Releaserodeo Oktober 2022 (Red Hot Chili Peppers, Nothing More, Polyphia, Lorna Shore, Counterparts, Boston Manor, Brutus, Press Club, Meat Wave, Kind Kaputt, Ways Away & The Bobby Lees)

Counterparts – A Eulogy For Those Still Here (Label: Pure Noise/VÖ: 07.10.)
Seit nun 15 Jahren sind Counterparts das Ventil für Frontmann Brendan Murphy, seine inneren Dämonen zu katalysieren. Auf dem siebten Album verarbeitet Murphy die aus dem Wissen herrührende Angst, dass Veränderungen unausweichlich sind. Der Sänger bereitet sich auf mögliche Enden vor und stellt sich persönliche Katastrophen-Szenarien vor, indem er etwa um noch lebende Menschen trauert oder sich von noch währenden Dingen verabschiedet, wie Beziehungen, Freundschaften oder sogar seiner eigenen Band. Der geht es nach rationalen Gesichtspunkten musikalisch jedoch besser denn je: A Eulogy For Those Still Here markiert die Rückkehr von Gitarrist Jesse Doreen sowie das erste neue Album mit Gitarrist Alex Re, der seit 2019 wieder Teil von Counterparts ist. Das wirkt sich spürbar auf den Sound aus. Die Gitarren pendeln zwischen jubilierendem Gefrickel und breiter, metallischer Hardcore-Soundwand, während Murphy sein Geschrei gelegentlich mit Klargesang paart. In Skin Beneath A Scar wechselt sich beides ab, während im finalen A Mass Grave Of Saints Geschrei und Gesang zusammengeworfen werden. A Eulogy For Those Still Here zeigt die Kanadier darüber hinaus gewohnt stark, weil sich Geballer und Eingängigkeit höchst organisch abwechseln, etwa im ersten richtigen Song Whispers Of Your Death, den Murphy für seinen inzwischen verstorbenen Kater Kuma geschrieben hat. Den Titeltrack sowie A Mass Grave Of Saints lassen Counterparts dagegen hinten raus in Post-Rock-Flächen aufgehen. Bärenstark ist zudem, wie im Refrain von Sworn To Silence immer wieder Gesang und ein melodisches Gitarrenriff losbrechen. Das ist Melodic Hardcore in Perfektion.

The Bobby Lees – Bellevue (Label: Ipecac/VÖ: 07.10.)
Das Albumcover deutet es an: Sängerin und Gitarristin Sam Quartin suhlt sich auf Bellevue im Dreck. Das gilt nicht nur für den Sound ihrer Band zwischen Garage Rock, Grunge, Punk und Rock’n’Roll, sondern auch für die Texte. Der Albumtitel geht auf die Nervenheilanstalt zurück, gegenüber der Quartin einst gewohnt hat. Als ihre mentale Gesundheit aufgrund ihres erhöhten Alkoholkonsums stark angeschlagen war, hat sie sich das telepathische Kommunizieren mit den Patient*innen eingebildet. Mittlerweile ist sie wieder nüchtern und verarbeitet diese traumatischen Erlebnisse auf dem dritten Album ihrer Band in sich um Kontrollverlust drehenden Texten voller Nihilismus. In Hollywood Junkyard rechnet Quartin etwa mit der Traumfabrik ab: „So come and find me in the Hollywood junkyard/ I’m gonna be a star“. Monkey Mind widmet sich wiederum den mittlerweile wieder verblassten Stimmen im Kopf der Sängerin, passenderweise untermalt mit einem verwirrt wirkenden Klavier. Greta Van Fake knüpft sich dagegen die Led-Zeppelin-Epigonen vor, inklusive angedeutetem Erbrechen vorm Refrain: „You think you’re rock n roll, but you’re a joke, you’re a wannabe baby/ I watch ya from the crowd as you fake it/ Now watch us from the ground as we make it“. Der Song stellt jedoch eine Ausnahme auf Bellevue dar, das sonst einen düsteren Grundton besitzt. Im Gegensatz dazu haben The Bobby Lees eine immense Spielfreude, während Quartin mal leise wie in Hollywood Junkyard oder verführerisch wie in Little Table singt. In Ma Likes To Drink wiehert sie sogar, während ihr zu Beginn von Death Train ein kurzer Schrei entweicht. Mit dem abschließenden Msytery Theme Song haben The Bobby Lees zudem ihr ganz eigenes Misirlou vom Pulp Fiction-Soundtrack geschrieben. Iggy Pop und Henry Rollins sind bereits Fan und auf Empfehlung von Rollins hat Faith-No-More-Frontmann Mike Patton das Quartett aus Woodstock für sein Label verpflichtet. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es bei den Musikerlegenden als Fans bleibt.

