Unsere 25 Alben des Jahres 2022

Wir küren auch in diesem Jahr die 25 besten Alben des Jahres. Dafür haben wir erneut in der Redaktion abgestimmt – herausgekommen ist ein bunter Strauß Alben, die unser breites Musikspektrum abdecken. Oder anders formuliert: viel Spaß mit einer Reise durch Metalcore, Alternative Rock, Deutschrap, (Post-)Hardcore, (Post-)Punk, Psychedelic Rock, Indierock, Black Metal und vieles mehr.

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25. Stick To Your Guns – Spectre
Label: End Hits/VÖ: 29.07.
Ganze fünf Jahre lassen Stick To Your Guns ihre Fans nach True View warten, bis sie ihnen Spectre präsentieren. Diese aufgrund des Verlaufs der letzten Jahre sicherlich nicht ganz geplante Taktik geht auf, denn die kalifornischen Hardcore-Veteranen präsentieren nicht nur ein gutes Album, sondern füllen auch große Konzertlocations quer durch Europa. Vom Sound her bandtypisch, aber mit einer deutlich saubereren Produktion als noch auf den Vorgängeralben, bietet Spectre gewohnt viel politischen Schreigesang von Jesse Barnett. A World To Win und More Of Us Than Them sind gelungene Aufrufe, die eigene politische Meinung auch auf die Straße zu bringen, während Weapon als musikgewordener Mut-Zuspruch authentisch das Album eröffnet. Diese drei Songs sind auch musikalisch hervorzuheben, auf More Of Us Than Them ist ein Breakdown vom 2016 verstorbenen Architects-Gitarristen Tom Searle zu hören, der schon ohne dieses Wissen Gänsehaut bereitet. Stick To Your Guns trauen sich auf Spectre nicht, ihre Erfolgsformel zu verändern, aber das ist mit der Routine von knapp zwanzig Jahren Erfahrung in der Hardcore-Szene auch nicht nötig. Spectre macht Spaß, ist eingängig und hat es verdient, seinen Platz in der großen Diskographie der Band einzunehmen. – Julius Kling

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24. Muse – Will Of The People
Label: Warner/VÖ: 26.08.
Muse sind eine der größten Rockbands des 21. Jahrhunderts und ihre gigantischen Headliner-Shows zählen zu dem Besten, was man als Festivalbesucher aktuell erleben darf. Während der Vorgänger Simulation Theory auf ganzer Strecke enttäuschte, wird das Trio seinem Größenanspruch auf dem neunten Album wieder gerecht. Die Synthesizer bleiben ein bestimmendes Element, jedoch nimmt auch die Gitarre von Frontmann Matt Bellamy wieder einen Platz in vorderster Reihe ein. Etwa mit Metal-Schlagseite in Won’t Stand Down oder einem treibenden Riff in Kill Or Be Killed, gepaart mit leichten Growls, Double-Bass und variantenreichen Vocals. Zu einem Muse-Album gehören mittlerweile auch ausschweifende Balladen. Die gibt es auf Will Of The People in Form von Verona sowie dem großartigen Ghosts (How Can I Move On) mit wunderschönem Pianospiel. So schnörkellos wie in Euphoria hat man die Briten zudem lange nicht gehört. Auch weil der Synthiepop in Compliance dieses Mal besser funktioniert als vor vier Jahren, überzeugt endlich mal wieder eine Muse-Platte auf voller Länge. So darf es in Zukunft gerne weiter gehen. – Florian Hilger

Praise-Armageddonism

23. Blood Command – Praise Armageddonism
Label: Hassle/VÖ: 01.07.
2020 kommt es bei Blood Command zur Zensur: die bisherige Sängerin Karina Ljone verlässt die Band aufgrund ihrer Schwangerschaft, neue Sängerin wird Nikki Brumen, bis dahin Frontfrau bei der australischen Hardcore-Rock’n’Roll-Black-Metal-Band Pagan, die sich Anfang 2020 auflöst. Mitte 2021 verkünden die Norweger die Neuverpflichtung mit dem ersten gemeinsamen Song A Villain’s Monologue, der zugleich die erste Auskopplung aus Praise Armageddonism darstellt. Auf seinem vierten Album klingt das Quintett gleichzeitig so poppig als auch heavy wie nie. Das ist auch auf Rampensau Brumen zurückzuführen, die in bekannter Pagan-Manier schreien als auch erstmals Klargesang beisteuern darf, was ihr ausgezeichnet steht. Saturday City und The End Is Her sind Pop-Songs im Rock-Gewand, während A Villain’s Monologue, Nuns, Guns & Cowboys und Burn The Blasphemer mit dicken Riffs und Brumens unverkennbarem Geschrei nach vorne preschen. Der finale Longtrack Last Call For Heaven’s Gate findet sogar Platz für ein okkultes Saxophon, zu dem man sich Brumen beim Schlangentanz auf der Bühne vorstellen kann. Zurück geht der Titel des Albumclosers auf die Heaven’s Gate Bewegung, die sich Anfang der 1980er-Jahre in den USA gegründet hatte und Ufoglauben praktizierte. Eine Sektenkultur lehnen Blood Command ab, bei ihren Konzerten als auch textlich gehe es ihnen aber darum, Außenseitertum mit Gleichgesinnten zu überwinden und Selbstwertgefühl zu finden. Dafür ist Praise Armageddonism die perfekte Platte. – Jonathan Schütz

