerungshaltung auffällt, sondern durch musikalische Spielfreude – und durch das Verneinen jeglicher Scheuklappen zu einem Sound findet, der dem entspricht, wie Muff Potter klingen wollen. Mit Bei aller Liebe grenzen sie sich auf musikalischer Ebene nicht ab, sie definieren sich aus sich heraus. Auch deshalb klingen sie unverkennbar nach sich selbst, egal ob in dem Post-Punk-Vibe von Flitter & Tand, dem offensiv mit Pop flirtenden Der einzige Grund aus dem Haus zu gehen oder den Noise-Ausbrüchen in Ein gestohlener Tag. Ein gestohlener Tag ist der längste Song des Albums, mit Nottbeck City Limits und Schöne Tage gibt es noch zwei weitere, die die Sechs-Minuten-Marke überschreiten. „Wir haben uns von dem Gedanken freigemacht, dass ein Song, der über vier Minuten geht, Alt-Herren-Rock ist oder Rumgewichse“, so Brami. „Wir haben selbst gestaunt, wie lang wir da geworden sind.“ Dem gegenüber steht mit Privat der kürzeste Song der Bandgeschichte, auch ein Produkt der Arbeitsweise im Kulturgut Haus Nottbeck: „Den haben wir in anderthalb Stunden abends gemacht, als wir schon einen im Tee hatten, und das ist so ein Moment, wenn man sich auf eine Art selbst begeistert. Das soll jetzt nicht arrogant klingen, aber, dass man sagt: ‚Das ist einfach geil, was wir hier machen‘. Ich finde das ehrlich gesagt sogar total wichtig, dass man selbst geil findet, was man macht.“ Aus ähnlicher Spontanität entsteht Wie Kamelle raus. „Der Song beruht auf einen Schlagzeug-Beat, den hat Shredder irgendwann mal gespielt, und dann meinten wir: ‚Hey, warte mal, bitte nicht sofort wieder vergessen, lass das mal mit dem Handy aufnehmen‘, und dann haben wir basierend darauf den Song geschrieben.“ Alles ist möglich, alles kann jederzeit passieren. Da wundert es nicht, dass mit der B-Seite Kittchen fast ein englischsprachiger Song an prominenter Stelle auf das Album gekommen wäre, „weil wir dachten, das ist doch mal geil einen englischen und indie-poppigen-Song als ersten Song zu nehmen.“

Wie auch bei den vorherigen Alben stammen die meisten Songideen von Nagel, und werden anschließend von der gesamten Band ausgearbeitet. Auch für die Texte, die im Anschluss an die Musik entstehen, ist hauptsächlich er zuständig. Auf früheren Platten steuerten auch die anderen Bandmitglieder Texte bei, von Brami stammt etwa 22 Gleise später oder große Teile von Fotoautomat. „Er bittet zwar immer darum, man möge ihn dabei unterstützen, aber ich finde, er kann das einfach so gut, dann soll er das gerne machen. Er muss es ja auch singen.“Komplett alleine lassen seine Bandkollegen Nagel aber auch nicht. „Ich weiß, dass wir bei dem Text von Schöne Tage viel gesessen und diskutiert haben, das war super. Früher, als wir uns abends für zwei Stunden im Proberaum getroffen haben, war es eher so, dass irgendwann jemand ankam: ‚So Text ist fertig, können wir machen‘. Und jetzt waren wir im Entstehungsprozess vielmehr mit dabei.“

Die Musik schreiben und veröffentlichen ist das eine, das andere ist sie auf die Bühne zu bringen. Den Großteil der Bei aller Liebe-Tour haben Muff Potter bereits hinter sich. Ab kommenden Dienstag sind sie für fünf weitere Termine in Deutschland unterwegs. Dabei handelt es sich um Nachholkonzerte krankheitsbedingt ausgefallener Konzerte der regulären Tour. Wie machen sich die neuen Songs live? „Das sind mit Abstand die Songs, alle neuen Songs, die ich live mit Abstand am liebsten spiele, weil sie meiner Ansicht nach, besser arrangiert sind, einfach spielbarer sind. Ich finde es super, ich mag die alle gerne“, zieht Brami ein eindeutiges Urteil – auch wenn dafür alte Fan-Lieblinge aus der Setlist purzeln. „Wir wissen natürlich, dass wir eigentlich auf jeder Show auch 100 Kilo spielen müssten, aber wir haben einfach nicht so Bock das zu spielen. Stichwort: Dienstleistungsunternehmen. Und dann machen wir das auch meistens nicht. Manchmal aber auch doch, wer weiß. Einfach mal vorbeikommen und sich überraschen lassen.“ Wer Muff Potter auf der aktuellen Tour gesehen hat, kann keine Zweifel dran haben, dass sie so eingespielt und gut sind wie lange nicht mehr. Nichts mehr zu spüren von der Anspannung, die ihnen bei der Reunion-Tour 2019 anzumerken war, „wir waren extrem nervös“, kein Abtasten mit dem Publikum, nur noch pure Energie und das Wissen, dass ihnen mit Bei aller Liebe ein grandioses Album gelungen ist. Muff Potter sind wieder zurück.