Boston Manor – Datura (Label: Sharptone/VÖ: 14.10.)
Das vierte Album von Boston Manor fällt mit sieben Songs in 26 Minuten ungewohnt kurz, die Songs hingegen gewohnt stark aus. Die überschaubare Anzahl an Songs würde ihre Intentionen besser einfangen, so die Band aus dem englischen Blackpool. Die liegen seit dem dritten Album Glue (2020) nach anfänglichem Pop-Punk in hymnischem Alternative Rock, was die starke EP Desperate Times, Desperate Pleasures 2021 untermauert hat. Die war mit fünf Songs kaum kürzer als Datura, das nicht nur aufgrund seiner Länge unvollständig wirkt, sondern auch weil es sich dabei um den ersten von zwei Teilen handelt. Sieht man darüber hinweg, wird man jedoch schnell von der Musik hierauf mitgerissen. Während der Titeltrack die Platte mit elektronischen Sounds noch ruhig eröffnet und diese Atmosphäre auch zunächst in das folgende Floodlights On The Square überträgt, setzt kurz danach das erste dicke Gitarrenriff ein, bevor Boston Manor den ersten eingängigen Refrain auffahren. Für einprägsame Hooks hat das Quintett seit seiner Gründung 2013 ein unglaublich gutes Gespür entwickelt, was sich auch auf Datura niederschlägt. Allen voran im fantastischen Passenger, einem der besten Alternative-Rock-Songs des Jahres. Lyrisch dreht sich die Platte um die Alkoholprobleme von Frontmann Henry Cox während der Pandemie, was die Band vor allem im abschließenden Inertia mit einem düsteren Sound einfängt. Danach will man am liebsten weiterhören – gut, dass schon bald Nachschub folgen soll.

Lorna Shore – Pain Remains (Label: Century Media/VÖ: 14.10.)
Seitdem Sänger Will Ramos 2021 zu Lorna Shore gestoßen ist, erlebt die Deathcore-Band einen Hype. Der ist vor allem auf die unfassbare Versiertheit des Frontmanns zurückzuführen, doch auch musikalisch führt die Band aus Flemington, New Jersey ihr Gemetzel auf ihrem vierten Album in neue Höhen. Das hatte die vergangenes Jahr veröffentlichte EP …And I Return To Nothingness – Ramos‘ Debüt-Werk – bereits angedeutet, das erste Album mit dem neuen Sänger formuliert dies nun aus. Der siebenminütige Opener Welcome Back, O‘ Sleeping Dreamer baut sich zunächst anderthalb Minuten lang mit Klavier und Chören episch auf, bevor Symphonic-Metal-Streicher, Presshammer-Blastbeats, Death-Metal-Gitarren und Ramos‘ stimmliche Machtdemonstration losbrechen. Schon im ersten Song der Platte fährt er klassischen gutturalen Gesang sowie Pig Squeals auf, während sich die Breakdowns wie Kanonenschläge anfühlen. Danach ist eigentlich schon alles gesagt, doch Lorna Shore strecken diese Formel auf weitere neun Songs aus. Besonders eingängig wird es in Sun//Eater, während Ramos‘ Geschrei in Into The Earth und im unglaublich brutalen Wrath sehr nah am Black Metal ist. Gerade der finale Breakdown von Wrath sowie Ramos‘ Gegrunze sind Musik direkt aus der Hölle. Dass Pain Remains trotz einer Lauflänge von 61 Minuten nicht zur Geduldsprobe wird, liegt zudem am für Deathcore-Verhältnisse variationsreichen Songwriting. Über viele Songs legt das Quintett Symphonic-Metal-Streicher, baut immer wieder Chöre mit ein oder lässt die Gitarren in Soli freidrehen. Lediglich die stets brutalen Breakdowns klingen oftmals recht ähnlich. Nichtsdestotrotz ist ein sagenhafter sechster Platz in den deutschen Albumcharts der verdiente Lohn für die Deathcore-Band der Stunde.