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22. Architects – The Classic Symptoms Of A Broken Spirit
Label: Epitaph/VÖ: 21.10.
18 Jahre nach ihrer Gründung füllen Architects inzwischen große Hallen und sind mit The Classic Symtoms Of A Broken Spirit auf dem besten Weg in die Stadien. Im Gegensatz zum erst Anfang 2021 veröffentlichten Vorgänger For Those That Wish To Exist beinhaltet ihr zehntes Album kein Intro und keine Streicher, sondern ist deutlich elektronischer ausgefallen. Die elf Songs klingen durchdachter und sind eingängiger und zugänglicher für neues Publikum. Nahezu jeder der elf Songs besitzt absolutes Ohrwurmpotenzial. So lässt sich zur Musik der Briten nicht mehr nur Mitnicken, sondern trotz ernster Themen auch lautstark Mitsingen. Vom Metalcore haben sich die Briten zudem noch nicht komplett abgewendet. Dafür muss man nur einmal den wuchtigen Albumcloser Be Very Afraid hören. Der Großteil der Songs besitzt jedoch einen Industrial-Vibe und Frontmann Sam Carter darf nun auf Albumlänge zeigen, dass er nicht nur guttural zu den besten Metal-Vokalisten gehört, sondern auch ein begnadeter Sänger in ihm steckt. Wenn bei der Weiterentwicklung zudem eine so tolle Ballade wie Burn Down My House herausspringt, geht man den Weg als Fan gerne mit. – Florian Hilger

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21. Fontaines D.C. – Skinty Fia
Label: Partisan/VÖ: 22.04.
Auf Skinty Fia tauschen Fontaines D.C. die Post-Punk-Nervosität ihrer ersten beiden Alben ein gegen Shoegaze-Verträumtheit, Oasis-Gitarren und Hits, wie sie sonst nur The Smiths schreiben könnten. Exzellentes Songwriting trifft auf einen Sänger, der dann am besten ist, wenn sich die Band um ihn herum zurücknimmt. In The Couple Across The Way braucht es nicht viel mehr als ein Akkordeon und der zwischen Spott und Romantik pendelnde Stimme von Grian Chatten.  Kernthema des Albums ist der Umzug der Band von Dublin nach London. In Roman Holiday straft er den neuen Wohnort mit Verachtung, in I Love You überhäuft er sein Heimatland mit Liebesbekundungen, und weil er zu den Guten gehört, geht das nicht ohne Kehrseite: „But this island’s run by sharks with children’s bones stuck in their jaws“. Dazu steigert sich der Song immer weiter, und selbst wenn auf einen Ausbruch á la Television Mind verzichtet wird, ist die Intensität eine ähnliche. Ihr Hitpotential beweisen Fontaines D.C. mit Jackie Down The Line, ihre Affinität für Rave-Rock mit dem Titeltrack und Big Shot ist einer der wunderbaren Songs, in denen sich die Sehnsucht auf Stimme und Instrumente legt: „Everybody gets a big shot baby“. Skinty Fia legt nahe, Fontaines D.C. haben Großes vor. – Marlo Oberließen

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20. Polyphia – Remember That You Will Die
Label: Rise/VÖ: 28.10.
Mit ihrem dritten Album New Levels New Devils hatten Polyphia 2018 einen ganz eigenen Entwurf von instrumentalem Progrock vorgelegt, mit ihrem vierten Album revolutionieren sie nun endgültig instrumentale Gitarrenmusik. Das ist insofern erstaunlich, da die Band aus Plano, Texas auf ihren ersten beiden Alben eher klassischen Progressive Metal/Rock spielte, inzwischen aber viel näher an Trap und HipHop agiert – nur eben mit den Mitteln von Gitarre, Bass und Schlagzeug. Konsequenterweise holt sich das Quartett für Remember That You Will Die neben Musikern wie dem R’n’B-Duo Brasstracks auch erstmals Vokalist*innen dazu. Neben Deftones-Frontmann Chino Moreno, der für Bloodbath atmosphärischen Gesang beisteuert, sind das die Rapper Killstation, $not und Lil West sowie Sängerin Sophia Black. Ihr J-Pop-Gesang im großartigen ABC sorgt endgültig dafür, dass der Prog-Pop von Polyphia jegliche Genre-Grenzen einreißt. Das Gegniedel der Gitarristen Tim Henson und Scott LePage ist technisch zudem höchst anspruchsvoll und wird von Bassist Clay Gober mit pumpenden Beats und Clay Aeschlimans versiertem Schlagzeugspiel veredelt, am allerbesten in Ego Death. Für das Albumfinale holen sich Polyphia den legendären Gitarristen Steve Vai und erneut Brasstracks-Trompeter Ivan Jackson dazu und beenden die Platte mit einem sechsminütigen Progrock-Meisterwerk. Kaum ein Hype war in diesem Jahr so verdient wie der für diese vier Ausnahmemusiker. – Jonathan Schütz

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19. Kid Kapichi – Here’s What You Could Have Won
Label: Spinefarm/VÖ: 23.09.
Kid Kapichi verpassen krachendem Alternative Rock einen frischen Anstrich, indem sie auf ihrem zweiten Album unter anderem die Auswirkungen des Brexit sowie einer regierenden rechtskonservativen Partei mit einem ehemaligen Skandal-Premierminister verarbeiten. Dem Brexit und der dahintersteckenden Politik geht das Quartett in New England zusammen mit Bob Vylan an den Kragen, die Akustikballade Party At No. 10. bezieht sich dagegen auf die „Partygate“-Affäre von Boris Johnson, der während der Corona-Lockdowns mehrfach feucht-fröhliche Abende mit seinen Mitarbeiter*innen verbracht hat. „Don’t get excited/ You’re not invited/ To the party no.10/ Cause it’s one rule for you/ And another for them”, singt Sänger und Gitarrist Jack Wilson zynisch in dem Amts- und Wohnsitz des jeweiligen Premierministers in der Downing Street gewidmeten Song. Während die Band aus Hastings musikalisch von etwa Frank Carter und Slaves inspiriert ist, gleicht ihre Attitüde sowie ihre gesellschaftskritischen Texte eher den zahlreichen Post-Punk-Bands, die das Vereinigte Königreich in den vergangenen Jahren ausgespuckt hat. Wilsons Sprechgesang in INVU erinnert zudem an The-Streets-Kopf Mike Skinner, während bei den Balladen Party At No. 10 und Never Really Had You Liam Gallagher nicht mehr weit ist. Der ist selbst Fan von Kid Kapichi. Kein verwunderlicher Ritterschlag, fängt Here’s What You Could Have Won doch wie kein zweites Album in diesem Jahr das Klima in Großbritannien ein. – Jonathan Schütz

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18. Black Country, New Road – Ants From Up There
Label: Ninja Tune/VÖ: 04.02.
Was ist mit dem Post-Punk des Debüts passiert? Nur ein Jahr später entwirft die siebenköpfige Formation aus dem Umfeld des Londoner Pubs The Windmill ihre eigene Version von Post-Rock. Böse Zungen mögen behaupten das sei Musik für Kunststudierende oder solche die es werden wollen, alle anderen können sich an einem fordernden Album erfreuen, das durch raffinierte Komposition begeistert. Neben Sänger und Texter Isaac Woods, der kurz nach Release aus der Band ausgestiegen ist, kommen Saxofonist Lewis Evans und Violinistin Georgia Ellery eine zentrale Rolle zu. Die letzten drei Songs legen Vergleiche zu den Post-Rock-Ikonen Godspeed You! Black Emperor nahe, besonders das abschließende zwölfminütige Basketball Shoes ist ein kleines Meisterwerk. Auf Ants From Up There überlassen Black Country, New Road nichts dem Zufall, alles scheint bis ins letzte Detail durchdacht, textliche und musikalische Motive werden wiederholt aufgegriffen, etwa das Wort „Concorde“, das nicht nur im gleichnamigen Song, sondern auch in Chaos Space Machine, The Place Where He Inserted The Blade und Basketball Shoes auftaucht. Mit Bravour meistern sie den Spagat zwischen Komplexität und Zugänglichkeit, zum Beispiel wenn Chaos Space Machine zum großen Mitsing-Refrain ausholt, nur um davor und danach auf eine stringente Struktur zu verzichten. Die gute Nachricht: Neue Musik ist in Arbeit. Die schlechte: Die mit popkulturellen Zitaten gespickten Texte von Woods werden fehlen. – Marlo Oberließen

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17. Meat Wave – Malign Hex
Label: Big Scary Monsters/VÖ: 14.10.
Von den vielen tollen rumpeligen Noiserock-/Post-Punk-Bands zählt das Chicagoer Trio seit seinem Debüt (2012) zu den tollsten. Wer sich fragt warum, braucht einfach nur Malign Hex zu hören. 2019 aufgenommen und aus pandemiebedingten Gründen erst im Oktober veröffentlicht, ist ihr viertes Album die konsequente Weiterführung ihres Sounds, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sich unter der dreckigen Schale lauter Melodien und nicht zuletzt Hits verstecken. Honest Living ist so einer, knappe zwei Minuten lang (getrieben, atemlos, grandios), ebenso Waveless, der Sonic-Youth-Indierock als Ausgangsfläche für Noiserock-Eskapaden nutzt. Ridiculous Car gerät zur rasenden Abrechnung mit der Vormachtstellung des Autos und als Beispiel für die um die Ecke gedachten Texte von Sänger und Gitarrist Chris Sutters, mit denen er sich selbst, seine Mitmenschen und die umgebenden Verhältnisse mit Verachtung straft: „Bright orange/ Got a death wish weaving on the interstate/ Eat my fucking dust/ Ripping 90 without a care“. Darauf, wie Meat Wave in Zukunft klingen könnten, liefert die im vergangenen Jahr erschienene, ebenso grandiose EP Volcano Park Hinweise, die kurioserweise nach Malign Hex entstanden ist. – Marlo Oberließen