Meat Wave – Malign Hex (Label: Big Scary Monsters/VÖ: 14.10.)
Mit dem von Nirvana-Produzent Steve Albini produzierten The Incessant hatten Meat Wave eines der besten Noiserock-Alben der 2010er-Jahre veröffentlicht. Fünf Jahre später gibt es endlich Nachschub in Form des vierten Albums des Trios aus Chicago. Aufgenommen hatten Meat Wave das Album bereits 2019, womit die zehn Songs eigentlich älter als die vergangenes Jahr veröffentlichte und im Lockdown aufgenommene EP Volcano Park sind. Im Sinne des Albumtitels scheint bei Meat Wave Hexerei im Spiel zu sein, denn Malign Hex steht seinem Vorgänger qualitativ in nichts nach. Der Sound der US-Amerikaner pendelt noch immer zwischen Dreck und Eingängigkeit und mit Honest Living und Ridiculous Car finden sich erneut kurze Noisepunk-Watschen am Anfang der Platte. Vorher variiert der düstere Opener Disney stark im Tempo, bevor am Ende Geschrei und noisige Gitarren losbrechen. Aus diesem Sog kommt man bis zum schwebenden Closer Malign nicht mehr raus. Dazwischen geht es wunderbar monoton zugange in Complaint oder spröde in Merchandise Mart. Waveless tänzelt dagegen minutenlang um eine Gitarrenmelodie herum, bevor der Indie-Vibe in der zweiten Hälfte aufgebrochen wird. Auch im scheppernden 10k wiederholt sich die melodische Gitarre von Sänger Chris Sutter in Dauerschleife. Der Frontmann gibt sich auch in seinen Texten teilweise iterativ, indem er etwa das Ridiculous Car auch im folgenden What Would You Like Me To Do nochmal aufgreift. Während sich Ridiculous Car mit rücksichtslosen Autofahrern auseinandersetzt, geht es im motorisch von Bass und Schlagzeug angetriebenen What Would You Like Me To Do um falsche Erwartungshaltungen. Starkes Album, das im Duell mit The Incessant jedoch knapp den Kürzeren zieht, weil Meat Wave ihren Sound darauf bereits perfektioniert hatten.

Nothing More – Spirits (Label: Better Noise Music/VÖ: 14.10.)
Nothing More perfektionieren auf ihrem sechsten Album ihr Sound-Amalgam aus Alternative und Hardrock, Heavy und Nu Metal. Der Vorgänger The Stories We Tell Ourselves war für insgesamt drei Grammys (unter anderem als bestes Rockalbum) nominiert, dementsprechend hoch waren die Erwartungen an den fünf Jahre später folgenden Nachfolger. Das Quartett um Frontmann Jonny Hawkins schüttelt diese mit Leichtigkeit ab. Hawkins‘ charismatische und zwischen Klargesang und Geschrei changierende Stimme ist noch immer das größte Ass im Ärmel der Band aus San Antonio, Texas, die auf Spirits Themen wie die Verzweiflung durch Isolation, Drogenmissbrauch und zerbrochene Beziehungen behandelt, während Hawkins die durch seinen Umzug in einen neuen Bundesstaat entstandene Distanz zu seiner Heimat verarbeitet. Das hört man Songs wie dem genau das richtige Ausmaß an Pathos findenden You Don’t Know What Love Means oder der gefühlvollen Hymne Best Times an. Der Großteil der 13 Songs ist jedoch auf dicke Riffs und große Refrains getrimmt. Nothing More ergeben sich aber nicht der Kommerzialisierung, sondern werten ihre Songs durch Songwriting-Kniffs auf. Face It macht in der Bridge etwa Platz für eine Prog-Metal-Passage, bevor nach einem brutalen Breakdown Alternative-Rock-Riffing den Song ins Ziel trägt. Der abschließende Titelsong schwingt mit Djent-Riffs von Gitarrist Mark Vollelunga dagegen nochmal ordentlich die Abrissbirne. So geht harte und massentaugliche Gitarrenmusik.

Press Club – Endless Motion (Label: Hassle/VÖ: 14.10.)
Mit ihren ersten beiden Alben Late Teens und Wasted Energy, Songs wie Suburbia, Separate Houses oder Thinking About You sowie ihren energiegeladenen Liveshows haben sich Press Club zum Ende der 2010er-Jahre in die Punk-Herzen gespielt. Nachdem die Band aus Melbourne Wasted Energy auf Tour geschrieben und innerhalb von sechs Tagen aufgenommen hatte, ist das Quartett für Endless Motion – zwangsläufig – neue Wege gegangen und hat das Album selbst produziert. Ursprünglich wollten Press Club ihr drittes Album 2020 in Berlin aufnehmen, die Pandemie hat ihnen jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dass die Australier*innen für Endless Motion alle Zeit der Welt hatten, hört man den zehn Songs an. Press Club fühlen sich zunehmend im Midtempo wohl und geben ihren Songs viel Raum zum Atmen. Der zurückgelehnte Opener Eugene ist etwa mehr Indie als Punk und mit dem knapp sechsminütigen Untitled Wildlife überschreiten Press Club erstmals die Fünf-Minuten-Marke. Der Closer Less These Days ist zudem deutlich näher am Post-Punk und Lifelines besitzt einen leichten Americana-Touch. Das scheint nach zahlreichen harten und teils monatelangen Lockdowns in Australien das Ergebnis des gemeinsamen Musizierens in einem Raum zu sein, was auch das Albumcover betont. Press Club machen sich zudem über soziale Entwicklungen mehr Gedanken denn je, in Untitled Wildlife etwa über die Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Heimatland und die damit verbundenen zunehmenden Waldbrände: „This sunburnt country’s getting burnt to the ground“. Cancelled erinnert mit seinem Spoken-Word-Vortrag an die Petrol Girls, zum Großteil singt Sängerin Natalie Foster jedoch noch immer so sehnsüchtig wie auf den ersten beiden Alben, während die Musik noch immer sonnendurchflutet ist. Trotz teils düsterer Themen finden Press Club zudem immer wieder Hoffnung, etwa in I Can Change, einem von gleich mehreren Hits mit Ohrwurm-Potential.

Red Hot Chili Peppers – Return Of The Dream Canteen (Label: Warner/VÖ: 14.10.)
Ein Jahr vor ihrem 40-jährigen Bandjubiläum beschenken sich die Red Hot Chili Peppers mit ihrem bereits zweiten Album in diesem Jahr. Return Of The Dream Canteen ist in den gleichen Sessions wie das im April veröffentlichte Unlimited Love entstanden, ebenfalls 17 Songs und etwa 75 Minuten lang und auch von Rick Rubin produziert. Das LSD-Trip-Cover deutet es jedoch bereits an: auf ihrem 13. Album geben sich die legendären Funkrocker schwelgerischer als auf dem unmittelbaren Vorgänger. In My Cigarette etwa mit einem Drumpad und unheimlichen Synthesizern wie aus einem David-Lynch-Film. Deutlich besser funktioniert dagegen das dämlich betitelte La La La La La La La La, weil die Red Hot Chili Peppers hier von Anfang an ein Saxofon zum sphärischen Sound dazu holen. Verzichtbar ist neben dem etwas blassen Afterlife auch der recht düstere Closer In The Snow mit seinem halbgaren Sprechgesang-Part von Anthony Kiedis. Das war es jedoch auch schon mit kleineren Ausfällen, obwohl man nach dem hervorragenden ersten Drittel etwas Geduld für den Rest der Platte aufbringen muss. Die Red Hot Chili Peppers halten das Tempo zum Großteil gering, auch wenn insbesondere der 2019 zurückgekehrte Gitarrist John Frusciante immer wieder die Geschwindigkeit anzieht, etwa im starken Fake as Fu@k. Frusciante sorgt zudem für die stärksten Momente der Platte. Neben dem zum Refrain die Verstärker aufdrehenden Reach Out insbesondere in der dem 2020 verstorbenen Gitarrengott Eddie Van Halen gewidmeten Hommage Eddie, an deren Ende sich Frusciante in einen Rausch spielt. Peace And Love ist dagegen auf Schmusekurs: „Shout out to my lonely friends, a message that I meant to send/ I got peace and love for you right now“. „We’ve only just begun/ Funky monks are on the run” heißt es wiederum im Opener Tippa My Tongue. 34 größtenteils tadellose Songs in einem Jahr – es gibt schlechtere Starts als den von Frusciantes dritter Legislaturperiode.