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16. Tocotronic – Nie wieder Krieg
Label: Vertigo/VÖ: 28.01.
Die Parolen sind zurück im Tocotronic-Kosmos: Nie wieder Krieg, Jugend ohne Gott gegen Faschismus, Ich hasse es hier. Dennoch ist ihre 13. keine direkt politische Platte geworden. Selbst der Titeltrack richtet den Fokus nach innen und fordert „Nie wieder Krieg/In Dir/In uns/In mir“. Die Texte handeln vom Verloren fühlen, vom Ausbrechen wollen und dem Eingestehen der eigenen Verletzlichkeit. Beim Schreiben hat sich Sänger und Gitarrist Dirk von Lotzow von autofiktionaler Literatur inspirieren lassen und gewährt noch mehr als beim Vorgänger Die Unendlichkeit (2018) Einblicke in sein Innenleben, was bei dessen Beobachtungsgabe nur ein Gewinn darstellen kann. Heraussticht Ich tauche auf, ein Duett mit der österreichischen Künstlerin Soap & Skin („Ich habe dich noch nie gesehen/ Oben bei den Lebewesen/ Hier bist du nie gewesen/ Nur gelesen habe ich von dir“), das zu berühren weiß. Songs wie Crash und Nachtflug bringen eine musikalische Leichtigkeit mit, die man so von der Band nicht kannte, und zu denen der schrammelige Indierock von Jugend ohne Gott gegen Faschismus und Komm mit in meine freie Welt das Gegengewicht bildet. Selbst wenn niemand mehr daran gezweifelt hat: Nie wieder Krieg ist der endgültige Beweis, dass Tocotronic nichts mehr beweisen müssen. – Marlo Oberließen

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15. Brutus – Unison Life
Label: Hassle/VÖ: 21.10.
Wer Brutus schon einmal live gesehen hat, weiß: an Emotionalität auf und abseits der Bühne hat es dieser Band noch nie gefehlt. Auf Unison Life präsentieren sie diese allerdings mit deutlich mehr Reife als zuvor. What Have We Done generiert eine düstere, niederschmetternde Stimmung, die fast schon als apokalyptisch beschrieben werden kann und drückt die Hilflosigkeit aus, die nicht nur Brutus während der Pandemie gefühlt haben. Im folgenden Dust treibt Sängerin und Schlagzeugerin Stefanie Mannaerts sich selbst und ihre Zuhörenden wieder gewohnt schnell durch intensive Gefühle, die ihren Höhepunkt in einer instrumentalen Passage am Ende des Songs finden. Chainlife ist das heimliche Highlight des Albums und zaubert mit unerwarteten, brachialen Metal-Gitarren ein Lächeln aufs Gesicht. Am Ende des Albums bietet sich mit Desert Rain noch einmal ein Highlight, das die ganze musikalische Finesse der Band in einem Song vereint. Unison Life ist die Reifeprüfung für die inzwischen nicht mehr ganz so junge belgische Band, die sie mit Bravour besteht. Altbekannter Sound wird mit Routine dargeboten und an vielen Stellen poliert und akzentuiert, weswegen Unison Life das bis dato beste Album von Brutus geworden ist. – Julius Kling

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14. Casper – Alles war schön und nichts tat weh
Label: Eklat/VÖ: 25.02.
Auf dem fünften Album von Casper halten sich Selbst- und Fremdbeobachtung die Waage. Ums eigene Ich drehen sich etwa der überlebensgroße, von Selbstzweifeln geplagte Titeltrack sowie das Depression thematisierende TNT. Im groß angelegten Lass es Rosen für mich regnen zementiert der Bielefelder Rapper hingegen seinen noch immer unantastbaren Status im Deutschrap-Game. Die Introspektive verlässt Casper für Billie Jo, in dem er die posttraumatische Belastungsstörung des Mannes seiner Cousine nach dem Irakkrieg bis hin zu dessen intrafamiliären Amoklauf nachzeichnet. Gänsehaut verursacht außerdem das abschließende Fabian, in dem Casper die (überstandene) Leukämie-Erkrankung eines guten Freundes sowie den eigenen Umgang damit reflektiert. Alles war schön und nichts tat weh ist nicht nur wegen dieser beiden Songs Caspers großes Storyteller-Album, auch in Zwiebel & Mett sowie Das bisschen Regen nimmt er eine erzählende Perspektive über Ignoranz in Klimakrise-Zeiten sowie die Zerstörung der Umwelt ein. Ein ganz schöner Rucksack, den Casper mit sich herum trägt und dessen Gewicht er auf mehrere Gäste aufteilt: Provinz, Lena, Tua, Haiyti, Felix Brummer und Beatsteaks-Frontmann Arnim Teutoburg-Weiß. Auch weil dem 40-Jährigen bei seinen vielschichtigen Arrangements zwischen HipHop-Beats und Indierock-Instrumentierung hierzulande immer noch niemand das Wasser reichen kann, hat Casper bislang ausschließlich sehr gute Alben veröffentlicht. – Jonathan Schütz

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13. Counterparts – A Eulogy For Those Still Here
Label: Pure Noise/VÖ: 07.10.
Frei nach Frontmann Brendan Murphy lässt sich dieses Mal erneut behaupten: ist man Fan seiner Band, mag man auch dieses Album. Die Rückkehr des letztmals auf The Difference Between Hell And Home am kreativen Prozess beteiligten Gitarristen Alex Re hat einen spürbar positiven Einfluss auf den melodischen Teil des Songwritings, während Murphy weiter Texte dichtet, die besonders im Falle von Whispers Of Your Death über seinen mittlerweile verstorbenen Kater Kuma auf die Tränendrüse drücken. Zwischen brachialen Breakdowns und sentimentalem Schreigesang ist auf dieser Platte auch das beinahe unheimlich gute Schlagzeugspiel Kyle Brownlees hervorzuheben, der endgültig in der Band angekommen ist. Soil II ist ein Geschenk für Fans, die das Melodic-Hardcore-Urgestein schon länger verfolgen und die Kanadier beweisen mit Mass Grave Of Saints einmal mehr, dass sie die Kunst, gelungene Albumcloser zu schreiben, mehr als die meisten Bands ihres Genres beherrschen. Es ist zu hoffen, dass sich mit diesen Bandmitgliedern endlich eine konstante Belegschaft gefunden hat, denn auf A Eulogy For Those Still Here gilt mehr denn je zuvor: Counterparts klingen wie immer – aber besser denn je. – Julius Kling

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12. Northlane – Obsidian
Label: Believe/VÖ: 22.04.
Mit genreprägenden Platten wie Singularity oder dem erst 2019 veröffentlichten Vorgängeralbum Alien, das sich selbst nach dieser kurzen Zeit bereits wie ein Klassiker anfühlt, haben sich Northlane längst als großer Name in der Metalcore-Szene etabliert. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen an ihre diesjährige Veröffentlichung, und auch wenn einige alteingesessene Fans vom leichten Soundwandel vielleicht enttäuscht wurden, ist Obsidian zurecht eine der meistgefeierten Metalcore-Platten des Jahres. Ihren starken elektronischen Einflüssen, die die Vorgängeralben zurecht so beliebt gemacht hatten, bleiben Northlane auch auf diesem Album treu, aber sie schaffen auch Unterschiede zu anderen Werken ihrer Diskographie – beispielsweise durch deutlich mehr Klargesang von Frontmann Marcus Bridge, besonders exemplarisch zu hören auf Nova. Die Lead-Single Clockwork schafft es wohl am besten, neue und alte Einflüsse der Band ineinander zu kombinieren und trotzdem noch nach dem vertrauten Sound der Australier zu klingen. Obsidian ist die natürliche Weiterentwicklung des Quartetts, die sich so organisch wie gelungen anfühlt und dafür sorgt, dass Obsidian nicht nur auf dieser Bestenliste vertreten sein wird. – Julius Kling

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11. The Good, The Bad And The Zugly – Research And Destroy
Label: Fysisk Format/VÖ: 08.04.
Ein riesengroßer Spaß ist Research & Destroy. Ein riesengroßer, 34-minütiger Spaß, bestehend aus zehn Songs zwischen skandinavischen Rock’n Roll, Hardcore und Punk, die sich durch Simplizität und einem schnellen Weg ins Herz auszeichnen. Für Research & Destroy musst du nichts mitbringen, außer einem Sinn für Humor. Ein weiteres Markenzeichen des norwegischen Quintetts, das sich in Songs wie The Power Of Beer oder Bridge And Tunnel Guy manifestiert – in letzterem nimmt Sänger Ivar Nikolaisen seine eigene Abgehobenheit aufs Korn und entkräftet damit alle Zweifel, dass sich sein Einstieg bei Kvelertak 2018 negativ auf GBZ auswirken könnte. GBZ sind da. Und zwar sowas von: Auch wenn sie auf ihrem fünften Album nicht viel anders machen als auf den Vorgängern, entpuppt es sich als eine Machtdemonstration, auf der alles passt: Jedes Riff, jedes Solo, jeder Gangshout-Refrain. Kein Song klingt erzwungen, alles wirkt locker aus der Hüfte geschossen und die dabei entstehenden Hits nicht geplant, sondern wie nebenbei eingesackt. Auch wenn das alles weit von Stadionrock entfernt ist, zeigen Songs wie Nostradumbass oder Song For A Prepper mitsamt Klavierintro, dass sie sich nicht davor scheuen müssen, groß zu denken. The PKA Took My Money Away, in dem sich Nikolaisen an dem norwegischen Rentensystem abarbeitet, unterstreicht zudem die sozialkritische Seite der Band. – Marlo Oberließen

Crisis Of Faith

10. Billy Talent – Crisis Of Faith
Label: Warner/VÖ: 21.01.
Seit fast zwanzig Jahren liefern Billy Talent feinsten Alternative Rock ab, der auch live unglaublich viel Freude bereitet. Die zahlreichen Konzerte in und um Deutschland sind stets gut besucht und auch auf Festivals sind die Kanadier immer gern gesehene Gäste. Mit ihrem sechsten Album liefern Billy Talent schon zu Beginn des Jahres ein absolutes Highlight. Die ersten Singles Forgiveness I + IIReckless Paradise und I Beg To Differ (This Will Get Better) waren bereits 2019 und 2020 erschienen, bevor nach anderthalbjähriger Corona-Zwangspause weitere Songs und schließlich Crisis Of Faith folgten. Reckless Paradise steht Evergreens wie Fallen Leaves oder Rusted From The Rain in nichts nach, I Beg To Differ (This Will Get Better) ist die große Durchhaltehymne und mit Forgiveness I + II erforschen Billy Talent ihre proggige Seite. Insgesamt werden die Backing Vocals inzwischen gezielter eingesetzt, viele Melodien und Bassläufe sind verspielter und anspruchsvoller. Eine weitere Überraschung liefert die Band mit einem Feature von Weezer-Frontmann Rivers Cuome beim stark nach Weezer klingenden End of Me, während Judged ein 99-Sekunden-Arschtritt ist. Crisis of Faith ist ein tolles und abwechslungsreiches Album geworden, das unterstreicht, dass sich Billy Talent weiterentwickeln können und wollen. – Florian Hilger