Ways Away – Torch Songs (Label: Other People/VÖ: 14.10.)
Mit Ways Away hatten Stick-To-Your-Guns-Frontmann Jesse Barnett, Boysetsfire-Schlagzeuger Jared Shavelson, Samiam-Gitarrist Sergie Loobkoff und Racquet-Club-Bassist Ian Smith 2020 ein tolles Debütalbum veröffentlicht. Insbesondere Loobkoffs prägnante Gitarrenriffs und Barnetts inbrünstiger Gesang haben den Alternative Rock von Ways Away darauf wie einen Diamanten strahlen lassen. Ihr zweites Album hat die Supergroup während der Lockdowns geschrieben und produziert. I Got Low eröffnet die Platte mit einem satten Gitarrenriff, bevor der hinreißende Refrain das Tempo gelungen rausnimmt. Im Midtempo fühlen sich Ways Away auf Torch Songs öfter wohl, ziehen aber auch zum richtigen Zeitpunkt das Tempo immer wieder an. (I’m Not) Laughing With You tauscht etwa die übliche Wiederholung des Refrains gegen die Bridge ein, womit sich der Song recht schnell energetisiert, bevor der hymnische Chorus doch noch einmal aufleuchtet. Das zunächst ruhige und sich nach und nach aufschwingende Easy Fix erinnert auch dank Barnetts Kopfstimme an seine weitere Band Trade Wind und auch in Happy With What I Have singt er gefühlvoll mit weicher Stimme. In Heaven’s Lathe darf Touché-Amoré-Frontmann Jeremy Bolm mitmischen, wohingegen sich Ways Away in Pink Kerosene mit Polizeigewalt auseinandersetzen. Torch Songs reicht nicht ganz an die Klasse des Debüts heran, auch weil nicht jeder der Songs so stark durch Mark und Bein geht wie die des Vorgängers.

Brutus – Unison Life (Label: Hassle/VÖ: 21.10.)
Auf ihrem dritten Album treiben Brutus ihr Amalgam aus Punk, Shoegaze, Post-Rock, -Hardcore und -Metal auf die Spitze. Nachdem das Trio aus dem belgischen Leuven seinem vielversprechenden Debüt Burst mit Nest einen fantastischen Nachfolger hatte folgen lassen, justiert es auf Unison Life die Stellschrauben an den richtigen Stellen nach. Das Ergebnis ist eine Machtdemonstration, die vor starken Momenten nur so trotzt. Das eröffnende Miles Away – zugleich der erste Brutus-Song, der ohne Schlagzeug auskommt – kündigt zu sphärischen Klängen mit einer aufflackernden Gitarre den Sturm an, den die Band in den folgenden neun Songs folgen lässt. Das anschließende Brave sorgt mit einer direkt losbrechenden Post-Punk-Rock-Gitarre für die erste Windböe und wechselt anschließend gekonnt zwischen schnellen und langsameren Passagen, ohne sich jedoch so richtig im Ohr festzusetzen. Das gelingt Brutus jedoch schon mit dem folgenden, am Indierock andockenden Victoria, auf dem sich die Band wie im anknüpfenden What Have We Done von ihrer bislang zugänglichsten Seite zeigt. Der wummernde Bass in Dust gleicht dagegen einer Eruption, während in Liar die mehr Richtung Alternative Rock neigende Gitarre wieder mehr im Fokus steht. Chainlife kämpft sich wiederum von Post-Rock über instrumentale Black-Metal- und Hardcore-Punk-Parts bis hin zu Post Metal durch. Dreamlife steht gleichberechtigt zwischen den beiden Polen Post-Rock und (Post-)Punk, ehe das sechseinhalbminütige Desert Rain die Platte mit einem Orkan beschließt. Hier fahren Brutus noch einmal alles auf, was sie in den vorherigen neun Songs erkundet haben, während sich Schlagzeugerin Stefanie Mannaerts in einen Rausch singt. Zu den abwechselnden Zeilen „Oh, does it rain?“ und „Oh, desert rain“ kann man den durch einen Sturm aufgewirbelten Sand quasi im Nacken spüren. Das ist zudem wie das gesamte Album leidenschaftlich gesungen von Mannaerts, die über die nun drei Alben ihrer Band als Sängerin stark gewachsen ist und mit vermeintlicher Leichtigkeit zwischen rauer, weicher oder auch mal fieser Stimmfarbe wie in Liar changiert. Das gilt auch für Brutus und ihren zwischen zahlreichen Genres angesiedelten Sound. Dass man so ein Album schon fast erwarten konnte, zeugt von der Klasse dieser einzigartigen Band.