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9. Mantar – Pain Is Forever And This Is The End
Label: Metal Blade/VÖ: 15.07.
Lagen zwischen den ersten drei Alben des Duos aus Bremen noch jeweils zwei Jahre, haben sich Mantar für ihr viertes Album dieses Mal doppelt so viel Zeit gelassen. Untätig waren Gitarrist Hanno Klänhardt und Schlagzeuger Erinç Sakarya in der Zwischenzeit jedoch nicht: 2020 haben die beiden mit Grungetown Hooligans II eine EP veröffentlicht, auf der sie Grunge- und Noiserock-Songs aus den 90ern gecovert haben. Das hat sich auf den Sound von Pain Is Forever And This Is The End ausgewirkt: Mantar machen noch immer doomigen Black Metal, reichern ihre Songs nun aber mit Versatzstücken anderer Genres an. Etwa in Grim Reaping mit einem Riff, das auch von Kvelertak stammen könnte, bevor der Song zwischen Schweinerock und Black-Metal-Galle changiert. New Age Pagan drückt dagegen das Fuzz-Pedal voll durch. Höhepunkt der nuancierten Weiterentwicklung ist jedoch der Albumcloser Odysseus, der mindestens zur Hälfte Post-Rock ist. Davon darf es der Abwechslung wegen in Zukunft gerne mehr sein, am besten bleiben Mantar jedoch, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren: wuchtigen Black Metal wie kein anderes Duo dieser Welt zu spielen. Etwa in Hang ‘Em Low (So The Rats Can Get ‘Em), dem größten Hit des Albums. Gleichzeitig so nihilistisch und mächtig klang in diesem Jahr keine zweite deutsche Metal-Band. – Jonathan Schütz

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8. Wet Leg – Wet Leg
Label: Domino/VÖ: 08.04.
Wet Leg lüften auf ihrem Debütalbum im muffigen Indierock-Keller mit jeder Menge Humor einmal kräftig durch. Schon der zweiminütige Opener Being In Love stellt eine Frischzellenkur dar, wenn Sängerin und Gitarristin Rhian Teasdale Verliebtsein unter anderem mit Uninspiriertheit, dem Gefühl aufgeben zu wollen, Appetitverlust und Schlaflosigkeit vergleicht. Im 2021 viral gegangenen Chaise Longue singt sie anschließend „Mummy, daddy, look at me/ I went to school and I got a degree/ All my friends call it the big D/ I went to school and I got the big D”. Humor ist bei dem außerdem aus Gitarristin Hester Chambers bestehenden britischen Duo jedoch nicht alles. Chaise Longue und Wet Dream sind tanzbarer Indierock in seiner besten Form und gehören in jede gescheite Indiedisko. Ihr Songwriting geht jedoch darüber hinaus: I Don’t Wanna Go Out klingt genau so, wie es der verdrossene Songtitel vermuten lässt und Loving You reflektiert zu zurückgenommener Instrumentierung, was es heißt, (nicht) zu lieben. Insbesondere den Songs voller Hüftschwung wie Ur Mum inklusive dem ansteckendenlongest and loudest scream“ in der Bridge kann man sich aber nur schwer entziehen. Das hat auch Harry Styles erkannt, der nicht nur ein Cover von Wet Dream veröffentlicht hat, sondern Wet Leg im kommenden Jahr mit auf Stadiontour nehmen wird. – Jonathan Schütz

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7. Viagra Boys – Cave World
Label: Year0001/VÖ: 08.07.
Das dritte Album der schwedischen Post-Punk-Band ist ein Werk, das selbst in dieser Liste seinesgleichen sucht. In kurzweiligen 40 Minuten nimmt Frontmann Sebastian Murphy das Klischee von Verschwörungstheoretiker*innen und Impfgegner*innen so sehr aufs Korn, dass man keinen einzigen Song beenden kann, ohne zu Schmunzeln. Creepy Crawler beispielsweise fühlt sich auf eine gelungene Art und Weise an wie ein Verschwörungstheorie-Bingo, welches so manche geplagte Seele dieses Jahr am Weihnachtstisch ertragen musste. Heraus sticht auch der langsamere Song Punk Rock Loser, der in seinem Humor deutlich subtiler anmutet und sicherlich auch auf ein früheres Selbst des Sängers anspielt. So sehr die Platte auch von der Exzentrik Murphys geprägt wird, kommt auch der musikalische Aspekt nicht zu kurz, denn die Viagra Boys finden auf diesem Album endgültig ihre Nische. Groovy Gitarrenriffs werden immer wieder von elektronischen Einspielern wie auf Troglodyte und Ain’t No Thief umspielt, welche zusammen durchgängig Tanzlaune auslösen. Starke Interludes runden das Gesamtkunstwerk Cave World ab, das sich in einigen Jahren sicherlich als Dokument des gesellschaftlichen Wahnwitzes rund um die Corona-Pandemie eignen wird – auch durch seinen wohl zeitlosen Sound. – Julius Kling

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6. King Gizzard & The Lizard Wizard – Omnium Gatherum
Label: KGLW/VÖ: 22.04.
Von den fünf Alben, welche die australischen Psych-Weirdos dieses Jahr veröffentlichen haben, ist Omnium Gatherum das beste. Die Band beschreibt die Platte als Mixtape, als „unser weißes Album, auf dem alles möglich ist“. In der Tat klingen die sechzehn Songs wie eine Werkschau durch die jüngere Bandgeschichte: Gaia und Predator X lassen die Stoner-Metal-Muskeln von Infest The Rat’s Nest (2019) spielen, Magenta Mountain verkörpert den luftigen Neo-Psychedelia-Sound von Butterfly 3000 (2021) und Evilest Man bewegt sich zwischen Weirdo-Boogie á la Fishing For Fishies und dem Hängematte-Vibe von Work This Time. Wer einen Hit sucht, wird bei Blame It On The Weather fündig, wer das Gehirn ausknipsen möchte, springt zur absurden Beastie-Boys-Hommage Sadie Sorceress, und wer denkt, dass um den eingängigsten Refrain immer auch ein 18-minütiges Jam-Monster gehört, hört den Opener The Dripping Tap. Ohne Made In Timeland, Ice, Death, Planets, Lungs,  Mushrooms & Lava, Laminated Denim und Changes die Daseinsberechtigung absprechen zu wollen, Omnium Gatherum wäre dieses Jahr ausreichend gewesen, um King Gizzards Status als Ausnahmeband zu zementieren. 80 Minuten Grenzenlosigkeit. – Marlo Oberließen

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5. Muff Potter – Bei aller Liebe
Label: Huck’s Plattenkiste/VÖ: 26.08.
Auflösung: 2009. Live-Comeback: 2018. Erstes musikalisches Lebenszeichen: Was willst du, 2020. Und spätestens seit dem 26. August 2022, seit dem Erscheinen von Bei aller Liebe sind Muff Potter auch auf Albumlänge zurück. Und wie. Ihr achtes Album klingt unverwechselbar nach Muff Potter, aber weder nach denen von Gute Aussicht (2009), noch erzählen sie Bordsteinkantengeschichten (2000). Vielmehr transportieren sie ihren selbsternannten Angry-Pop-Sound in die Jetztzeit, verzieren ihn mit Spoken-Word-Passagen, Kinderchor, Post-Punk-Motorik und geben ihren Songs mehr Zeit: Drei der zehn Songs knacken die Sechs-Minuten-Marke. Ganz anders Privat, der in 01:13 und mit Turbostaat-Punkrock auf den Punkt kommt, und auf das mit Der einzige Grund aus den Haus zu gehen der Song folgt, der die andere Seite, die Popsau-, die Kettcar-Seite der Band betont. Bei aller Liebe ist die politischste Platte der Band geworden. Großartig wie sich Thorsten Nagelschmidt am Kapitalismus abarbeitet, an leistungs- und freiheitsbesoffenen Karriereleiterkletter*innen (Flitter & Tand), am Selbstoptimierungswahn und dessen ekeligen Ausläufern in Werbung und Musik (Hammerschläge, Hinterköpfe) und, wie er in Nottbeck City Limits brillantes Storytelling unter Beweis stellt. Nicht zuletzt deshalb gehört Bei aller Liebe zu den besten Alben des Jahres und Muff Potter zu den aktuell wichtigsten deutschsprachigen Bands. – Marlo Oberließen

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4. Parkway Drive – Darker Still
Label: Epitaph/VÖ: 09.09.
Mit ihrem siebten Album schließen Parkway Drive die Entwicklung von der Metalcore- zur Heavy-Metal-Band ab. Das verdeutlichen neben dem metallischen Albumcover die hymnischen Melodien von Leadgitarrist Jeff Ling, die den legendärsten Iron-Maiden-Riffs in nichts nachstehen und dafür gemacht sind, vor den größten Bühnen dieser Welt mitgesungen zu werden. Allgemein ist Darker Still von allen bisherigen Alben der Band aus Byron Bay am allermeisten für große Menschenmassen geschrieben. Etwa die Powerballade Darker Still mit gepfiffener Western-Melodie, an Metallica-Sänger James Hetfield erinnernder Klargesang von Frontmann Winston McCall sowie das Nothing Else Matters in nichts nachstehende Gitarrensolo von Ling. Während The Greatest Fear eine Orgel und Chöre in den Sound einbaut, ist Soul Bleach eine brutale Reminiszenz an alte Metalcore-Tage. Ein fröhliches Album ist Darker Still jedoch nicht geworden. Auf dem Album verarbeitet das Quintett die durch das viele Touren entstandene Überlastung, die dadurch angeschlagene psychische Gesundheit als auch die zahlreichen Naturkatastrophen in seiner australischen Heimat. In Glitch setzt sich McCall wiederum mit der Schlafparalyse seiner Frau auseinander. Im abschließenden From The Heart Of The Darkness entsagen sich Parkway Drive schließlich der Dunkelheit, während an das Kino-Spektakel Dune erinnernde Schlachtrufe erklingen. Größer klang in diesem Jahr kein Metal-Album. – Jonathan Schütz