Kind Kaputt – Morgen ist auch noch kein Tag (Label: Uncle M/VÖ: 21.10.)
Vor genau einem Jahr hatten Kind Kaputt ihrem 2019 veröffentlichten Debütalbum Zerfall die fantastische EP Endlich wieder folgen lassen und auch mit ihrem zweiten Album formulieren die Leipziger ihren erheblich am Indierock schnuppernden Post-Hardcore nun selbstbewusster aus als auf ihrem bereits gelungenen Debüt. Morgen ist auch noch kein Tag fasst die emotionale Zerrissenheit und Überforderung der Generation Y zusammen, ausgedrückt in Wut und Enttäuschung. „Wir werden niemals glücklich sein, wir nehmen es uns nur vor“ heißt es etwa schon fast zynisch in Glücklich sein, während In Frieden mit der Zeile „Ich hab gelernt den Zerfall zu umarmen“ noch einmal Bezug auf das Vorgängeralbum nimmt. Das sphärische Stolpern inklusive (gelungenem!) Autotune-Sprechgesang kann dagegen als Vertonung von Depression verstanden werden. Das gilt auch für Alles erreichen, in dem Frontmann Johannes Prautzsch mit einem halb geschrienen und halb gesungenen Refrain wunderbar seine Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Das gelingt auch immer wieder in Form dissonanter Post-Hardcore-Gitarren, denen Kind Kaputt regelmäßig Experimente entgegensetzen. Neben dem Einsatz von Autotune etwa durch einen Chor in In Frieden oder die musikalische Reduktion in CH2O. Dem Quartett (Fabian Willi Simon ist jedoch nur für das Visuelle zuständig) gehen zudem im Minutentakt eingängige Refrains von der Hand, die in einen starken Albumsound eingebettet sind. So ist auf Morgen ist auch noch kein Tag kein Bass zu hören, durch eine tiefgestimmte Bariton-Gitarre sowie unterschiedliche Gitarren- und Bass-Effekte ist die Platte dennoch bassintensiv geworden. Das ist auch die Arbeit von Heisskalt-Frontmann Mathias Bloech, der das Album produziert hat. Nicht nur deswegen schließen Kind Kaputt die Lücke, die Heisskalt im deutschsprachigen Post-Hardcore hinterlassen haben.


Polyphia – Remember That You Will Die (Label: Rise/VÖ: 28.10.)

Polyphia rechtfertigen den Hype um ihre Band, indem sie endgültig instrumentale Gitarrenmusik revolutionieren. Mit ihrem dritten Album New Levels New Devils (2018) hatte die Band aus Plano, Texas einen ganz eigenen Entwurf von instrumentalem Progrock vorgelegt, der sich vom eher klassischen Progressive Metal/Rock der ersten beiden Alben stark abgehoben hatte und Polyphia viel näher an Trap und HipHop zeigte – mit den Mitteln von Gitarre, Bass und Schlagzeug. Mit Remember That You Will Die perfektioniert das Quartett nun seine musikalische Vision. Genesis eröffnet die Platte mit Bläsern des R’n’B-Duos Brasstracks feierlich, bevor in Playing God die Gitarristen Tim Henson und Scott LePage erstmals zu technisch höchst anspruchsvollem Gegniedel ausholen, das Bassist Clay Gober mit pumpenden Beats und Clay Aeschliman mit versiertem Schlagzeugspiel veredeln. Im unfassbaren Reverie lassen Henson und LePage ihre Gitarren singen und in ABC treiben Polyphia mit J-Pop-Gesang von Sophia Black ihren Prog-Pop auf die Spitze, bevor sie sich für gleich drei Songs Rapper dazu holen, wobei das Album hier im Vergleich zum Rest der Platte etwas abfällt. In Bloodbath steuert schließlich Deftones-Frontmann Chino Moreno atmosphärischen Gesang bei und für Ego Death holen sich Polyphia den legendären Gitarristen Steve Vai und erneut Brasstracks-Trompeter Ivan Jackson dazu und beenden die Platte mit einem sechsminütigen Progrock-Meisterwerk. Remember That You Will Die ist ein sämtliche Genre-Grenzen sprengendes Manifest vierer Ausnahmemusiker.