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3. Kraftklub – Kargo
Label: Eklat/VÖ: 23.09.
Kraftklub waren schon immer eine politische Band. Auf dem Debütalbum Mit K musste man vor zehn Jahren noch zwischen den Zeilen lesen, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, doch schon mit Schüsse in die Luft positionierte sich die Band aus Chemnitz auf dem Nachfolger In Schwarz gegen Nationalstolz und Ausländerfeindlichkeit und setzte ein bis heute andauerndes Statement, einfach mal auf die Straße zu gehen und zum Mittel des Protests zu greifen. Auf seinem vierten Album Kargo wird das Quintett nun so politisch wie nie. „Und „Nazis raus!“ ruft es sich leichter/ Da, wo es keine Nazis gibt“, stellen Kraftklub etwa in Wittenberg ist nicht Paris fest. Fahr mit mir (4×4) inklusive einem Tokio-Hotel-Feature ist wiederum eine Eskapismus-Fantasie aus ihrer teils sehr rechten Heimatstadt, während sich Angst von einer Schelte gegen all die, die Wörter wie „Genderwahn“ verwenden, hin zur berechtigten Angst politisch engagierter und aufgeklärter Menschen wie Kraftklub selbst wandelt. Dass politischer Aktivismus vom einen auf den anderen Tag oftmals nichts bewirkt, stellen Kraftklub in Vierter September fest, in dem die Band die von ihr initiierte „Wir sind mehr“-Bewegung reflektiert. Auch musikalisch hat sich die Indierock-Rap-Band weiterentwickelt und sucht in Songs wie Blaues Licht oder Ein Song reicht offen die große Geste. Das geht oft schief, im Fall von Kraftklub funktioniert das aber, weil sie ihre Songs mit Inhalt füllen und mittlerweile – zu Recht – auf so großen Bühnen spielen, die diese Gesten schon fast erfordern. – Jonathan Schütz

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2. Die Nerven – Die Nerven
Label: Glitterhouse/VÖ: 07.10.
Bereits zwei Monate nach Erscheinen steht fest: An ihrem selbstbetitelten Album werden sich Die Nerven in Zukunft messen lassen müssen. Es ist konsequente Weiterentwicklung, Blaupause und Neuausrichtung zugleich. Jaja, soweit Musikjournalist*innengesülze. Die Hauptsache ist doch: Es ist eine starke Platte, grandios produziert von der Band selbst, die zehn Songs enthält, von denen alle Killer sind. Europa, Ich sterbe jeden Tag in Deutschland, Keine Bewegung – wer sich so ein Starttrio leisten kann, hat Großes vor, und wer bei Ein Influencer weint sich in den Schlaf die Streicher rausholt, ohne, dass irgendjemand ein Recht darauf hätte von Kitsch oder Ausverkauf zu sprechen, der befindet sich auf dem Weg zu den wichtigsten Bands des Landes. Vor allem, wenn mit Der Erde gleich ein Stück folgt, das drei Songs in einem ist und sich manisch in den Wahnsinn steigert. Die Nerven ist ein Rockalbum, kein Noise-, kein Alternative-, kein Indierock, sondern eines, welches diese Subgenres miteinander vereint. Obendrein ist es ein politisches, eines, das den Finger in die Wunde des Zeitgeists drückt, ein Ungemütliches, weil zu Europa, zu Deutschland immer auch wir gehören, und das Leben was in Alles reguliert sich selbst beschrieben wird, auch unseres ist: „Kalte Kriege/ Erhöhte Miete/ Überhöhtes Selbst“. Nihilistischer sind nur Fjørt. Auf Platz 1 gehören sie beide. – Marlo Oberließen

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1. Fjørt – Nichts
Label: Grand Hotel van Cleef/VÖ: 11.11.
Unsere Top 3 zeigt: deutschsprachige Gitarrenmusik hat in diesem Jahr abgeliefert. Ob man es nun mit Kraftklub, Die Nerven oder eben Fjørt hält, alle drei Bands haben sich nicht nur musikalisch stark weiterentwickelt, sondern sich nicht gescheut, Themen wie den Rechtsruck in unserer Gesellschaft oder – wenn auch indirekt – den Krieg in der Ukraine lyrisch zu thematisieren. Der „braunen Pest“ hatten Fjørt bereits auf ihrem zweiten Album Kontakt 2016 Paroli geboten und das ein Jahr später auf dem dritten Album Couleur im Song Raison noch einmal verstärkt. Mit dem Song Couleur hatte das Aachener Trio zudem ein Statement pro Meinungsfreiheit gesetzt. Ihre mitunter kryptischen Texte haben Fjørt trotz der fünfjährigen Albumpause beibehalten, gleichzeitig werden sie auf Nichts lyrisch so direkt wie noch nie. „Wir sind die Creme de la scheiß drauf/ Ich/ Dann lange nichts“, heißt es beispielsweise in Schrot, womit Fjørt ihren Unmut über den Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt ausdrücken. Während andere Bands aus einem distanzierten Blickwinkel gesellschaftliche Themen abhandeln, schließt sich die Band aus Nordrhein-Westfalen ins große Ganze mit ein. Das findet in Kolt seinen Höhepunkt, wenn Bassist David Frings aus der Ich-Perspektive verhandelt, was es bedeutet, Teil einer Überflussgesellschaft zu sein, während in anderen Teilen der Welt Menschen aufgrund ihrer Meinungen verfolgt oder gar getötet werden. „Ich tue gar nichts, weil es gemütlich ist, hier bei uns/ Tue gar nichts/ Und bin gnadenlos informiert/ David, fick dich“, packt er sich darin an die eigene Nase. In Lakk rechnen Fjørt zudem mit dem Kapitalismus und der Fleischindustrie ab. Nichts ist aber nicht nur lyrisch ein herausragendes Album, auch musikalisch klingen Fjørt so gut wie nie. Die Band errichtet weiterhin meterhohe Soundwände, stellt sich aber gleichzeitig musikalisch so breit auf wie nie zuvor, etwa durch den nuancierten Einsatz von Klargesang, der etwa in Fernost die Sehnsucht des besungenen Aussteigens verkörpert. Schwierige gesellschaftliche Zeiten erfordern Musik mit Kante, die Fjørt wie keine zweite Band in diesem Jahr gezeigt hat. – Jonathan Schütz